Selbstbildnis des Künstlers beim Pferdezersägen

Siegfried Kaden

Weihnachtspyramiden aus dem Erzgebirge werden in der Volksrepublik China hergestellt. Kleine Plastikpferde, auf die man die Figürchen von Winnetou oder Old Shatterhand setzen kann, stammen meist aus Nationalchina (Taiwan) oder aus Hongkong. Die Säge, mit der Siegfried Kaden diese Pferdchen in der Leibesmitte durchsägt, trägt den Vermerk «Made in Germany», darüber steht, wie zur Bekräftigung, QUALITÄT (in Großbuchstaben).

Die Pferde werden in ein Holzkästchen gelegt, das eine Führungsschiene für die Säge besitzt, damit die Schnittflächen gerade und sauber werden. Auf dem im Original farbigen Polaroid an der Rückseite des Objektkastens sehen wir den Künstler konzentriert bei der Arbeit. Der Zeigefinger drückt das Pferd an den Boden des Gehrungskastens, um ein Verrutschen zu verhindern. Die deutsche Qualitätssäge besorgt den Rest. Die Blutspuren auf dem Tisch sind natürlich nur Farbspritzer. Fein säuberlich bemalt Kaden nach dem Sägen die Schnittflächen der Pferde blutrot. Die Pferdehälften aus dem Bild setzen sich auf der unteren Begrenzung des Kastens aus Sperrholz fort: da liegen zwei ‹echte› Pferdevorderhälften mit blutroten Schnittflächen. Rechts marschiert ein Pferd aus dem Kasten hinaus. Die hintere Hälfte ist noch drinnen, der vordere Teil trabt hinaus. Kann ein Spielzeugpferd aus Plastik durch eine Holzwand hindurch nach draußen, ins echte Leben gelangen? Oder ist der Verdacht begründet, daß Kaden zwei Pferdehälften so geklebt hat, daß es nur so aussieht, als ob? Links bläst ein chinesischer Weihnachtsengel aus dem Erzgebirge das Horn.

Nichts, was wir in dieser Arbeit oder an dieser Arbeit sehen, ist echt. Kunst ist zwar per definitionem keine Wirklichkeit (obwohl sie natürlich, wenn sie über das Stadium der Idee hinaus ist und sich als Werk manifestiert, einen Teil der Realität bildet), aber im hiesigen Falle stehen wir vor lauter Mehrfachtäuschungen. Ein Beispiel: Die Pferde existieren gewissermaßen in mehreren Aggregatszuständen: zersägt — oder zumindest auf dem Wege dorthin —, als Photographie, in ‹echt› und als Ganzes, das im Verdacht steht, nur aus zwei Hälften zu bestehen. Fast überflüssig zu sagen, daß es sich bei den Pferden um Plastikmodelle in verkleinertem Maßstab — vulgo Spielzeug — handelt.

«Es stellt sich nun die Frage, ob das verkleinerte Modell — wie es auch der Geselle als Meisterstück zu liefern hat — nicht immer und überall der Typus des Kunstwerks überhaupt ist.» Diese Frage von Claude Lévi-Strauss können wir angesichts der Arbeit Siegfried Kadens verneinen. Weder ist die Kunst das Leben noch ist sie dessen verkleinertes Modell. Zwar ist Kaden ein Bastler, aber damit allein ist es noch nicht getan. Die Kunst hat in der Tat versucht, ein Modell von Lebensprozessen, -ereignissen usw. im Maßstab 1:1 herzustellen mit dem Ziel, dieses Modell vom Vorbild ununterscheidbar zu machen bzw. mit jenem in dieses einzugreifen, es umzugestalten. Herbert Marcuse setzte seine Hoffnung noch in das «Ende der Trennung des Ästhetischen vom Wirklichen, aber ebenso das Ende der kommerziellen Vereinigung von Geschäft und Schönheit, Ausbeutung und Freude.»

Äußerungen wie diese stehen heute im Ruch der Naivität, Kritische Theorie mit den glasklaren und messerscharfen Gesellschaftsanalysen von Marcuse oder Horkheimerscher und Adornoscher Prägung ist ‹out›. Gefragt ist Vernunftkritik nach Adorno, sind sogenannte neue Denkansätze. Die Moderne wird als überwunden bezeichnet, ohne daß die, die das tun, sie ganz begriffen haben. Es schreibt ein deutscher Postmoderner: «Die Inkommensurabilität — die Botschaft der Moderne — ist in der Postmoderne zur Wirklichkeit geworden.» Mit Inkommensurabilität meint der Autor Wolfgang Welsch, so stellt sich heraus, die absolute Autonomie des Ästhetischen, eine Autonomie auch gegenüber der Philosophie. Als Beispiel für Inkommensurabilität (ein Begriff aus der Mathematik) führt er den Vexierbild-Effekt an. Eine Zeichnung könne einmal als Landschaft, ein andermal als Gesicht gesehen werden. Beide Sehweisen seien inkommensurabel: «Was sich beispielsweise darin zeigt, [...] daß man nicht von der einen zur anderen hinübergleiten kann, sondern von der einen zur anderen springen muß.» Wir wollen hier nur am Rande an Dalís Bild Paranoisches Gesicht und die Gedanken dazu von 1934/35 erinnern, das sowohl eine Landschaft als auch ein Gesicht darstellt, vereint durch das tertium comparationis, das Bild. Oder Hans Bellmer: «Das Objekt, das nur mit sich selbst identisch ist, bleibt ohne Wirklichkeit.» Beide sind keine postmodernen Künstler und zeigen die Schalheit der Argumentation Welschs.

Ästhetik soll also nichts mit anderen Bereichen zu tun haben. Rückfall ins 19. Jahrhundert: Vom Gedanken des L'art pour l'art bleibt nicht einmal mehr der Verweigerungsgestus — man denke an Wilde oder Baudelaire — übrig: «die Welt zu sehen, im Mittelpunkt der Welt zu sein, und der Welt verborgen zu bleiben» (Baudelaire). Die sogenannte Moderne ist nicht reduzierbar auf die verbrauchte Formel der «Vereinigung von Kunst und Leben» im Sinne der Aufhebung der Autonomie der Kunst. Diese Vereinfachung ist für die Verfechter der Postmoderne ebenso kennzeichnend wie — zumindest bei den deutschen Epigonen der Lyotard, Derrida usw. — der durchgehend apologetische Tenor ihrer Äuûerungen.

