Weiteressen Telefax aus Mercosur Mein Lieber, um den Stammtisch, wenn man reinkommt links, fallen zuerst die Unterhemden, die schwer über die Gürtel hängen, ins Auge. Vorn, gleich dem Eingang gegenüber, authentiziert ein Poster mit FJS, weißblau umkränzt, die ‹Bayernstuben› in Asunción. Neulich waren auch einige Frauen am ovalen Stammtisch, die Haare zum Dutt gesteckt, aber auf sie wurde ich erst aufmerksam, als sie anfingen zu singen. Etwas vom Jager, der Liebe und dem Tod. Der Ober, ein Chulipi-Indianer aus dem Chacco, ist erstaunt, daß meine Begleiterin diesmal keinen «Appelstrudel» mag. «Warum willst Du nicht heute?» Die Sie-Anrede hat er nicht drauf. Die Mennoniten, knapp 400 Kilometer weiter im Westen, wo er herkommt, haben auch nie Sie zu ihm gesagt. «Noch Chop?» — Faßbier — natürlich. Bei mir haben die Ober immer Glück, und hier speziell, weil es zur Mischung gehört, die immer mit diesem herrlichen Graubrot und Griebenschmalz, gut nachgesalzen, beginnt. Danach bestelle ich oft etwas nur, weil Bratkartoffeln dabei sind. Die Semmelknödel habe ich noch nie probiert, von den — ¿como? ja, otra chop por favor — von Käsespätzln, viel zu fett, lasse ich in Zukunft die Finger, und die Weißwürste — dafür bin ich immer, man kennt ja die Regeln, zu spät. Hat Daniel wohl gut zugenommen? Falls es so ist, dann ist der Onkel des Computerfachmanns aus Ghana mittlerweile gestorben. Daniel hat schon lange darauf hingearbeitet, Nachfolger seines Onkels als Clanchef von 150.000 Menschen zu werden. Für dessen drei Witwen, das gehört dazu, würde er dann den Part das Ehemanns übernehmen. Damit Daniel gute Chancen hätte, nicht nur Chef zu werden, sondern auch zu bleiben, würde man ihn gleich nach seiner Wahl 30 Tage lang wegsperren — und mästen. Das Fett und rituelle Tänze würden ihm helfen, das Todesspiel zu gewinnen, den Voodoo-Zauber der abgeschlagenen Konkurrenten abzuwehren, mit dem diese nachträglich Recht bekommen wollen. Du mußt glauben, sagte er lächelnd. Muriel aus Benin fand das ziemlich primitiv. Silaa, die Anwältin aus Tanzania ging schon eher auf ihn ein und erzählte von Beduinen-Frauen, die, wenn sie Lust auf einen Mann hatten, einen besonderen Gürtel unter die Gewänder um die Taille binden. Spürst Du ihn? Im Februar, am Rosenmontag, als ich Daniel kennenlernte, waren wir im Rheinland und sollten laut Seminarprogramm etwas Typisches erleben: Reibekuchen mit Apfelmus (na ja). Wir sprachen über Aids. Könnt ihr euch einen Chief mit Kondom vorstellen, fragte Daniel, während er zugleich mit der Gabel die hellbraune Masse auf dem Teller untersuchte. Sofort, zum ersten Mal in meinem Leben, als ich Daniel das fragen hörte und ihn ansah, von den nicht unlustigen Augen in das junge, sanfte und doch tief entschlossene Gesicht, auf dem starken Hals, mit den Fleischfalten im Nacken, die mit jeder Kopfbewegung ein wenig in dem mit Goldfäden durchwirkten traditionellen Gewand verschwanden und wieder auftauchten, meinte ich mit großer Klarheit zu spüren, wie ein Clanchef zu sein hat: Gläubig und pragmatisch. Exakt an diesem erkenntnisreichen Rosenmontag endete übrigens auch der Fastenmonat Ramadan, Mohamed aus Indonesien hatte ausführlich gefrühstückt. Kaum etwas anmerken — wie eigentlich immer, wenn er sein Essen schlürfte — ließ sich Xiaoshan aus der Volksrepublik China, dabei begann, ebenfalls an diesem Tag, das chinesische Neujahr. Wann wird es wieder solch eine Bündelung von tollen Tagen geben? Ein Schluck und der Apfelkorn ist fort. Schluck, Schluck, intonieren seither Ernesto und ich — fast — jedesmal, wenn wir uns jetzt in Montevideo wieder begegnen. Von heute abend, dem Abendessen beim Schweizer Botschafter, kann ich noch nichts berichten. Sieben Gänge habe ich am Freitag im Pfarrhaus der deutschen evangelischen Gemeinde in mich hineingeschoben. Eingeladen, von einem ehemaligen Restaurantbesitzer aus Berlin, der unbedingt wieder einmal schön kochen wollte. Liebfrauenmilch gab es bei dieser Gelegenheit nicht; das setzen dir eher Einheimische vor, wenn sie nett sein wollen. An ein Liebfrauenmilch-Abendessen erinnere ich mich unheimlich gut. Ich werde aber, weil Sprengstoff drinsteckt, nur verklausuliert davon erzählen: Vor 15 Jahren, in einer südamerikanischen Diktatur, war ich gemeinsam mit wichtigen Oppositionellen in die Residenz eines Botschafters geladen. Eine Bombe, so meinte der Diplomat, und die Probleme des Landes sind gelöst. Aber Herr Botschafter, soll das ein Aufruf zum Tyrannenmord sein? Natürlich nicht, war die schnelle Antwort. Hier gehört die Bombe gezündet. Hier und jetzt. Alles nur Scherz. Weiteressen. Dein Rainer (Willert) Laubacher Feuilleton 18.1996, S. 16
