Klootscheeterlust

«Wenn de Wind weiht öwer Kluten,
wenn to Is dat Water früst,
drängt de Boßelers na buten,
rögt sick de Klootscheeterlust.
All sien Dage, möt ji weeten,
hebbt se all mit Boßels smeten,
alltied klung dat hell un lut:
‹Hurra! Lüch up und fleu herut›»



Es kommt ja zum Glück nicht alle Tage vor, daß Urlaubs-Bekannte, mit denen man wider alle Erfahrung doch die Heimat-Adressen ausgetauscht hat («wir kommen bestimmt mal vorbei, versprochen»), dann eines Tages wirklich vor der Tür stehen. Jens und Uwe standen. Moin, moin; wir sind auf dem Weg nach Süden; nur für eine Nacht. Aufatmen. Auf dem Weg zum Abendessen, Ziel war die Kneipe am Fluß, hält Jens, der Zehnkämpfer, inne, nimmt einen Kieselstein auf und wirft ihn, mit wenigen Schritten Anlauf, in Richtung jenseitiges Ufer. Kurz vor dem Ufer plumpst der Kiesel ins Wasser. Uwe, ein schmächtiges Kerlchen, bei dem ich während des Urlaubs keine sportlichen Ambitionen bemerkt hatte, bückt sich nach einem passenden Kiesel, nimmt einige Schritte mehr Anlauf als Jens, bewegt sich eigentümlich tänzelnd, aber schnell vorwärts, springt vor dem Abwurf mit beiden Füßen gleichzeitig fest auf die Erde, steigt in die Höhe, die Arme hoch erhoben, der rechte Arm, dessen Hand den Kiesel hält, schwingt voll nach hinten durch, und nach dem Durchschwung, kurz nach dem tiefsten Punkt, verläßt der Stein die Hand — und landet weit jenseits des gegenüberliegenden Ufers. Uwe ist Kloot-Schießer.

Neugierig geworden, mache ich mich nach der Abreise der beiden kundig. Mein altes Universal Konversations Lexikon, der Kürschner, gibt nicht viel her: «Klootschießen, ostfries. Wintervergnügen, bestehend im Werfen v. Holzkugein auf d. Eisfläche.» In der volkskundlichen Abteilung werde ich fündig. Uralt ist dieses Spiel; bereits im Jahre 1510 wird in einer ostfriesischen Urkunde von Strafen wegen Verletzungen durch «Kloote» berichtet. Und Verletzungen kommen auch heute noch vor. Nicht nur, weil ein guter Werfer die Kugel 100 Meter weit werfen kann (und so genau auch nicht weiß, wer da vielleicht im Weg rumsteht, zumal das Spiel keineswegs nur auf übersichtlichen Eisflächen stattfindet), sondern auch, weil die Holzkugel dreimal durchbohrt und die Bohrlöcher mit Blei ausgegossen werden, so daß die Holz-Kugel mit ihren 59 Millimetern Durchmesser auf ein Gewicht von 475 Gramm gebracht wird.

Verletzungen rührten (und rühren?) allerdings nicht allzu häufig von unabsichtlichen Treffern her. Weit gefährlicher war das Spiel durch die Begleiterscheinungen: Gespielt wurde nämlich häufig Kirchspiel gegen Kirchspiel, Vogtei gegen Vogtei, Städtchen gegen Städtchen. Es wurde und wird heftig getrunken. Wetten in oft beträchtlicher Höhe laufen und liefen mit. Und so waren Massenschlägereien und tiefe Feindschaften keine Seltenheit.

In Jever wird vom Fürsten Friedrich August im Februar 1755 ein «Proclama» erlassen und von allen Kanzeln des Jever-Landes verlesen. Damit wird das Kloot-Schießen «in Zukunft gantz und gar verboten», weil durch das Spiel «Unfug und Schlägereien angerichtet» und «dabei Leute wol gar gefährlich verwundet worden». Es nützt nichts, daß die jeverschen Räte, mit dem Verbot nicht einverstanden, daran erinnern, daß «viele Arten von Zusammenkünften [...] oft viel schlimmer auslaufen als das Klootschießen, z. B. die Versammlungen bei Hochzeiten und Begräbnissen, in Wirtshäusern, die jedesmal fast Gesöff, Schlägerey und Meuterey mit sich bringen».

Erst 1793 wird das Kloot-Schießen unter strengen Auflagen und Strafandrohungen wieder erlaubt. «Das Klootschießen von Kirchspiel gegen Kirchspiel, Vogteien gegen Vogteien, bleibt gäntzlich bei der gesetzten Strafe verbothen.»

Manfred Jander/Günther R. Schulz

Laubacher Feuilleton 15.1995, S. 3

Die Zitate sind entnommen: Karl Fissen, Jever — Volkskundliches aus einer kleinen Stadt und ihrer Landschaft, Verlag C. L. Mettcker & Söhne, Jever 1960; Photographie: ksmichel CC

 
Mo, 23.02.2009 |  link | (2165) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Sportliches






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