Kadens Arbeit reflektiert die Spannung zwischen Avantgarde und Kitsch, zwischen dem frühen Hermann Nitsch und Jeff Koons beispielsweise. Clement Greenberg hat bereits im Jahre 1939 das Verhältnis der beiden Phänomene in dem gleichnamigen Aufsatz Avantgarde und Kitsch zu fassen versucht. «Der Kapitalismus im Niedergang stellt fest, daß alles, was er an qualitativ gültigen Dingen hervorbringen kann, beinahe ohne Ausnahme zu einer Bedrohung seiner Existenz wird.» Allerdings hat der Kapitalismus im Niedergang, um gerade diesen aufzuhalten, Strategien entwickelt, die diesen Mechanismus unwirksam machen sollen. Eine davon ist eine erweiterte sogenannte Liberalität: Akzeptanz als Unschädlichmachung. Dazu gehört auch die vielzitierte Pluralität. Jeder kann machen, was er will. Das hört sich gut an, nach Freiheit. Es nimmt aber jedem Protest die Spitze. Eingefahrenes bleibt so, wie es ist. Das hat nichts mit einer Verschwörungstheorie zu tun; das heutige Prinzip heißt aussitzen, bis das Problem sich von selbst erledigt hat.

Kitsch als Kunst oder, wie Greenberg es ausdrückte, die Ermutigung zum Kitsch ist heute wie damals, 1939, Demagogie. Koons' Edelstahlhase ist werkimmanent oder kunstimmanent nicht zu fassen; methodisch ist er nur unter Rückbindung an die Gesellschaft, in deren Kontext er entstanden ist, rein analytisch begreifbar. Stellt man ihn in den Kunstkontext (wo er sich aufgrund der Vereinbarung von Kritikern, Museumsleuten etc. ja sowieso schon befindet), dann stellt man — was das Verhältnis von Form und Inhalt betrifft — jene Inkommensurabilität fest, von der oben die Rede war. Deswegen ist der Kitsch der Liebling der Postmoderne. Demgegenüber versucht eine ‹moderne› oder sich daran orientierende Kunst die «Koppelung des Inkommensurablen» (Werner Hofmann). Darunter zählt Hofmann das papier collé der Kubisten, das ready made und das happening. Intention der Moderne war es, im Alltäglichen das Wunderbare zu entdecken, eine Erweiterung der Wahrnehmungsgewohnheiten zu erreichen. Intention war nicht, den Schock, den Bruch mit eingefahrenen Sehweisen, der dazu führen sollte, als Gegebenes hinzunehmen, wie es postmoderne Theoretiker lauthals als ihre neue Entdeckung preisen. Affirmation heißt in diesem Falle, alles, aber auch alles so hinzunehmen, wie man es vorfindet.

Die Bedeutung solcher im übrigen längst bekannter Verfahrensweisen, nämlich dem Alltäglichen, dem Massenprodukt, dem Kitsch einen Status zu verleihen, der ihm unangemessen ist, hat sich grundlegend gewandelt. Die Trivialisierung der Hochkunst war eine der grundlegenden Methoden der Moderne. Die Auswirkungen, die wir heute davon spüren, bestehen in der Nobilitierung des Masscult oder des Midcult, eines, wie Umberto Eco es bezeichnet, Bastards des Masscult. Eco kennzeichnet nach Dwight MacDonald den Midcult folgendermaßen: «1. er macht Anleihen bei Verfahrensweisen der Avantgarde und paßt sie der Konfektionierung einer Botschaft ein, die für alle verständlich und genießbar ist;
2. er benutzt diese Verfahrensweisen erst dann, wenn (und weil) sie bekannt und verbreitet, bereits konsumiert sind;
3. er konstruiert die Botschaft nach Maßgabe der Effekte, die er bewirken soll;
4. er stellt den Konsumenten zufrieden, indem er ihn davon überzeugt, das Herz der Kultur schlagen gehört zu haben.»

Dem affirmativen Charakter einer postulierten neuen Ästhetik, wie sie etwa Lyotard vertritt (Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982), kann man nur in einer nicht uninteressanten Wendung Bazon Brocks etwas abgewinnen, der als Folge dieser ständigen Affirmationen eine Implosion von existierenden Herrschaftsansprüchen erwartet.

Hier setzt Kaden an. Wenn — unfreiwillig sich selbst entlarvend — behauptet wird, die Irritation der Moderne sei in der Postmoderne dem «Geschmack an Irritation» (Welsch) gewichen, so nimmt Kaden das wörtlich. Es scheint niedlich und lustig, was er da macht. Er kombiniert die Medien Kleinplastik, Foto, Objektkasten und bearbeitetes ready made. Wo Nitsch Ochsen schlachtete, zersägt Kaden Pferdchen, die mit roter Farbe hübsch bluten. Koons' hochpoliertem Edelstahlhasen setzt er kleine Spielzeugpferdchen entgegen. Er bietet, so scheint's, für jeden etwas.

Warum, fragt man sich, hält er es dann nach eigener Aussage für ein Mißverständnis, wenn jemand eines seiner Bilder oder Objekte kauft? «Der Leser glaubt», so Karl Kraus, «daß ich mich über ihn lustig machen wolle, wenn ich ihm das Gedicht vom Tibetteppich empfehle. Als ob ich ihm nicht, wenn ich mich schon über ihn lustig machen wollte, lieber das Gedicht vom Fichtenbaum empfohlen hätte. Warum aber sollte ich mich denn über den Leser lustig machen? Ich nehme ihn viel ernster als er mich. Ich habe nie dem Leben vorzuwerfen gewagt, daß es sich mit der deutsch-freisinnigen Politik oder der doppelten Buchhaltung über mich lustig machen wolle. Wenn der Ernst des Lebens wüßte, wie ernst das Leben ist, er würde sich nicht erfrechen, die Kunst heiter zu finden.»

Es geht bei Kaden um die Kunst und es geht damit gleichzeitig immer um das Leben. In der Realität, zumindest in der Realität, die uns als solche letztendlich vorgegaukelt wird, geht es, wenn von Kunst die Rede ist, nicht um das Leben, sondern nur um dessen Nachbildung, die an Maßstäben gemessen wird, die jeweils gerade zweckmäßig sind. So war in einem privaten Fernsehsender vor dem Werbeblock der Titel Kunst und Information eingeblendet. Ansonsten ist, auch in den Printmedien, der redaktionelle Teil von der Werbung kaum mehr getrennt und auch fast nicht zu unterscheiden. Die Wirklichkeit des Realitätsbildes (das gar keines ist, aber das zumindest einer Realität entnommen ist, in welchem Ausschnitt und unter welchem Blickwinkel auch immer) wird der Wirklichkeit des fiktiven Bildes gleichgesetzt.