Klassentreffen Telefax aus Montevideo Liebe Pia, vor knapp fünf Jahren habe ich Computer gelernt, wofür? Um hier in der «Dritten Weit» nicht als Antiquität herumzustolpern. Weniger leicht fällt es mir hier, angesichts der permanenten Stadtzerstörung meine nostalgische Trauer zu zähmen. Grimmig betrachte ich den anhaltenden Boom der Abbruchfirmen, wohltuend empfand ich einen dreimonatigen Bauarbeiterstreik, der Montevideo fast staubfrei machte. Ähnliches gilt für die Umweltzerstörung; da mag ich insbesondere in meinem ersten lateinamerikanischen Land, Paraguay, gar nicht mehr ins Inland reisen. Uruguay ist in dieser Hinsicht weniger problematisch, dafür erlebe ich das Nachtleben in Montevideo fast — nur wenn Besucher aus Übersee dazu drängen. Mich hat wahrscheinlich die deutsche Polizeistunde konditioniert; hier hingegen schläft man vor dem Ausgehn erst mal aus und kommt so nachts um zwei frischgebadet zum Festen. Promille übrigens sind kein Thema: Macht nichts, wie früher bei uns, fährt man oben etwas vorsichtiger nach Hause. Unterschiedslos wiederum ziehen auch in Montevideo die Hunde ihre Halter an ausziehbaren Leinen hinter sich her. Ein Schäufelchen hingegen führt Frauchen/Herrchen nicht mit. Unglaublich ist die Sonnensucht der Uruguayos, aber nackt oder auch nur oben ohne gibt es nicht. Wer nun meint, das sei katholisch, irrt, Kirchenglocken habe ich schon ewig nicht mehr gehört und auch die Stunde schlägt hier nicht vom göttlich an die weltliche Pflicht mahnenden Kirchturm. Ich bin Atheist, sagen mir viele Leute, und versöhnlich fügen sie hinzu: Gottseidank. Schön, unheimlich langhaarig und drahtig sind hier die jungen Kerls aus den unterprivilegierten Schichten, sagen wir Anstreicher, Müllmänner, im Inland die vielen Gauchos: In Deutschland findet Ihr so etwas noch in Haftanstalten, eventuell in Schlachthöfen oder untertage. Ich habe die Gauchos erwähnt. Neulich ist einer mit Walkman an mir vorbeigetrabt. Mögliche Fragen: Wo wird das Grundwasser wieder zutage treten, das die bald verbrauchten Batterien schließlich vergiften? Oder — mir würde mal ein Band mit Stille gefallen — was hat der Reiter gehört? Ich denke bei Gaucho immer an das liebevoll scharf geschliffene Messer, das ihm hinten schräg im Gürtel steckt: Gierig zoomen sich die Kameras heran, gleiten über den schwierigen Griff zu dem harten Metall, das leise den größten Teil seiner Kraft in der Scheide verwahrt. Fort von dem blanken Geheimnis ziehen die Abnäher der Hose des Gauchos den Zoom/Blick weiter. Wehender Faltenstoff bedeckt den Mann, und die Hosenbeine enden locker zusammengebunden unten, kurz bevor die Stiefelschafte in die Sohlen münden. Die «Bombacha»-Pumphose sollen die Engländer hierher gebracht haben, nachdem sie auf einer Ladung Türkenuniformen sitzten geblieben waren. Ich nenne das Recycling und breche mir so den Weg zu einem Thema, an dem alle mitmischen: Müll. Auf rund 220.000.000 Menschen von Brasilien, Argentinien bis Chile, über Uruguay, Bolivien und Paraguay kommen lediglich vier städtische Müllplätze, die mehr als ungeordnete Müllkippen sind, Curitiba, Laprida, Oberá und Maldonado heißen diese Pilgerstätten für Umweltfreunde. Auf Anhieb finden läßt sich aber nur Curitiba: Zwei Mio. Einwohner. Außerdem sind dort, nebenbei bemerkt, auch die Busse attraktiv. Als Attraktion für Kinder vermisse ich ansonsten, übrigens auch in meinem alten Deutschland, Spielzeugbusse. LKW und Autos, Renn-, Feuer-, Polizei- und Gangsterwagen. Mondfahrzeuge, Batmancar, mit Batterie, Schwungantrieb und zum Überschlagen, alles da! Warum kein Bus? Das Schönste an den Deutschen sind halt ihre Autos, sage ich immer — welche Form, weicher Schwung — nur erklärt das nicht die fehlenden Spielbusse. Vielleicht doch: Man gibt sie den Kleinen nicht, weil sie hier wie dort Ärmlichkeit transportieren, real, im Image und umgekehrt in zirkulärer Verursachung. Jetzt wird's aber oberlehrerhaft ... Es muß die alte Klasse sein, die mich noch immer motiviert. 28 Jahre danach. Schade, daß das Treffen ohne mich stattfinden muß. Alles Liebe und Gute Dein Rainer (Willert) Laubacher Feuilleton 15.1995, S. 16
Von Schüssen und Hintermännern Telefax aus Paraquay Mein Lieber, kennst Du die Geschichte von dem General, der einer Gewehrkugel entkommen ist, weil er anstatt seines Chauffeurs selbst am Steuer saß? Könnte überall passiert sein, sagst Du. Was hältst du dann von der Fortsetzung: Der Geschorene (Bild für General), der ungeschoren blieb, ruft Verstärkung, die — Hauptmann Ruiz-Diaz sowie ein Oberleutnant und zwei Unteroffiziere — schon nach zehn Minuten da ist. Der General springt zu seinen Mannen in den Wagen, braucht aber gar nicht viel zu sagen. Der Sachverhalt ist so klar, daß, kaum ist man losgebraust, gleich wieder ein Schuß knallt, diesmal tödlich, weil direkt und aus nächster Nähe in den Hinterkopf unseres Unglücklichen. Kaliber 6.35, 7.45 Uhr, und nicht weit davon beginnt gerade die Schule, wohin der wenige Stunden später, um 12.30 Uhr, verstorbene Militär seine Tochter — ein Nachzüglerkind — am Morgen hatte bringen wollen. Falsch. Die Schule hat nicht begonnen — wahrscheinlich nicht. Vielmehr werden alle noch draußen herumgestanden haben, von den Lehrern, wie überall auf der Welt, so auch in Paraquay, halb drohend, halb herzig angetrieben, sich endlich der Straße ab- und dem Lehrstoff zuzuwenden. Stoff. General Ramón-Rosa Rodríguez war formal nicht mehr aktiver Soldat, sondern Direktor einer Antidrogen-Einheit, die direkt Staatspräsident