Weiteressen

Telefax aus Mercosur

Mein Lieber,
um den Stammtisch, wenn man reinkommt links, fallen zuerst die Unterhemden, die schwer über die Gürtel hängen, ins Auge. Vorn, gleich dem Eingang gegenüber, authentiziert ein Poster mit FJS, weißblau umkränzt, die ‹Bayernstuben› in Asunción. Neulich waren auch einige Frauen am ovalen Stammtisch, die Haare zum Dutt gesteckt, aber auf sie wurde ich erst aufmerksam, als sie anfingen zu singen. Etwas vom Jager, der Liebe und dem Tod. Der Ober, ein Chulipi-Indianer aus dem Chacco, ist erstaunt, daß meine Begleiterin diesmal keinen «Appelstrudel» mag. «Warum willst Du nicht heute?» Die Sie-Anrede hat er nicht drauf. Die Mennoniten, knapp 400 Kilometer weiter im Westen, wo er herkommt, haben auch nie Sie zu ihm gesagt. «Noch Chop?» — Faßbier — natürlich. Bei mir haben die Ober immer Glück, und hier speziell, weil es zur Mischung gehört, die immer mit diesem herrlichen Graubrot und Griebenschmalz, gut nachgesalzen, beginnt. Danach bestelle ich oft etwas nur, weil Bratkartoffeln dabei sind. Die Semmelknödel habe ich noch nie probiert, von den — ¿como? ja, otra chop por favor — von Käsespätzln, viel zu fett, lasse ich in Zukunft die Finger, und die Weißwürste — dafür bin ich immer, man kennt ja die Regeln, zu spät.

Hat Daniel wohl gut zugenommen? Falls es so ist, dann ist der Onkel des Computerfachmanns aus Ghana mittlerweile gestorben. Daniel hat schon lange darauf hingearbeitet, Nachfolger seines Onkels als Clanchef von 150.000 Menschen zu werden. Für dessen drei Witwen, das gehört dazu, würde er dann den Part das Ehemanns übernehmen. Damit Daniel gute Chancen hätte, nicht nur Chef zu werden, sondern auch zu bleiben, würde man ihn gleich nach seiner Wahl 30 Tage lang wegsperren — und mästen. Das Fett und rituelle Tänze würden ihm helfen, das Todesspiel zu gewinnen, den Voodoo-Zauber der abgeschlagenen Konkurrenten abzuwehren, mit dem diese nachträglich Recht bekommen wollen. Du mußt glauben, sagte er lächelnd. Muriel aus Benin fand das ziemlich primitiv. Silaa, die Anwältin aus Tanzania ging schon eher auf ihn ein und erzählte von Beduinen-Frauen, die, wenn sie Lust auf einen Mann hatten, einen besonderen Gürtel unter die Gewänder um die Taille binden. Spürst Du ihn?

Im Februar, am Rosenmontag, als ich Daniel kennenlernte, waren wir im Rheinland und sollten laut Seminarprogramm etwas Typisches erleben: Reibekuchen mit Apfelmus (na ja). Wir sprachen über Aids. Könnt ihr euch einen Chief mit Kondom vorstellen, fragte Daniel, während er zugleich mit der Gabel die hellbraune Masse auf dem Teller untersuchte. Sofort, zum ersten Mal in meinem Leben, als ich Daniel das fragen hörte und ihn ansah, von den nicht unlustigen Augen in das junge, sanfte und doch tief entschlossene Gesicht, auf dem starken Hals, mit den Fleischfalten im Nacken, die mit jeder Kopfbewegung ein wenig in dem mit Goldfäden durchwirkten traditionellen Gewand verschwanden und wieder auftauchten, meinte ich mit großer Klarheit zu spüren, wie ein Clanchef zu sein hat: Gläubig und pragmatisch.

Exakt an diesem erkenntnisreichen Rosenmontag endete übrigens auch der Fastenmonat Ramadan, Mohamed aus Indonesien hatte ausführlich gefrühstückt.

Kaum etwas anmerken — wie eigentlich immer, wenn er sein Essen schlürfte — ließ sich Xiaoshan aus der Volksrepublik China, dabei begann, ebenfalls an diesem Tag, das chinesische Neujahr. Wann wird es wieder solch eine Bündelung von tollen Tagen geben? Ein Schluck und der Apfelkorn ist fort. Schluck, Schluck, intonieren seither Ernesto und ich — fast — jedesmal, wenn wir uns jetzt in Montevideo wieder begegnen. Von heute abend, dem Abendessen beim Schweizer Botschafter, kann ich noch nichts berichten. Sieben Gänge habe ich am Freitag im Pfarrhaus der deutschen evangelischen Gemeinde in mich hineingeschoben. Eingeladen, von einem ehemaligen Restaurantbesitzer aus Berlin, der unbedingt wieder einmal schön kochen wollte. Liebfrauenmilch gab es bei dieser Gelegenheit nicht; das setzen dir eher Einheimische vor, wenn sie nett sein wollen.

An ein Liebfrauenmilch-Abendessen erinnere ich mich unheimlich gut. Ich werde aber, weil Sprengstoff drinsteckt, nur verklausuliert davon erzählen: Vor 15 Jahren, in einer südamerikanischen Diktatur, war ich gemeinsam mit wichtigen Oppositionellen in die Residenz eines Botschafters geladen. Eine Bombe, so meinte der Diplomat, und die Probleme des Landes sind gelöst. Aber Herr Botschafter, soll das ein Aufruf zum Tyrannenmord sein? Natürlich nicht, war die schnelle Antwort. Hier gehört die Bombe gezündet. Hier und jetzt.

Alles nur Scherz. Weiteressen.

Dein Rainer (Willert)


Laubacher Feuilleton 18.1996, S. 16
 
Mi, 22.09.2010 |  link | (1784) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Anderenorts






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Letzte Aktualisierung: 05.12.2013, 18:31



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