Kaden greift zurück auf Methoden, die aus Bildern plastische Teile heraustreten lassen, man denke an barocke Wand- oder Deckenmalerei. Die Überwindung des Gegensatzes zwischen echt und fiktiv ist ja keine Erscheinung neueren Datums. Zu Anfang steht in der Mythologie hinter allem der Deus Artifex, der Schöpfergott, der dann in der Renaissance abgelöst wird vom Divino Artista. Diese Auffassung manifestiert sich etwa in dem Beinamen Divino für Michelangelo.

Die Photographie, die Siegfried Kaden bei der künstlerischen Arbeit zeigt (allerdings hier aus technischen Gründen leider nicht gezeigt werden kann), weist auf diese Tradition und ironisiert bzw. aktualisiert sie. Bedenken wir die — auch nicht neue — Vorstellung von der Ununterscheidbarkeit zwischen Fiktion und Realität, Kunst und Natur, dann ergibt sich ein Gegenbild zu der Figur Pygmalions, der sich als Bildhauer seine ideale Gefährtin aus Elfenbein schuf, sich in sie verliebte und Erfolg hatte: Venus erhörte seine Bitten und erweckte sie zum Leben. Kadens ernsthafte Tätigkeit besteht darin, verkleinerte Modelle, die nach dem Leben angefertigt wurden — in industrieller Massenproduktion —, auf gröbste Weise, nämlich mittels einer Säge, zu demontieren. Das Leben, das nur in einer ausgesuchten, verkleinerten und industriell hergestellten Version dem Menschen vermittelt wird, z.B. via Fernsehen, zerstört er, setzt es aber auch wieder zusammen, um die Beliebigkeit des möglichen Umgangs mit ihm zu demonstrieren.

Der gottgleiche Künstler, der Leben schaffen kann durch seine Kunst, ist in der Selbstdarstellung und Selbststilisierung ein häufiges Thema in der Kunstgeschichte, etwa bei Dürer im berühmten Selbstportrait der Münchener Alten Pinakothek bis hin zu formal anderen, inhaltlich aber ähnlichen Motiven bei Joseph Beuys. Eine weitere Variante künstlerischer Selbstdarstellung bot Giorgione, der sich als David konterfeite. Von dem ursprünglichen Bild wurde die untere Hälfte, die den Kopf Goliaths zeigte, abgeschnitten. Es zeugt vom Selbstbewußtsein des Künstlers und vom Selbstverständnis seiner Profession, wenn er sich — und damit der Kunst — die Rolle Davids als des Siegers über Goliath zuweist. Giorgione stellte sich nicht in Siegerpose dar, sondern zwar entschlossen, aber mit einer Miene, die Melancholie, fast Trauer verrät.

Die Reflexion darüber, was Kunst bewirken kann, und darüber, daß eine scheinbar wehrlose, im Gesellschaftsgefüge schon zu Giorgiones Zeiten relativ zwecklose, für die Zirkel der Gebildeten der Unterhaltung und Erbauung dienende Institution denen überlegen ist, die sie auf welche Art auch immer usurpieren möchten, ist heute noch aktuell, findet aber ihren veränderten, der Zeit angepaßten Ausdruck.

Die Rolle des Künstlers bzw. der Kunst besteht, wenn wir Kaden richtig verstehen, darin, Pferdchen zu zersägen, das heißt, die sowieso schon verniedlichte Realität, wie sie uns suggeriert wird, zu demontieren. Als affirmatives Element dient der Zustimmung blasende Weihnachtsengel.

Mit den zersägten Pferdchen und dem Weihnachtsengel knüpft Kaden an sogenannte Ekeltechniken (Walter Grasskamp) an: «Es ist die Richtung, aus der auch die Vasen von Gerard Kever entlaufen sind und noch einiges folgen könnte: zumal mit Makramee und Ikebana die beiden Herzstücke der Volkshochschul-Kreativität noch ungenutzt brachliegen, wenn sich auch Adamskis Flokati-Gemälde und Jiri Georg Dokoupils Frottee-Bilder dem Textilbereich bis an die Allergie-Grenze genähert haben.» Nur sind diese Ekeltechniken inzwischen tatsächlich bis an die Grenze ausgereizt, und so ist Kaden folgerichtig wieder einen Schritt zurückgegangen. Seine Serie von Pferdebildern, die 1991 entstand, knüpft an Kaufhauskunst mit pseudotachistischem Einschlag an, also sowohl hinsichtlich der Technik als auch des Inhalts. Diese Methode ist unauffälliger, aber entlarvender als die Verwendung von Makramee. Sie greift die Kunst auf, die schon immer einen relativ hohen Verbreitungsgrad hatte und die im übrigen während einer Periode der deutschen Geschichte zur offiziellen Staatskunst erhoben war (gemeint ist nicht der sozialistische Realismus der ehemaligen DDR), und verfremdet sie leicht aber spürbar. In diesen Nuancierungen liegt die Wirkung der Bilder Kadens. Eine Rezensentin bezeichnete die Bilder als «gespenstig», womit sie, was das gängige Rezeptionsverhalten angeht, den Nagel auf den Kopf trifft. Gespenstig sind nämlich eigentlich die Vorbilder; Kaden zeigt es uns.

Zwar ist, wie der kürzlich verstorbene Soziologe René König völlig richtig festgestellt hat, unsere Zeit eine Zeit der Nuancen und nicht mehr der großen Gegensätze — man betrachte die politische Landschaft —, dem steht jedoch die verminderte Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen aufgrund der zunehmenden Nivellierung der Bilder gegenüber. Es ist ein Dilemma, in das sich ein Künstler wie Kaden heute begibt: Einerseits heißt es, der Künstler wolle nicht mehr der ästhetische Handlanger oder Propagandist einer gesellschaftlichen Utopie sein; auf der anderen Seite steht das permanent schlechte Gewissen dessen, der immer noch meint, Kunst müsse etwas bewirken.

Eine mögliche Auflösung dieses Dilemmas sehen wir auf der gegenüberliegenden Seite: den Rückzug des Künstlers auf sich selbst und seine Tätigkeit. Sein Werkzeug ist nicht mehr Pinsel und Palette, sondern die Säge. Er schlitzt auch nicht die Bilder wie Lucio Fontana, sondern er erprobt sich an vorgefertigten modellhaften und äußerst disparaten Wirklichkeitsfragmenten.