Wasmosy unterstellt ist. Der mutmaßliche Mörder, Hauptmann Ruiz-Diaz, wurde selber leicht verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert. Keinenfalls habe er auf den General geschossen, sagte er in einem ersten Verhör. Er hätte nichts anderes wollen, als sich selbst das Leben nehmen, man habe ihn aber entwaffnet. Beides, das Mord- wie das Selbstmordmotiv für den Hauptmann wäre immerhin nachvollziehbar, wenn es stimmt, daß er Geld unterschlagen hat: 40 000 US$, und sein Chef sei daran gewesen, die Sache aufzudecken — also doch wieder (s. o.) eine Allerweltsgeschichte. Es stört nur ein wenig, daß der verletzte Hauptmann noch im Besitz (s)einer Waffe war, als er in das Krankenhaus eingeliefert worden — dies schwört der behandelnde Arzt. Mittlerweile gilt Ruiz-Diaz als überführt. So ist es! Oder ist es so? Genieße den Sonntag, es ist dein letzter, verkündete die Mafia dem Rauschgiftfahnder, der wohl Dinge wußte, die sich aktuell mit den Aussagen eines Piloten deckten, der von einem Kokain-Transport von 323 Kilogramm von Bolivien in den Chaco nach Paraquay berichtete. Hintermann dieser Operation, sie fand 1990 statt, war, so der Pilot Andrés Rodriguiz, auch ein ehemaliger General, der im fraglichen Jahr sogar Staatspräsident von Paraquay war, nachdem er vorher, 1989, den Diktator Stroessner weggeputscht hatte. Genau genommen konnte sich der Staatspräsident nur als Hintermann fühlen. In Wahrheit nämlich sei er, so der Pilot, einer verdeckten Aktion des DEA, der Antidrogen-Einheit der USA, aufgesessen, die sich mit diesem Handel Aufschlüsse über die Szene versprach und gewann. Vielleicht gewann, denn es kann ja auch der paraquayanische Staat gewesen sein, und mit ihm der jetzt so genannte Hintermann Staatspräsident Rodríguez, der damals nichts anderes versuchte, als die Mafia zu entlarven. Nur deshalb wurde dann bei dem Geschäft mitgespielt, das sich heute als Finte der Amis erweist bzw. als solche ausgegeben wird. Gut möglich wäre es dann, das dieses ganze Hin und Her mit den Drogen lediglich Produkt der jeweils verdeckten Bekämpfungsstrategie ist. Um Fallen zu stellen, muß man nunmal dieses Zeug bewegen. Was — im konkreten Fall — stört, ist der fast schon vergessene Tote. Nein, das geht zu weit. Hätte ihn, wie es sonst üblich ist, ein professioneller Killer aus Brasilien auf dem gewissen, dann könnte man sich darauf konzentrieren, den Mörder zu schnappen. Ach so, den Mörder haben wir ja schon. Bald wird er es selbst glauben. Lieber, die Geschichte ist hier nur künstlich beendet. Ruiz-Diaz, der «Mörder», war in der Zeit der 323 Kilo Kokain Chef der Militärpolizei in der entsprechenden Gegend im Chaco, ein Landstrich, in dem die Indianer zu rechts links sagen, weil sie sich in ihr Gegenüber hineindenken. Ich muß mal wieder das Buch raussuchen, wo ich das gelesen habe. Vorher aber, jetzt, endlich, muß ich meinen Max vom Kindergarten abholen. Melde Dich! Rainer Willert Laubacher Feuilleton 12.1994, S. 16
64 Grad 2. Brief aus Venezuela Wo ist Angelina, Rosalena, Clarybell? Wo ist León? Stimmt etwas nicht? Eine drei Zentimeter starke Eisenkette war um den Türgriff der mit gelber Farbe angestrichenen, nein bemalten Holzhütte geschlungen und an einem krummgeschlagenen Nagel seitlich am Pfosten eingehakt. Ein faustgroßes Messingschloß blitzte in der schon schräg stehenden Sonne. Symbol genug, daß hier geschlossen war, wenngleich es ein leichtes gewesen wäre, die Tür zu öffnen, hinter der das Bier verborgen war. Ich nahm mein Taschenthermometer aus dem Sand, 64 Grad, Sandflöhe tummelten sich auf Bartolos bloßen Füßen. Mich aufrichtend, sah ich ihn fragend an. Sein weißes, kragenloses Hemd hatte er bis unter die Achseln aufgerollt, auf daß die Brise vom Meer seinen schwarzen Bauch kühle. Er legte den Kopf leicht zurück, sein Lächeln gelang nur schwach. No estàn. Sie sind nicht da. Der Kiosk ist geschlossen. Hinter ihm breitete sich friedlich der menschenleere Strand aus. Das Rauschen der Palmen im Wind verschmolz mit dem Tosen der Brandung. Draußen an den Bojen dümpelten verlassen die Boote der Fischer, dienten nur den satten Pelikanen als Sitzplatz. Roncito? Ein kleiner Rum-Punsch? Er nickte, und seine Augen blitzten vergnügt. Es ist Putsch. Wenn es dunkel wird, ab sieben, ist Ausgangssperre. Wir gingen hinüber zur Mündung, folgten dann dem trägen Fluß. Zwischen den Bananenstauden zerpflückten ein halbes Dutzend Geier einen Abfallhaufen. Sie lieben die Menschen für ihren Müll. In Francos, von der Blütenpracht der Boganvilleas fast völlig überwucherter Hütte war das Fernsehgerät eingeschaltet. Der Präsident erklärte soeben, daß keine Gefahr bestünde, die Lage unter Kontrolle sei und die Familien, die Tote zu beklagen hätten, seines Mitgefühls gewiß sein dürften, 162 Menschenleben hätten die Kämpfe gefordert, die Demokratie sei erfolgreich verteidigt worden. Im Hintergrund waren die Salven von Maschinenwaffen zu hören. Franco zeigte sich überzeugt, daß der Präsident nicht die Wahrheit spreche und das Volk nur bestehlen wolle, außerdem habe Maddalena, die beim Radio arbeitet, von 