64 Grad

2. Brief aus Venezuela

Wo ist Angelina, Rosalena, Clarybell? Wo ist León? Stimmt etwas nicht? Eine drei Zentimeter starke Eisenkette war um den Türgriff der mit gelber Farbe angestrichenen, nein bemalten Holzhütte geschlungen und an einem krummgeschlagenen Nagel seitlich am Pfosten eingehakt. Ein faustgroßes Messingschloß blitzte in der schon schräg stehenden Sonne. Symbol genug, daß hier geschlossen war, wenngleich es ein leichtes gewesen wäre, die Tür zu öffnen, hinter der das Bier verborgen war.

Ich nahm mein Taschenthermometer aus dem Sand, 64 Grad, Sandflöhe tummelten sich auf Bartolos bloßen Füßen. Mich aufrichtend, sah ich ihn fragend an. Sein weißes, kragenloses Hemd hatte er bis unter die Achseln aufgerollt, auf daß die Brise vom Meer seinen schwarzen Bauch kühle. Er legte den Kopf leicht zurück, sein Lächeln gelang nur schwach. No estàn. Sie sind nicht da. Der Kiosk ist geschlossen.

Hinter ihm breitete sich friedlich der menschenleere Strand aus. Das Rauschen der Palmen im Wind verschmolz mit dem Tosen der Brandung. Draußen an den Bojen dümpelten verlassen die Boote der Fischer, dienten nur den satten Pelikanen als Sitzplatz.

Roncito? Ein kleiner Rum-Punsch? Er nickte, und seine Augen blitzten vergnügt. Es ist Putsch. Wenn es dunkel wird, ab sieben, ist Ausgangssperre. Wir gingen hinüber zur Mündung, folgten dann dem trägen Fluß. Zwischen den Bananenstauden zerpflückten ein halbes Dutzend Geier einen Abfallhaufen. Sie lieben die Menschen für ihren Müll.

In Francos, von der Blütenpracht der Boganvilleas fast völlig überwucherter Hütte war das Fernsehgerät eingeschaltet. Der Präsident erklärte soeben, daß keine Gefahr bestünde, die Lage unter Kontrolle sei und die Familien, die Tote zu beklagen hätten, seines Mitgefühls gewiß sein dürften, 162 Menschenleben hätten die Kämpfe gefordert, die Demokratie sei erfolgreich verteidigt worden. Im Hintergrund waren die Salven von Maschinenwaffen zu hören.

Franco zeigte sich überzeugt, daß der Präsident nicht die Wahrheit spreche und das Volk nur bestehlen wolle, außerdem habe Maddalena, die beim Radio arbeitet, von 9.000 Toten gesprochen, und den besetzten Sender hätten die Regierungstruppen erst anläßlich der «Befreiung» zerschossen. Der Vater seines Großvaters sei noch Sklave gewesen, bei den Weißen, aber das ...

Hier unterbrach er sich. Venezuela ist ein reiches Land, Amigo! Wie zum Beweis sammelte er einige Parchitas auf, reife Passionsfrüchte, abgeworfen von der im Mangobaum rankenden Liane, um sie mir zum Abschied zu schenken.

Im Schatten der riesigen Caobas erreichten wir nach wenigen Minuten mein Haus, aus dem Radio drang Salsa-Rhythmus. Die Sonne neigte sich dem mit Kakteen bewachsenen Bergrücken zu, der das Flußtal begrenzt. Bartolo hatte auf der Küchenterasse Platz genommen, bescheiden sich den wackeligsten Stuhl aussuchend. Geradezu zärtlich öffnete er die Rumflasche, während ich die Früchte teilte und das süß-saure Mark in die Gläser gleiten ließ.

Ob er gleichfalls glaube, daß der Präsident oder die Politiker stehlen, wollte ich wissen. Lächelnd setzte er das Glas mit dem Punsch an die Lippen, nahm schlürfend einen großen Schluck, stellte es dann mit einer unendlich bedächtigen Geste zurück auf den grün lackierten Tisch.

Man erzähle sich, begann er zögernd, daß einst ein venezolanischer Politiker bei einem solchen in Nordamerika zu Gast gewesen sei. Der habe eine riesige Villa mit 20 Zimmern, mit Palmen, zwei Schwimmbädern und vielen Bediensteten besessen. Der Venezolaner habe seinen Wohlstand bewundert, und der Nordamerikaner habe stolz auf ein Kraftwerk in der Ferne gewiesen, sich auf den Rock geklopft und gesagt: 20 Prozent in meiner Tasche. Ein Jahr darauf habe der Venezolaner die Einladung erwidert, und sein Gast bewunderte dessen Eigentum. Er besaß eine riesige Villa mit 40 Zimmern, mit sechs palmenumstandenen Schwimmbädern und vielen Bediensteten. Dann habe er in die Ferne gewiesen und gefragt, ob sein Freund den mächtigen Staudamm in jenem Tal dort sehen könne. Als der verneinte, habe er sich auf den Rock geklopft und leise gesagt: nun — 100 Prozent in meiner Tasche.

Inzwischen war es dunkel geworden — und Bartolo durstig von seiner ungewohnt langen Rede. Ob wohl noch Bier vorhanden sei? 64 Schritte sind es bis zu meiner Hütte mit dem Kühlschrank. Man wird mich nicht sehen, meinte er lächelnd. Ich lasse mein Hemd hier.

Joachim F. W. Lotsch

Laubacher Feuilleton 7.1993, S. 15
 
So, 06.09.2009 |  link | (1307) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Anderenorts






To prevent spam abuse referrers and backlinks are displayed using client-side JavaScript code. Thus, you should enable the option to execute JavaScript code in your browser. Otherwise you will only see this information.











weiterblättern ist das anwachsende Archiv der édition csc, mittlerweile in aktueller Fortsetzung. Partenaire, Partner.
Letzte Aktualisierung: 05.12.2013, 18:31



Zum Kommentieren bitte anmelden

Links:

... Aktuelle Seite
... Inhaltsverzeichnis
... Autorinnen und Autoren
... Inwendiges
... Impressum

... Blogger.de
... Spenden

Letzte Kommentare:
/
Biographische Notiz
(edition csc)
/
Martin Knepper
(edition csc)
/
Enzoo (52 [2.10.2012]):
(edition csc)
/
Liebe virtuelle Verleger,
(edition csc)
/
Unglaublich
(jean stubenzweig)
/
Herbert Köhler
(edition csc)
/
Das sehen wir
(edition csc)
/
Guter Artikel!
(wolfganggl)
/
nur konsequent, dass storck...
(vert)
/
Telephon-Spiele
(edition csc)
/
Ein Porträt
(edition csc)
/
Unser Häus'chen
(daniel buchta)
/
Die bagonalistische Ballastung
(edition csc)
/
Dictionnaire
(edition csc)
/
Eine Antwort
(edition csc)
/
Please copy
(einemaria)
/
kid37, "We learned more from...
(kreuzbube)
/
Der bildenden Zeitung
(edition csc)
/
Da sieht man es. Nicht in...
(kid37)


Privatsphäre:





Suche:

 










Zum Kommentieren bitte anmelden

Layout dieses Weblogs basierend auf Großbloggbaumeister 2.2