«Ihr versteht nicht, was wir tun, nicht wahr?
Nun, liebe Freunde, wir verstehen es noch weniger, na was für ein Glück, Ihr habt recht.» (Francis Picabia)

Ivo Kranzfelder

Laubacher Feuilleton 2.1992, S. 6

Siegfried Kaden: Arbeiten · Obras 1973 – 2007
Kaden/Willms: Stille Tage in Havanna
Kaden/Kranzfelder: Kleine Hippologie

 
Sa, 30.01.2010 |  link | (1977) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



Kunst und Naturerkenntnis

Bemerkungen zu den Arbeiten von Rudolf Wachter

«Kunst und Natur, die beiden großen Erscheinungen unserer Umwelt, einander so innig verwandt, daß eine ohne die andere nicht denkbar ist, werden sich nie in die Formel eines Begriffes zwingen lassen.» Das schrieb der Galerist Karl Nierendorf 1928 in der Einleitung zu dem Buch Urformen der Kunst von Karl Blossfeldt. Dieser war eigentlich Bildhauer, bekannt wurde er aber als Photograph. In dem Buch, dessen Entstehungszeit bis in die Jahre vor der Jahrhundertwende zurückreicht, sind Photographien von Pflanzen bzw. deren vergrößerte Strukturen abgebildet, vom Schachtelhalm bis zur Schafgarbe. Gedacht war es als Lehrmittelsammlung zum Studium und zum Nachbilden von Naturformen. Die Veröffentlichung der Urformen der Kunst fiel in eine Zeit, die den Höhepunkt eines gewaltigen internationalen Modernisierungsschubs bildete und die heute gleichgesetzt wird mit dem Begriff der Moderne — einmal abgesehen von jener Definition, die die Moderne mit der Aufklärung beginnen läßt. Nierendorf läßt in seinem Text den Geist dieser Zeit lebendig werden: «Sowohl unsere Architektur, Ingenieurbauten, Autos, Flugzeuge wie Film, Radio, Fotografie bergen phantastische Möglichkeiten hohen ästhetischen Ranges, und tausend Anzeichen beweisen, daß der so oft beklagte Sieg der Technik kein Sieg der Materie ist, sondern des schöpferischen Geistes, der sich nur in neuen Formen manifestiert.» Blossfeldt habe «den Nachweis gebracht von der nahen Verwandtschaft der vom Menschengeist geschaffenen mit der Naturgewachsenen Form». Alle gestaltete Form habe ihr Urbild in der Welt der Pflanzen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts versuchten die Jugendstilkünstler, eine sowohl vegetabile als auch geometrisierende, allgemeingültige Ornamentik zu schaffen. Gleichzeitig übte Adolf Loos scharfe Kritik am Ornament und propagierte einen formalen Purismus (Ornament und Verbrechen), der sich, um beim Beispiel zu bleiben, in der Architektur der zwanziger Jahre auch durchsetzte. Der Fotograf Brassaï griff in den dreißiger Jahren Blossfeldts Ansatz wieder auf, nur fotografierte er — in ähnlicher Verabsolutierung wie Blossfeldt — vegetabil-ornamentale Details der Métroeingänge von Hector Guimard in Paris. In seinem späteren Werk verband Guimard Funktionalität mit Ornamentik, ein Streben, das Wolfgang Welsch im Zusammenhang mit den Holzskulpturen Rudolf Wachters als Verbindung von «Empfindung und Rationalität» bezeichnet hat.

Bereits im Jungpaläolithikum ist gleichermaßen die Neigung zur Darstellung und die Neigung zur Abstraktion vorhanden. Während jedoch die figürliche Darstellung meist an den Kult gebunden war, darf man annehmen, daß die Ornamentik — trotz ihres Symbolcharakters — ein freieres Spiel der Phantasie zuließ. Man kann das Ornament auffassen als eine Grundform des künstlerischen Ausdrucks des Menschen. «Newgrange» hat Rudolf Wachter eine Reihe von Arbeiten, beginnend 1989, genannt, nach dem Fundort eines der größten Megalithgräber in Irland aus der Zeit etwa der zweiten Hälfte des vierten Jahrtausends vor Christus. Dieses sogenannte Ganggrab war reichlich mit ornamentierten Steinen versehen. Wachter greift nun diese Ornamentik nicht nur auf, sondern er macht etwas Neues daraus. Er vollzieht zum einen die Entwicklung, besser die Emanzipation des Ornaments vom Träger nach, es bekommt als Form einen Eigenwert, zum anderen verschafft er ihm durch die Wahl und Bearbeitung des Materials gewissermaßen ein Eigenleben.

Der, um es so auszudrücken, synthetische Charakter der Holzskulpturen Rudolf Wachters, also die harmonische Verbindung von Funktionalität und Ornamentik, Rationalität und Empfindung, verweist auf die Versöhnung oder Überwindung der gegensätzlichen ästhetischen Definitionen etwa eines Kant und eines Hegel. In der «Kritik der Urteilskraft» setzt Kant das, was er das «Naturschöne» nennt, klar vor das «Kunstschöne». Hegel hat diese Auffassung kritisiert, indem er, wie Rüdiger Bubner es formulierte, «dem Naturschönen nur noch den Rang eines Abglanzes des in Wahrheit geistigen Wesens des Kunstschönen» zuerkannte. Radikal hat etwa Marcel Duchamp das Kantsche Prinzip wörtlich genommen und damit einen Prozeß ausgelöst, der das, was bisher als ‹Kunstwerk› galt, bis zu seiner Auflösung führte, zum Beispiel in der Concept Art. Der radikale bilderstürmerische Akt Duchamps bestand darin, bereits die Auswahl eines beliebigen, schon vorhandenen Gegenstands als künstlerische Tätigkeit zu bewerten. Mit der ihm eigenen Ironie oder, wie er es selbst genannt hat, «Metaironie», versah er 1919 eine Reproduktion der Mona Lisa mit Schnurr- und Kinnbart. Aus dem Jahr 1965 stammt wiederum eine Reproduktion der Mona Lisa, diesmal bartlos, mit der Aufschrift «rasée», rasiert. Auch diese Geste hätte seinen Epigonen zu denken geben müssen.