9.000 Toten gesprochen, und den besetzten Sender hätten die Regierungstruppen erst anläßlich der «Befreiung» zerschossen. Der Vater seines Großvaters sei noch Sklave gewesen, bei den Weißen, aber das ... Hier unterbrach er sich. Venezuela ist ein reiches Land, Amigo! Wie zum Beweis sammelte er einige Parchitas auf, reife Passionsfrüchte, abgeworfen von der im Mangobaum rankenden Liane, um sie mir zum Abschied zu schenken. Im Schatten der riesigen Caobas erreichten wir nach wenigen Minuten mein Haus, aus dem Radio drang Salsa-Rhythmus. Die Sonne neigte sich dem mit Kakteen bewachsenen Bergrücken zu, der das Flußtal begrenzt. Bartolo hatte auf der Küchenterasse Platz genommen, bescheiden sich den wackeligsten Stuhl aussuchend. Geradezu zärtlich öffnete er die Rumflasche, während ich die Früchte teilte und das süß-saure Mark in die Gläser gleiten ließ. Ob er gleichfalls glaube, daß der Präsident oder die Politiker stehlen, wollte ich wissen. Lächelnd setzte er das Glas mit dem Punsch an die Lippen, nahm schlürfend einen großen Schluck, stellte es dann mit einer unendlich bedächtigen Geste zurück auf den grün lackierten Tisch. Man erzähle sich, begann er zögernd, daß einst ein venezolanischer Politiker bei einem solchen in Nordamerika zu Gast gewesen sei. Der habe eine riesige Villa mit 20 Zimmern, mit Palmen, zwei Schwimmbädern und vielen Bediensteten besessen. Der Venezolaner habe seinen Wohlstand bewundert, und der Nordamerikaner habe stolz auf ein Kraftwerk in der Ferne gewiesen, sich auf den Rock geklopft und gesagt: 20 Prozent in meiner Tasche. Ein Jahr darauf habe der Venezolaner die Einladung erwidert, und sein Gast bewunderte dessen Eigentum. Er besaß eine riesige Villa mit 40 Zimmern, mit sechs palmenumstandenen Schwimmbädern und vielen Bediensteten. Dann habe er in die Ferne gewiesen und gefragt, ob sein Freund den mächtigen Staudamm in jenem Tal dort sehen könne. Als der verneinte, habe er sich auf den Rock geklopft und leise gesagt: nun — 100 Prozent in meiner Tasche. Inzwischen war es dunkel geworden — und Bartolo durstig von seiner ungewohnt langen Rede. Ob wohl noch Bier vorhanden sei? 64 Schritte sind es bis zu meiner Hütte mit dem Kühlschrank. Man wird mich nicht sehen, meinte er lächelnd. Ich lasse mein Hemd hier. Joachim F. W. Lotsch Laubacher Feuilleton 7.1993, S. 15
Telefax aus Havanna An meine leidenden Mitbürger im Osten (Kubas)! Habt Ihr eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Kolumbus hat Euch das Ding entdeckt und ein paar Jahre später Humboldt und vor rund zwei Jahren ich, also kann keiner mehr behaupten, von seiner Existenz nichts gewußt zu haben. Trotzdem hängt Ihr immer noch in Eurem Essig-Saure-Tonerde-Staat herum und tut so, als wäret Ihr unsterblich, denn wer nicht unsterblich ist, kann es sich gar nicht leisten, seine Zeit da zu verplembern, wo Ihr sie verplembert, solange es einen Ort wie Havanna gibt, das Paradies der Widersprüche, die Hölle der guten Vorsätze, das Fegefeuer der planetarischen Zukunft, das hinterfotzigste Sozialexperiment der Geschichte eben dieser Zukunft, den Ort der kubitropikalen Euphorie und des mulattischen Königspalmensozialismus, wo es endlich zu gelingen scheint, den antillischen Hang zum Nichtstun mit der planwirtschaftlich bedingten Faulenzerei zu einem gemächlichen Neokapitalismus zu verschweißen, der selbst ideologische Katastrophen, abgeschossene Flugmücken, sexuelle Überangebote und gnadenlose Bullen noch in ‹Siege der Revolution› ummünzt. Ich schildere Euch nur einen einzigen Tag, den heutigen. Es ist Sonntag, der 28. April. Vor einer knappen Stunde ging der erste Lauf zur diesjährigen Off-Shore-Weltmeisterschaft zu Ende — da draußen vor dem Malecon, wo der Salpeter immer noch die Häuser zerfrißt, wo die Häuser immer noch einstürzen, wenn's ein bißchen regnet, wo nachts die Liebespaare auf der Ufermauer sitzen und zur Musik von Radios geparkter Autos tanzen, weil sie keine Dollars für die Diskothek haben, keine Dollars für Speiseöl, Seife, Damenbinden und weißderhimmelwasnochalles. Und dann rasen diese großen, schweren Dinger übers Meer und verfeuern einen Sprit, der den halbtoten Nahverkehr der Stadt eine gute Woche am Leben halten würde, und Du denkst, Du wärest in einer ganz normalen Stadt auf einer ganz normalen Antillen-Insel mit ganz normalen Reichen und Armen, mit Werbung und TV-live von einem sportlichen Großereignis, und alle rennen da hin und schauen zu, fasziniert nicht von ihrer Revolution, von der ganzen kapitalistischen Kacke, sondern von der Geschwindigkeit, die jetzt wieder hier eindringt, unaufhaltsam, überraschend angenehm, verführerisch, gespenstisch. Gewonnen hat ‹Victory 1› aus den Vereinigten Arabischen Emiraten — hier, wo die Leute zehn Liter Sprit im Monat kriegen, wenn sie ihn kriegen, denn gewöhnlich gibt's gar nix, weil halt nix da ist, denn die Vereinigten Arabischen Emirate liefern nur gegen Bezahlung, und deshalb können sich die Emiratisten dann Anderthalb-Millionen-Dollar-Boote bauen lassen und damit den Lauf am Malecon von Havanna gewinnen, und letztes jahr, als sie zum ersten Mal kamen, soll einer das ganze Hotel ‹Nacional› für seine 30 Frauen gemietet haben ... Auch heute: Pressekonferenz des Parlamentarischen Staatssekretärs im Wirtschaftsministerium, Heinrich Kolb, der am Mittwoch das deutsch-Kubanische Investitionsschutzabkommen unterzeichnen wird, da drüben am Paseo, in einem wunderschönen Haus, das einst aus lauter Liebe gebaut worden ist. Ich bin gar nicht erst hingegangen: die Deutschen kommen und stecken ihr Geld in Kuba, Mercedes ist schon da, die LTU auch, jetzt kommt der schwäbische Spritzmeister, und irgendwann, irgendwie werden wir diesen Tropensozialismus schon knacken, so, wie wir bereits die Moral der Mulattinnen geknackt haben, die das letzte aller fetten Arschlöcher noch mit einer Hingabe ficken, die ich nicht beschreiben kann, weil es in der deutschen Sprache keine Worte für sie gibt. Und dann kaufst du eine der beiden Sonntagszeitungen, ‹Tribuna de la Habana›, und liest, wann in welchem Stadtteil das Licht ausgehen wird, weil sie den Sprit zum Stromerzeugen gerade längs des Malecon verfahren haben, und liest, daß die monatliche Eierzuteilung (sieben Stück) am Montag losgeht, daß die Trockenmilch vom März immer noch rumliegt, weil es keine Büchsen gibt, das halbe Pfund Rindfleisch pro Kopf und Monat nur in einem einzigen Stadtteil ausgegeben wird und es am 1. Mai kein Brot gibt, weil sowieso alle zur Kundgebung gehen müssen, um der Welt zu beweisen, daß Kuba nach wie vor eine sozialistische Republik ist — ‹Socialismo o muerte›, ‹Venceremos› — Ovaciós. Henky Hentschel Laubacher Feuilleton 18.1996, S. 2
Chichiriviche, im November 1. Brief aus Venezuela Gestern, nachdem pünktlich die Dunkelheit wie ein schwarzes Tuch herabgefallen war und der die Mücken vertreibende Wind aufkam, schlenderte Bartolo, scheinbar zufällig, heran. Wie gewöhnlich nur mit einer bis zu den Knien reichenden Hose bekleidet, war er kaum zu sehen vor dem Hintergrund des abendlichen Kakteenwaldes. Die graubraune Haut des Vierzigjährigen wirkte wie ein dunkler Anzug, und in seiner stolzen Haltung betrat er den Sandplatz vor meiner überdachten, mit Hängematten ausgerüsteten Schlafterasse wie einen mitteleuropäischen Kongreßsaal. In seiner Linken trug er lässig einen Fisch, dessen Kopf fast den Boden berührte. Hola, sagte er lächelnd, ging ohne ein weiteres Wort zum Tisch vor der Küche, legte wie selbstverständlich sein Geschenk ab, nahm sich ein Bier und setzte sich. Ich nahm ihm gegenüber Platz und sah ihn forschend an. Doch er schien tatsächlich nur wissen zu wollen, was ich den Tag über so gemacht gemacht habe. Ich erzählte, daß ich oben in Caracas und auf dem Weg zu meinem Büro mal wieder im Verkehr steckengeblieben war. Merkwürdig erschien mir jedoch, daß dieses Mal die Straße übersäht war von Holzlatten und Steinen. Von den Berghängen, die die Stadt umgeben, wo die Armen in abertausenden winziger Hütten ihr kümmerliches Dasein fristen, waren rhythmische Sprechchöre, «Agua-Agua-Agua», zu vernehmen, gelegentlich überdeckt vom Jaulen der Polizeisirenen oder dem Bellen einer Maschinenpistole. Ja, sagte Bartolo, sie haben kein Wasser dort. Und vor den Hochhäusern und Glaspalästen plätschern die Springbrunnen! Diese demokratischen Diebe stopfen sich die Taschen voll. Vielleicht wäre es besser, wir hätten eine Diktatur! Fast hitzig, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Art zu sprechen, hatte er das gesagt. Dann schwieg er. Er selbst hat Verwandte in den Barrios. Einmal, als eine seiner Schwestern Geburtstag hatte, waren wir zusammen dort. Einen großen Plastiksack hatte er gefüllt mit Mangos, Orangen, Zitronen, Yucca und Fisch, und dann waren wir mit meinen klapprigen Jeep hinaufgefahren. Manche, die von unserem Vorhaben erfahren hatten, hatten mir abgeraten. Für einen Weißen sei das Selbstmord, in die Ranchos zu gehen, wie die Armenviertel, etwas verächtlichtlich, auch genannt werden. Man würde mich überfallen, ausplündern, vielleicht umbringen. Aber nichts dergleichen war geschehen, im Gegenteil. Dank Bartolo wurde ich herzlich begrüßt und in die Behausungen geführt. Mein Geschenk, eine Kiste Bier, wurde freudig entgegengenommen. Aus allen Richtungen kamen sie, bis die Hütte der Schwester überzuquellen schien. Die einen brachten Kaffee, andere kleine Maisfladen. Wir tranken das Bier aus den Flaschen, und ich hörte Geschichten und Schicksale, von denen noch zu erzählen sein wird in den nächsten Briefen. Nur soviel jetzt: Es leben Menschen dort, die ihre Eltern und Kinder lieben und von einer besseren Zukunft träumen. Die Palmen rauschten im Wind. Der mit geöffnetem Maul mich anstarrende Zackenbarsch brach unser Schweigen. Ein schöner Fisch. Ja, sagte er karg und fügte dann an: Mero ist gut. Wie der Fang denn sonst gewesen sei, wollte ich wissen. Als habe er auf dieses Stichwort nur gewartet, zog er beide Augenbrauen hoch, beugte sich leicht vor und sah mich eindringlich an: Es wird wieder schlimmer, es war ein Mann im Netz, unter der hohen Klippe, mit einem Loch im Kopf, früher fielen sie aus dem Helikopter, weiter draußen, aber jetzt, an der Küste, das ist nicht gut für die Fischerei! Wir haben ihn hinausgebracht, zu den anderen, fügte er leise hinzu. Joachim F. W. Lotsch Laubacher Feuilleton 04.1992, S. 6