Die gegenteilige, die an Hegel orientierte idealistische Position, die Kunstwerken einen höheren Rang zuweist als der Natur, legitimiert sich damit, daß Kunst die Aufgabe habe, die Naturdinge zu verbessern, und zwar in Hinsicht auf die Entsprechung der, wie Hegel es in der Ästhetik ausdrückt, wahrhaft konkreten Idee und der wahren Gestalt, wobei erstere die letztere hervorbringe. «Nimmt er [der Künstler; I. K. ] sich die Natur und ihre Hervorbringungen, überhaupt das Vorhandene zum Vorbild, so geschieht es nicht, weil die Natur es soundso gemacht, sondern weil sie es recht gemacht hat; dies ‹recht› aber ist ein Höheres als das Vorhandene selber.» — so Hegel. Um den Gegensatz zu betonen, sei noch eine andere Stelle zitiert, und zwar diesmal gegen Duchamp: «Nun könnte man sich vorstellen, der Künstler solle sich aus dem Vorhandenen die besten Formen hier und dort auserlesen und sie zusammenstellen oder auch, wie es geschieht, aus Kupferstich- und Holzschnittsammlungen sich Physiognomien, Stellungen usf. heraussuchen, um für seinen Inhalt die echten Formen zu finden. Mit diesem Sammeln und Wählen aber ist die Sache nicht abgetan, sondern der Künstler muß sich schaffend verhalten und in seiner eigenen Phantasie mit Kenntnis der entsprechenden Formen wie mit tiefem Sinn und gründlicher Empfindung die Bedeutung, die ihn beseelt, durch und durch und aus einem Guß heraus bilden und gestalten.»

Was nun das Ornament betrifft, das der eigentliche Ausgangspunkt war, so läßt sich bereits in der vorgeschichtlichen Kunst eine Entwicklung feststellen, die letztlich, zumindest beim nordischen Ornament wie in Newgrange, zu einer Isolierung und Verabsolutierung der einzelnen Motive führt, eine Entwicklung, die auf die Moderne durchaus übertragbar ist. Ohne einem «Primitivismus in der modernen Kunst» das Wort reden zu wollen, ist die Rückbesinnung auf archaische Strukturen im Werk Rudolf Wachters in zweifacher Hinsicht folgerichtig: einmal im Sinne von allgemein ordnender Tätigkeit nach Naturformen, wie man das Ornament begreifen kann; zum anderen im Sinne der eingreifenden Tätigkeit mittels der Technik — Technik hier in der Bedeutung von griechisch techne, lateinisch ars, deutsch Kunst.

Als ein wesentlicher Bestandteil gehört zu Wachters Tätigkeit neben der Technik die Beherrschung und Kenntnis des Materials, des Holzes. «Naturerkenntnis als menschliche Bemühung», so der Philosoph Peter Janich, «ist sicher so alt wie die menschliche Bemühung um Erkenntnis überhaupt, hat ihren Anfang in Zeiten, die von der Geschichtswissenschaft nicht mehr erreicht werden, und ist für die Anfänge menschlicher Zivilisation als eigener Teil wohl kaum von anderen Teilen menschlichen Erkennens abzutrennen.» Mit Hilfe der Erkenntnis und, daraus folgend, der Beherrschung des Materials zwingt Wachter ihm seinen Formwillen auf. Beherrschung des Materials meint in seinem Falle die Fähigkeit, ihm analog vorzugehen, nicht es zu zerstören, eine Antinomie, die als Möglichkeit jedem technischen Prozeß innewohnt. Wachter arbeitet mit Kettensägen, das heißt mit Instrumenten aus anorganischen Stoffen, mit, wie Arnold Gehlen es bezeichnete, «Organersatz», an organischem Material.

Der Werkstoff Holz als künstlerisches Ausgangsmaterial ist einigermaßen selten geworden. Wo er auftaucht, steigt leicht der Geruch einer ‹ökologischen Kunst› auf. Das liegt daran, daß der Mensch sich den natürlichen, organischen Stoffen entfremdet hat: «Als eines der wesentlichsten Resultate der gesamten Kulturgeschichte kann man den stets zunehmenden Ersatz des Organischen durch das Anorganische ansehen.» (Gehlen) So, wie Wachter sich auf die Urformen der Kunst zurückbesinnt, was ornamentale Strukturen und menschliche Erkenntnis angeht, so greift er auch auf ein Material, das Holz, zurück, das mittlerweile überwiegend durch Imitationen ersetzt ist — man denke an die Arbeiten Richard Artschwagers, die sich unter anderem um dieses Problem drehen.

Die Eigenschaften des Holzes implizieren Wachters Vorgehensweise, wobei überraschende Ergebnisse erzielt werden. Holz ist ein lebendiges Material, es arbeitet. Sein Zustand verändert sich mit den klimatischen Bedingungen. Diese Veränderung wiederum ist abhängig von der Bearbeitung seiner Struktur. Zentrale Elemente sind der Kern, die Längsfaser und die Jahresringe. Neben dem Material an sich muß die Form berücksichtigt werden, also beispielsweise der Wuchs des Stammes und der Äste. Aus Struktur und Form schafft Wachter Gestalt. Zu diesem Zweck bedient er sich bestimmter Methoden, die er einzeln oder in Kombination anwendet.

Ausgehend vom natürlichen Wachstum des Baumes hat Wachter Skulpturen entwickelt, in denen, aus einem Stück gearbeitet, kubische Formen miteinander kombiniert werden, sich überschneidende, aus einander im Wortsinne hervorwachsende stereometrische Körper. Er hielt sich dabei an die Astgabelungen der Bäume. Dieser Schritt stellt eine erste Abstraktion von Naturformen dar, ein ordnendes Eingreifen. Bereits hier ist das Verhältnis Naturschönes — Kunstschönes in eine Abhängigkeit umgewandelt. Es geht nicht um Nachahmung, sondern eine neue Form, besser Gestalt wird geschaffen — aber in Abhängigkeit von der Naturform: «An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei erscheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei.» Das schrieb Kant in der «Kritik der Urteilskraft».

Es folgen Einschnitte in die Naturform als Diagonalschnitte, Kernschnitte oder Schwundschnitte. Die Schnitte, die ins Herz, eben den Kern des Holzes vordringen, kalkulieren die Lebendigkeit, die materialimmanente und gleichzeitig von der Umgebung abhängige Veränderung des Holzes mit ein. Das Herausschneiden des Kerns oder das Vordringen zum Kern mittels der Kettensäge verhindert einmal, daß das Holz aufgrund von Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen gesprengt wird, und bewirkt zum anderen das Entstehen einer künstlerischen Form durch einen minimalen Eingriff, wie beim Schwundschnitt. Dieser, am Stamm entlang der Längsfaser bis zum Herz geschnitten, verursacht durch das Trocknen, das heißt eben durch den Materialschwund ein Auseinanderklaffen des Holzes, das ansonsten risse. Eine Kombination bildet das Entkernen, also das vollständige Herausschneiden des Kerns, und der Einschnitt in die übrig gebliebene hohle Rundform: Das Holz kann sich zurückziehen, der Schnitt wird zur Öffnung, deren Breite je nach Ambiente variiert.