Das allgemeine Gesetz, so breit als lang Man fragt mich: «Warum legen Sie kein Geld zurück? Sie reisen gern, Sie könnten mit der Eisenbahn nach Fitchburg fahren und die Gegend kennenlernen.» Ich bin aber zu gescheit dazu. Ich habe herausbekommen, daß am geschwindesten reist, wer zu Fuß geht. Ich sage zu meinem Freund: «Wollen wir einmal sehen, wer zuerst hinkommt. Die Entfernung beträgt dreißig Meilen, die Fahrtaxe neunzig Cent. Das ist der Arbeitslohn für einen Tag. Ich erinnere mich noch, daß hier an dieser Eisenbahn der Taglohn sechzig Cent betrug. Gut, ich marschiere zu Fuß ab und komme dort an, wenn es anfängt dunkel zu werden; ich habe schon wochenlang in diesem Tempo Fußtouren gemacht. Sie verdienen sich mittlerweile ihr Fahrgeld und kommen morgen oder bestenfalls abends spät an, wenn Sie Glück genug haben, gleich Arbeit zu finden. Statt nach Fitchburg zu gehen, arbeiten Sie hier fast den ganzen Tag; und so glaube ich, daß ich Ihnen vorausbleiben würde, wenn die Eisenbahn um die Welt herumreichte. Was aber das Kennenlernen der Gegend anbelangt und weitere Erfahrungen, so wäre ich Ihnen derart voraus, daß ich mit Ihnen gar nicht mehr verkehren könnte.» Das ist das allgemeine Gesetz, das kein menschlicher Verstand überspringt; soweit es die Eisenbahn angeht, können wir sagen, daß es so breit als lang ist. Henry David Thoreau Laubacher Feuilleton 9.1994 Aus: Walden oder Leben in den Wäldern, 1854
Fleischeslust Der Wahnsinn brachte Mc Donald's auf die gelbe Rübe. Das Motiv paßte ebenso zur Plakatierung in der Untergrundbahn wie zur feudalistischen Heraldik des Firmenzeichens, gelb auf rot. Das Farbsignal stärkt das Vertrauen in das krisenfeste Imperium der reinen Hamburger: Ist die Insel auch im Fleische sündig, hier bleibt die Welt heil und schenkt den Zweiflern zudem eine vegetarische Variante. Zwei Wochen später, nach dem ersten Schock, war auch die Rübe wieder verschwunden und das Angebot der Ketten-Restaurants lediglich um Vegetables Deluxe erweitert. Auf irgendwelche Angaben über die Herkunft des Rohstoffs scheint sich die Firma gar nicht erst einzulassen. Auch nach harten Prüfungen lebt die M-Gemeinde aus dem unerschütterlichen Glauben. Die Konkurrenz von Burger King, in der Baker Street direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite, propagiert dagegen «our new beef». Sie versichert seinen Kunden auf einem Plakat am Eingang, daß sie zwar wie die Regierungserklärungen in die Sicherheit des britischen Rindfleisches vertraue, jedoch wegen des Schwundes an Vertrauen, wegen des Geschäftsinteresses und wegen der Sicherheit der Arbeitsplätze bis auf weiteres nur nicht-britisches Rindfleisch verwende. Sicher ist das Wort sicher. Wo Mc Donald's das Gemüse entdeckt, kann man auch Heilige Kühe schlachten. Der Pferdemetzger Bob Walker bot in seinem Laden in Smethwick, West Midlands, ein Pfund Pferdesteak für 50 Pence an, und die Leute kauften, wenn auch zögernd. «Ich erwartete protestierende Tierschützer am Morgen, aber keiner war da», sagte er zum Independent, der dazu gleich ein Rezept abdruckte. Obwohl «Pferde für die Engländer zum Draufsitzen und zum Spielen da sind», «trade was booming yesterday at one of the first horse meat shops to open in Britain since the war». Hätte der Begriff Paradigmenwechsel nicht inzwischen seinen Sinn durch Banalisierung verloren und eine Beliebigkeit wie beim Zappen durch die Programme gewonnen, dann wäre er hier angebracht. Denn zur Emblematik von John Bull gehört das Beefsteak wie die Pferdezucht. Nur Beefeaters waren in der Lage, die Herzkammer des Imperiums, den Tower mit seinen prominenten Häftlingen und seinen prominenten Kronjuwelen, vor jeder Eroberung zu schützen. Der Hochadel ließ nicht nur sich und seine Familie, sondern auch seine Lieblingsrösser portraitieren. Wenn das Kraftsymbol dahinsiecht und man anfängt, als Ersatz das Machtsymbol aufzuessen, geht der bevorstehende Verzicht auf Honkong und auf die eigene Währung direkt auf den Magen. Wir spüren, daß solche Vorstellungen nur einer Häme aus Zentraleuropa entspringen können und daß sie eine nicht weniger ergiebige Paraphrase auf die deutsche Schweinepest verdienen. Dabei könnte man sich ausmalen, seinerzeit hätten niedersächsische Skinheads und sonstige Teutonen die Chaostage in Hannover vorgezogen, um eine völkische Spanferkelorgie zu veranstalten und dabei trutzig die Sau rein- und rauszulassen, ein recht bekanntes Paradigma. Wenn wir beim Konjunktiv bleiben, wäre der insulare Stolz, der Zorn gegen Massentierhaltung und Großschieberei, der Trotz gegen die hilflose Regierung und gegen die marktschreierisch marktlähmenden Medien nicht zu übersehen — ein Begleitphänomen, vielleicht eine Erklärung für den spontanen Erfolg von Beefeater's: das lose Netz neuer Lokale, wie wildwüchsig über Nacht entstanden, improvisiert vor allem in leerstehenden Werkstätten verschiedener Stadteile, besonders in den Randbezirken und im lebendigen Eastend. Beefeaters Angebot: alle Köstlichkeiten, die das Rind und die internationale Kochkunst hergeben, zum halben Preis und vom Fleisch einheimischer Biobauern. Mit Adresse und Einladung zum Stallbesuch, oft auch zum Urlaub oder zur Saisonarbeit. Und natürlich Atmosphäre. Im Londoner Eastend soll es übrigens zur Zeit so viele Künstler geben wie sonst weltweit nirgendwo auf dem selben Raum. Auguren wissen ja, daß sich die junge, dynamische, zukunftsweisende und auch politisch bewußte Szene jetzt hier, nicht mehr in den luxuriösen Kartellen von New York, Paris oder Düsseldorf findet. Thomas Zacharias Laubacher Feuilleton 18.1996, S. 4
Oberbürgermeisterparade Der kostümierte Festzug zum Tag der deutschen Kunst 1937 in München endete mit der SS, die Parade zur Amtseinführung des Lord Mayor mit der Straßenreinigung. Sie stellte nicht nur ihren Service dar, sondern kehrte auch das Herbstlaub und die fein zertretenen Pferdeäpfel vom Asphalt der City. Durch die Gedenkminute für die Kriegsopfer zu Beginn des Umzugs ließen sich beide Ereignisse in eine nicht nur ästhetische Beziehung bringen, die den Übergang von der Show in die Wirklichkeit so bezeichnend organisiert. Dabei hatte das Londoner Spektakel ein strammes militärisches Rückgrat. Zwischen der Militärmusik zogen Fellmützen und bunte Röcke vorüber, aber auch schweres Pioniergerät der Schnellen Eingreiftruppe und der Royal Marines. Diese lagen in Kampfanzügen mit Schnellfeuerwaffen in fahrbaren Kulissen, um als lebende Bilder so etwas wie Falkland-Einsatz darzustellen und dabei dem dicht gedrängten Publikum zuzuwinken. In dieser Schau zwischen Faschings/Karnevalszug, Militärparade und Werbeaktion war nichts eindeutig. Als weiße Tropenhelme an der monumentalen St. Pauls Cathedral vorbeimarschierten, setzte sich die koloniale Weltmacht in Szene. Doch kurz darauf ging vor dem selben Hintergrund ein Afrikaner mit großem Vorsprung als Sieger des Sechs-Kilometer-Straßenlaufes durchs Ziel. Auch dieses Wettrennen gehörte zum Programm. Der Sport: überall steht dasselbe Wort für Wettlauf und Rasse — race . Dazu paßt das Plakat, das in der U-Bahn hängt. Es zeigt ein kleines Gehirn und drei gleich große. Unter den großen steht: Europäer, Afrikaner, Asiate, unter dem kleinen: Rassist. Zurück zur Show. Das zweite Bein, auf dem sie daherkam, waren städtische Dienste sowie ‹ehrwürdige› Companies, Gilden und Clubs. Da zeigten sich die Bank von Schottland und das Hundeasyl, Telephon und Blutbank, Vereine für Junggärtner und Rentnerbeschäftigung (hier der bezirkssoziale Queenhithe Ward Club 1990 nach der Wahl von Frank Green). Meist stand die hilflose oder auch konventionelle Gestaltung der Wagen im umgekehrten Verhältnis zur Gemeinnützigkeit der jeweiligen Institution, aber auch zur ästhetischen Suggestivkraft der Truppenornamentik. Dafür folgten die Angestellten der Milchzustellung oder des privaten Luftverkehrs dem bunt uniformierten Profos, der mit seinem streng waagerecht unter die Achsel geklemmten Disziplinarstöckchen wie eine Automateninmitation hinter seiner Marschkolonne einherschritt. Die Chargen der Stadtverwaltung, ansonsten für Waserversorgung und Abfallbeseitigung, Schulen und Krankenhäuser zuständig, saßen, in traditionellen Amtsroben, in schwarzen Kutschen oder Oldtimern, natürlich Rolls Royce. Für den historischen Hintergrund der Zeremonie, der ins 13. Jahrhundert zurückgeht und mit dem man gerne durchblicken läßt, daß sie im größten Bankenzentrum der Welt stattfindet, muß es einen reichen Fundus geben. Doch auch ohne Maskenbildner paßten die Gesichter zu jedem Kostüm. Erst im Wechsel der Garde-Roben zeigt sich so etwas wie eine trans-historische Physiognomie, die sich in der Oberschicht stabilisiert und nach unten ausfranst. Hotelportiers sehen ja häufig aus wie Herren, Lords wie Lords oder Bohemiens oder Alpinisten. Auch heute wird den Eton-Boys vom ersten Schultag an anerzogen, sich von früh bis spät im schwarzen Gehrock mit weißer Binde zu bewegen. Sechsspänning in vergoldeter Staatskarosse daher kommt das neu erwählte 668. Stadtoberhaupt von London, ein durch viele Ämter und Ehren aufgestiegener Chirurg, der noch im vergangenen Jahr operiert haben soll). Sein Motto ‹Gesundheit für Stadt und Nation› sieht man dem Festzug an: Klinikpersonal in grünen Kitteln mit reichlich roten Spritzern darauf mimt auf auf einem Plattformwagen den chirurgischen Eingriff, Gesellschaften für freiwillige Hilfsdienste, medizinische Weiterbildung, Hospitäler, Ambulanzen und Apotheker demonstrieren ihre Selbstdarstellungsphantasien. Dazu gibt es Marschmusik und Dixieland. Ein Konzern für ›gesunde‹ Nahrungsmittel ist mit dabei, eine Firma für ein vitaminreiches Sportgetränk, ein Verein für Billigangebote, und auch die Blindenhunde und die Funktaxis mit Kindern aus den Armenvierteln sind mit von der Partie. Eingedenk militanter Umzüge bayerischer Gebirgsschützen oder der krachenden Fröhlichkeit rheinischer Jecken erscheint die Lord Mayors's Show als lange eingeübter, lässiger, heiterer unaufgeregter und pragmatisch aufgeführter Spiegel demokratischer Praxis. Auch dann, wenn man Umzüge gar nicht mag, die Arbeitslosen, die Organisationen für Frauenrechte, Schwule und Lesben, Amnesty International oder Greenpeace fehlten. Aber die heizen zur Zeit dem Premier Mayor gerade wieder ein — zuletzt wegen dessen Haltung zu den französischen Atomtests im Pazifik. Thomas Zacharias Laubacher Feuilleton 16.1996, S. 16