Auch die Spiral- und Bandornamente der ‹Newgrange›-Serie, immer vom Herz ausgehend und immer die Rundung des Stammes berücksichtigend, sind ständiger Veränderung unterworfen. Die Kern- und Schwundschnitte nutzen in einzigartiger Weise die Eigenschaften des Materials. Die Auseinandersetzung Wachters mit dem Holz ist nicht einseitig, das Holz wird nicht überwunden, es wird nur gezähmt. Damit steht Wachter einer Auffassung entgegen, die beispielsweise 1953 Romano Guardini konstatiert hat: «Unser Verhältnis zur Natur ist durch das — mehr oder weniger klare — Bewußtsein bestimmt, ihr gegenüber gesiegt zu haben.»

Die Tätigkeit des Künstlers, besonders des Bildhauers, besteht zu einem großen Teil aus dem Kampf mit dem Material — nicht: gegen das Material —, ob es sich nun, wie bei Wachter, um mächtige Tropenstämme handelt oder um heimische Hölzer. Diese Auseinandersetzung spiegelt prototypisch das Verhältnis des Menschen gegenüber der Natur wider. Der Mensch hat sich, das wurde schon angedeutet, die Technik geschaffen, um seine natürlichen Mängel auszugleichen. dazu war er in der Lage aufgrund seines Intellekts, der ihm allerdings, wie Arnold Gehlen anmerkt, ein Rätsel bleibt, «aber diese wäre ein vollständiges, wenn man sie [die Intellektualität; I. K. ] nicht im Zusammenhang mit den Mängeln seiner Organ- und Instinktausstattung sehen könnte; denn diese Intellektualität nimmt ihm den Zwang zur organischen Anpassung ab, dem die Tiere unterliegen, sie befähigt ihn umgekehrt zur Veränderung der urwüchsigen Umstände bis zur Tauglichkeit für ihn.» Diese aus der Intellektualität des Menschen heraus entstandene Technik ist mitnichten der Gegenpol zur Natur, sondern ist, wie der Mensch, ein Teil von ihr. Gehlen bezeichnet die Welt der Technik ebenso wie den Menschen als «nature artificielle». So könnte man auch die Holzskulpturen Rudolf Wachters charakterisieren.

Wenn der Jugendstil und sein Hang zum Ornament erwähnt wurden, so meint dies im Zusammenhang mit Wachter nicht allein den ästhetischen Eskapismus dieser Bewegung, kein «Paradis artificiel», sondern es ist eher gedacht an die Verweigerungshaltung gängigen gesellschaftlichen und damit geschmacklichen Mustern gegenüber, an die Modernität dieser Bewegung, deren sezessionistische Ausrichtung. Jost Hermand hat in einem Aufsatz die Verwandtschaft der ästhetischen Revolte der sechziger Jahre mit dem Jugendstil und die Gründe für die Rückbesinnung auf ihn dargelegt. Es ging damals, vor nunmehr ungefähr dreißig Jahren, auch um ein neues Naturverständnis in Verbindung mit der Idee einer gesellschaftlichen Utopie: «Und so taucht auch in ihren literarisierten Träumen immer wieder jener ‹edle Wilde› auf, der noch in völliger Übereinstimmung mit der Natur lebt, der noch instinktiv weiß, was er zu tun und zu lassen hat — und dafür keine besonderen Gebote oder Gesetze benötigt.» (Hermand) Heute ist das Ende der Utopie angesagt, dementsprechend wird «Kunst zu Kunstmarktkunst» (Hans Platschek). Es herrscht die Unverhältnismäßigkeit der Mittel, die ideologische Deformation (Roland Barthes), der Kitsch.

Gegen in Nabelschau ausartenden Subjektivismus, gegen Kitsch als Lebensform, auch gegen die Trivialromanze vom «edlen Wilden» setzt Wachter seine Skulpturen. Er zeigt uns elementare Zusammenhänge modellhaft auf, erinnert daran, daß Künstliches und Natürliches — Kunstschönes und Naturschönes — nicht zwei gegensätzliche Begriffe sind, ebensowenig wie übrigens Aufklärung und Romantik. Novalis beispielsweise, der nicht reduzierbar ist auf seinen Roman Heinrich von Ofterdingen, hat an der Bergakademie in Freiberg in Sachsen Berg- und Hüttentechnik studiert, damit genaue Kenntnisse in chemischer und mechanischer Technologie erworben. In der Nachfolge der Enzyklopädisten hat er während seines Studiums Fragmente zu einer Enzyklopädie niedergeschrieben, die, aufbauend auf seinem technologischen Wissen, sich mit der Kunst des Machens, also der Poesie im ursprünglichen Sinne, beschäftigen. Über das Verhältnis von Werkzeug und Stoff, deren gegenseitige Abhängigkeit, hat er notiert: «Jedes Werkzeug modifiziert also einerseits die Kräfte und Gedanken des Künstlers, die er zum Stoffe leitet, und umgekehrt — Widerstandswirkungen des Stoffs, die es zum Künstler leitet.»

Ivo Kranzfelder

Laubacher Feuilleton 13.1995, S. 8

Siehe auch die Rede zu einer Ausstellungseröffnung von 1994.

 
Mo, 21.12.2009 |  link | (2501) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



Für Anselm Baselitz

Johann-Karl Schmitt*

Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der schöne Kleider so ungeheuer gern hatte, daß er all sein Geld ausgab, um recht geputzt zu sein. Er machte sich nichts aus seinen Soldaten, machte sich nichts aus dem Theater und auch nichts daraus, in den Wald hinauszufahren, es sei denn, um seine neuen Kleider zu zeigen. Ob die Bearbeitung der Erkenntnisse, die zum Vernunftgeschäfte gehören, den sicheren Gang einer Wissenschaft gehe oder nicht, das läßt sich bald aus dem Erfolg beurteilen. Wenn sie nach viel gemachten Anstalten und Zurüstungen, so bald es zum Zwecke kommt, in Stechen gerät, oder, um diesen zu erreichen, öfters wieder zurückgehen und einen anderen Weg einschlagen muß; im gleichen wenn es nicht möglich ist, die verschiedenen Mitarbeiter in der Art, wie die gemeinschaftliche Absicht erfolgt werden soll, einhellig zu machen: so kann man immer überzeugt sein, daß ein solches Studium bei weitem noch nicht den sicheren Gang einer Wissenschaft eingeschlagen, sondern ein bloßes Herumtappen sei, und es ist schon ein Verdienst um die Vernunft, diesen Weg wo möglich ausfindig zu machen, sollte auch manches als vergeblich aufgegeben werden müssen, was in dem ohne Überlegung vorher genommenen Zwecke enthalten war.