Nordlicht-Knurrhahn Wenn es irgend geht, fährt der harte Redaktionskern einmal jährlich zum disziplinierten Training der ostfriesischen Olympiade nach Norddeich: Deckel-Rund-Trinken, Fahrrad-Rodeo, Krabben-Puhlen und Kloot-Schießen (und zwar in dieser Reihenfolge). Also: Münster Richtung Oldenburg, dann links ab Richtung Emden, dann vorbei an friedlich wiederkäuenden, echten Kühen bis nach Norden, das südlich von Norddeich liegt, und dann immer geradeaus, bis (fast) nichts mehr geht. Kurz vor'm Deich liegt Norddeich, von wo aus man eingeschifft werden kann nach Juist, Norderney oder Helgoland. Doch da wollen wir nicht hin. Wir fahren zu Frau Coordes, stellen das Auto und legen die Abstinenz ab, holen uns die Fahrräder ... Früher sind wir, so es etwa um 17.00 Uhr war, zuallerst Stumpi von der Bank oben am Deich abholen und mit ihm in seinen Fährkeller im alten Fährhaus gefahren beziehungsweise gegangen. Aber Stumpi ist in Rente. Er kellnert jetzt, in der Saison, bei Jeanette und Didi Klattenberg im Nordlicht. Doch da kommen wir später hin. Vorher gehen (nein, noch fahren wir) zu Gretel und Werner und Walther Evers zum Knurrhahn. Der liegt direkt an der Einflugschneise von Norden zum Fährhafen. Und dort gibt's Fisch. Der Ruf: «Gretel! Bitte einen Kinderteller Scholle!» Ersatz-Grummeln (wegen Überbeschäftigung in der Küche) des Ober-Knurrhahns Werner vom Tresen: «A wat. Schollen schmecken, auch kalt, zum Frühstück wunderbar.» Er muß es wissen, war er doch früher Fischer. Da gab's zum Frühstück wahrscheinlich nichts anderes. Und Jean ißt Fisch nur kalt. Aber der ist ja auch so eine Art Esquimau. Um 22.00 Uhr machen die Evers ihren ehemaligen Fischladen, dessen Tresen immer länger wurde und dann endlich zur Gaststätte mutierte, dicht. Verständlich, geht es doch früh um fünf, sechs Uhr bereits los mit Fisch-Einkauf und anschließendem -putzen. So leuchtet uns denn das Nordlicht. Da liegt der Deckel schon bereit, ihn (für heute erst) einmal rundzutrinken. Für jedes Bier und jeden braunen Auerhahn gibt es je einen Strich. Die Scholle (übermorgen gibt's Seezunge; schmeckt kalt auch gut, sagt Werner) bildet eine schwammartige, also adäquate Unterlage für die Umrundung. «Didi! Gibt's morgen Labskaus? Klar?» «Wieviel Personen?» «Drei.» (Mehr darf man nicht sagen, auch wenn der Kohlenpott-Redakteur morgen kommt und wir dann zu sechst sind.) Chefkoch und Jeanette-Gatte Didi, früher auf großer Fahrt und ein begnadeter Motorboot-Kamikaze-Pilot, bereitet dieses wunderbare Gemenge aus Fisch, Fleisch und Kartoffeln mit Gurke und Spiegelei nur auf Bestellung zu. (Es füllt den Magen komplett aus und geht nur über Bord, wenn der Käpt'n sauer ist auf die Touristen und deshalb sein Schiff so steuert, daß es garantiert so läuft, als ob Windstärke neun wäre.) Nach 1.30 Uhr kommt's, auf dem Weg zu Frau Coordes kleiner Pension, zum ersten Fahrrad-Rodeo-Training. Hier wird sich einmal mehr die Verlegerin als beste dieser Disziplin erweisen. Ihr gesamter Körper ist übersäht mit den Urkunden, die die kapitalsten Stürze hinter Büsche und Mauerabgrenzungen belegen. Unser Schluß- und Sitzredakteur, den zu Hause niemand jemals vor High Noon aus dem Bett bekommt, wird zur allerfrühesten Stunde am Hafen stehen und die ersten Krabben abfangen, auf daß wir ihnen den Leib von der harten Schale befreien und mit ihrem zarten Innenleben die Möven bedienen (die uns dann zum Dank ihre Ausscheidungen — zielgerichtet — überlassen). Anschließend bekommt dieser fanatische Süßspeisen-Hasser ein Eis zur Belohnung. Strahlen wird er dann wie die Nordsee-Sonne bei ihrem Untergang kurz vor 22.45 Uhr. Und das diesen Plastik-Geschmack abrundende Weißbier aus Bayern, das er dort nie und nimmer trinken würde, versetzt ihn eine Laune, die ihn gar aufs Schiff zu treiben vermag. So geht's dann also doch auf die Insel, auf irgendeine; die sehen ja doch alle gleich aus. Im Freibad von Norddeich, das den einzigen Sand weit und breit zu bieten hat, können wir doch nicht mit Kugeln herumschmeißen. Daß diese Kugeln etwas größer sind als die Kloote der Einheimischen, nehmen die Touristen-Kolleginnen und -Kollegen nicht weiter wahr, und die Einheimischen wundern sich nicht weiter über die Pappnasen, die da wieder mal was durcheinanderbringen. Mit dem vorletzten Dampfer (der letzte ist immer so abgefüllt mit Touristen!) geht's dann zurück aufs Festland, auf'm Fahrrad zum Knurrhahn, ein bißchen Weitertrainieren in Sachen Deckelrundung, dann, immer noch per Fahrrad, leuchtet das Nordlicht, winkt der Labskaus, flattert der Auerhahn, dreht sich der Deckel ... Laubacher Feuilleton 18.1996, S. 5
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