Gegendarstellung (Anselm Baselitz): Ihr Bericht in Ihrem letzten Informationsdienst KUNST (Nr. 96) über mich entspricht in einem erstaunlichen Grade der Unwahrheit. Richtig ist, daß mir Pods, ter Hell, Fetting, Lindemann und Middendorf aus früheren Geschäftsverbindungen jeder noch weit über eine halbe Million Reichsmark schulden. Es ist daher nur angemessen, wenn ich jetzt auch einmal an mich denke. Richtig ist, daß Leute wie Baselitz, Lüpertz, Szczesny, Dokoupil, Adamski, Dahn — nicht zu sprechen von den Galerien Carsten Werner, Michael Greve, Hans Nothelfer, Georg Mayer, Claudia Kopper, Hilmar Schiffer, um nur einige zu nennen, mich jahrelang nach allen Regeln der Kunst eiskalt benutzt und abgezogen haben. Ich habe nur ein Minimum von dem erhalten, was die ideenmäßig und finanziell von mir profitiert haben. Richtig ist, daß das, was Sie mir unterstellen, gerade von Hödicke, Stöhrer, Bach, Zimmer, Kuchei, Immendorff, Liebmann und vielen anderen gilt. Sie sollten sich, bevor sie sich weiterhin derart unsachgemäß über mich äußern, einmal anschauen, wie die mit jungen Kollegen umspringen. Zweitens. Beachten Sie doch bitte, auf welch unverschämte Weise sich die Wirtschaft gegenwärtig der Kunst bemächtigt — jüngstes Beispiel: «Das Ende der Avantgarde — Kunst als Dienstleistung» eine Ausstellung der Hypokunsthalle in München. Wohl mehr eine schlechte als rechte Antwort auf die schwierige Ausstellung im Münchner Stadtmuseum «Die Angestellten». Auch geht es doch eher um den hehren Kunden, dessen 0-8-15-Ideologie man hinterhertapst, als um Kunst. Von Avantgarde spreche ich schon gleich gar nicht. Die Hypokunsthalle hat ja prompt der Mut verlassen, nachdem als Reaktion auf die Tinguely-Ausstellung! vor Jahren einige potente Kunden aus Empörung das Konto gekündigt haben. Auch hier also: man dreht es und windet sich, schiebt den Schwarzen Peter weiter und interpretiert das Ganze geschichtlich — positiv! versteht sich. Man hält sich wie Wolfgang Flatz alias Anselm Baselitz, alias Anselm Baselitz, alias Anselm Baselitz, alias Anselm Baselitz, um nur fünf besonders krasse Beispiele aus München zu nennen, an die Trittbrettfahrer — und an die Ohrenaugenzumethode. Ein Letztes. Die Ruhrgas AG — Herr Achim Middelschulte! — wie hat doch er seinerseits den Direktor vom Folkwang Museum in Essen — Herrn Georg W. Költzsch — mitten in seiner Rede jäh unterbrochen und vom Rednerpult gedrängt: «Jetzt lassen Sie mich mal!» Was Sponsoring alles gestattet! «Jawohl der Impressionismus geht auf die Entdeckung der Elektrizität zurück!» Man muß heute voll im Sinne Kants, auf empirischer Ebene, versteht sich, sprechen: «Die Bedingung der Möglichkeit ist heute die Bedingung ihrer Unmöglichkeit — unmittelbar!»

Und dann ging der Kaiser in der Prozession unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und an den Fenstern sagten «Gott, wie unvergleichlich des Kaisers neue Kleider sind! Welch schöne Schleppe er an seinem Kleid hat! Wie himmlisch es sitzt!» Aus dem Katalogvorwort zur Ausstellung «Kunst und Alltag — Alltag und Kunst», herausgegeben von Karl Mannheim, Theodor W. Adorno und Max Scheler. Helmut Schelsky, Die Lüge der Kritik in der annähernd totalen Unmittelbarkeit. ... Diese Diskussion um die Kunstbetriebskunst (Künstler, Sammler, Galerist, Museum, Geld) hätte in den 80er Jahren oder noch besser in den 70er Jahren geführt werden sollen. Heute ist sie lediglich der schale Beweis, daß die Kunst der 90er Jahre, um hier Markus Brüderlin voll zu bestätigen (vgl. Das Wiederschreiben von Malerei oder der gemalte Diskurs, Ornamentale Strategien in den malerischen Konzeptionen von Axel Kasseböhmer, Klaus Merkel und Thomas Werner, fin Nr 8, Mai/Juni 1994, Hrsg. Kunsthalle St. Gallen), sich mit Banalitäten, Binsenweisheiten, historischen Tautologien abgab (jüngstes Beispiel vgl.: Gespräch; Sammler versus Museum, Rüdiger Schöttle, Justin Hoffmann, Ingrid Goetz, Rainer Jacobs, Rudolf und Ute Scharpff, Michael Wottrich, Boris Groys, in: Kritik, Zeitgenössische Kunst in München 2/95, Seiten 16 - 51), sich hoffnungsvoll und parasitär zugleich, blind und kritiklos dem Medium Malerei ergab und darin verschwand. Sie war ein bloßer Reflex gesellschaftlicher Umstände, sprich technologischen sogenannten Neuerungen. Sie beschäftigte sich, auf sich selbst zurückgeworfen, ausschließlich mit sich selbst. Zu einer eigenständigen Kraft im gesellschaftlichen Vektorengefüge durfte sie gegenwärtig nicht in der Lage sein gerade auch deshalb, weil diese Diskussion Sprache eines rigorosen Mißverständnisses an sich hervorkehrte, nicht eine wirkliche Analyse der Zeit, die es keineswegs mit der Soziologie aufnahm, auch wenn sie so tat. Stupid formuliert: es fehlten ihr doch einfach die Voraussetzungen. Hier handelt es sich nur um einen naturwüchsigen, unbegriffenen Kunstausflug am Sonntagmorgen. Wahrscheinlich sollte die Kunst wieder zu einem bloßen Attribut anderer Kräfte gemacht werden. Diese Anderes darstellenden geistige Lebensform findet sich allerdings immer wieder, wenn ... . «Aber er hat ja nichts an!», sagte ein kleines Kind. «Herrgott, hört des Unschuldigen Stimme!», sagte der Vater; und der eine flüsterte es dem anderen zu, was das Kind gesagt hatte. «‹Er hat nichts an», sagt da ein kleines Kind, «er hat nichts an!» «Er hat ja nichts an!», rief zuletzt das ganze Volk. Und das kroch in den Kaiser, denn ihm schien, sie hätten recht; aber er dachte: Jetzt muß ich während der Prozession durchhalten. Und dann hielt er sich noch stolzer, und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war. Wir haben oben die Dialektik überhaupt eine Logik des Scheins genannt. Das bedeutet nicht, sie sei eine Lehre der Wahrscheinlichkeit, denn diese ist Wahrheit, aber durch unzureichende Gründe erkannt, deren Erkenntnis also zwar mangelhaft, aber darum doch nicht trüglich ist, und mithin von dem analytischen Teile der Logik nicht getrennt werden muß. Noch weniger dürfen Erscheinungen und Schein für einerlei gehalten werden. Denn Wahrheit oder Schein sind ihr nicht Gegenstande, sofern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, so fern er gedacht wird. Man kann also zwar richtig sagen: daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie jederzeit richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen. Daher sind Wahrheit sowohl als Irrtum, mithin auch der Schein, als die Verleitung zum letzteren nur im Urteile, d. i. nur in dem Verhältnisse des Gegenstandes zu unserem Verstande anzutreffen. Alle Leute konnten sehen, wie beschäftigt sie mit der Anfertigung der neuen Kleider des Kaisers waren. Sie stellten sich, als ob sie das Zeug von den Webstühlen nähmen, schnitten mit großen Scheren in der Luft herum, nähten mit Nähnadeln ohne Faden und sagten endlich, «Sieh, nun sind die Kleider fertig!»

Autor* ist nicht
Johann-Karl Schmitt eben nicht alias Johann-Karl Schmidt, seinerzeit Leiter des Stuttgarter Kunstvereins, sondern ein in den Neunzigern die Kunstwelt irritierender Aktivist, der sich einiger fröhlicher Mittel bediente und dessen Identität preiszugeben nach so langer Zeit wir uns nun getrauen.

Laubacher Feuilleton 16.1996, S. 2

 
Fr, 18.12.2009 |  link | (1836) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



Alkmona

Über die Arbeit von Wolfgang Gerner

Als eitel, mächtig, städtisch, kreativ, tapfer, listig, blond, unregierbar, mystisch, reich und barbarisch — so beschrieben die Veranstalter der großen Keltenausstellung in Rosenheim 1993 dieses Volk, versahen ihre Liste an Adjektiven jedoch vorsichtshalber mit einem Fragezeichen. Richard W. B. McCormack bemerkt demgegenüber in seiner Ethnographie Tief in Bayern: «Gerade norddeutsche Ethnologen setzten ob der reizbaren Gemütsart des Stammes in ihren ‹field notes› ein Ausrufezeichen vor Bayern, wie bei den !kung, einer Sprachgruppe im afrikanischen Busch.» Lange dauert der Streit schon an, ob die Bayern keltischer oder aber germanischer Abstammung seien, ausgehend von einer Scherbe mit der griechischen Inschrift BOIOS aus dem Oppidum von Manching. Diese Auseinandersetzung wollen wir hier weder wiedergeben noch gar ausfechten. Es sei zum Verständnis der folgenden Bemerkungen und vor allem der in diesem Katalog abgebildeten Arbeiten nur noch festgehalten, daß Wolfgang Gerner aus Parsberg stammt, also aus einer Gegend mit reicher materieller Kultur (was die archäologischen Funde betrifft), die eindeutig auf die Kelten hinweist. Alkmona war der bis ins Mittelalter hinein gebräuchliche Name für die Altmühl.

Nun sind die Motive, Ornamente und Formen, an die Gerner sich anlehnt, weder rein keltischen Ursprungs noch beschränken sie sich auf die Zeit keltischer Besiedelung. Es war immer ein Anliegen von Forschern wie Aby Warburg, Fritz Saxl oder Rudolf Wittkower, die Kontinuität und gleichzeitig den Wandel von Symbolen oder symbolischen Formen durch verschiedenste Kulturkreise und Epochen hindurch zu belegen. Dabei stellte sich heraus, daß bestimmte Darstellungen in verschiedensten Kulturkreisen vorkommen oder daß sie plötzlich verschwinden und nach Jahrhunderten wieder auftauchen — natürlich in der jeweils zeitspezifischen Form und Bedeutung. Die Gründe hierfür sind weit gestreut und lassen sich aufgrund des Fehlens schriftlicher Quellen oft nicht benennen. Im vorliegenden Fall dürfte der Volksglauben eine große Rolle spielen, manche Gebräuche wie das Wasservogelsingen gibt es bis heute.

Überdies ist die Frage nach der Herkunft eines Stammes oder Volkes müßig, denn ‹reine› Rassen, diese Anschauung hat sich, so ist zu hoffen, durchgesetzt, gibt es nicht. Insofern ist die Diskussion, ob die Bayern nun eher keltischen oder germanischen Ursprungs sind, natürlich hauptsächlich eine anachronistisch ideologische. Wenn man bedenkt, daß die Kelten sowohl vom mediterranen Süden, etwa den Etruskern, beeinflußt wurden, als auch ihr Ideen- und Formenschatz in den germanischen Norden ausstrahlte, dann erweisen sich ein Bestehen auf Germanentum gleichermaßen wie eine Keltomanie als absurd.

Im Jahr 387 v. Chr. schlugen die Kelten das römische Heer an der Allia, plünderten und brandschatzten Rom ein Jahr später. 279/78 drangen sie bis nach Delphi vor, in der Folge bis ans Schwarze Meer und nach Kleinasien. Sie besiedelten im Westen Spanien — daher der Name Keltiberer —, im Norden Britannien und Irland.

In christlicher Zeit setzte sich der keltische Einfluß durch die Missionstätigkeit irischer Mönche auf dem Festland fort, sie kamen bis nach Palästina und Syrien. Das Kloster St. Gallen ist eine irische Gründung aus dem Jahr 613. Irische Mönche lehrten am Hofe Karls des Großen.

Nun ist nicht nur die geographische Ausdehnung keltischer Besiedelung zur Latènezeit ein Indiz für eine im Rahmen der damaligen Welt internationale Mischkultur — es sei nebenbei auf östliche Einflüsse etwa über die Seidenstraße verwiesen —, sondern ein historischer Schnitt zeigt beispielsweise über bestimmte Motive in der romanischen Plastik das Nachleben keltischen Formenschatzes, im Volks- oder Aberglauben bis heute wirksam.

Der Verlauf, den Wolfgang Gerners Arbeit in den letzten Jahren nahm, war konsequent. Er beschäftigte sich über eine lange Zeit mit dem Thema Landschaft, ist dann in die geologischen Strukturen vorgedrungen und landete in letzter Konsequenz unter der Erde. Begreift man das Ornament als das Ergebnis eines Strebens, Naturformen in eine Ordnung zu bringen, so ist es plausibel, wenn Gerner eine Ganggrabstruktur der Jungsteinzeit aus der Bretagne als Ausgangspunkt nimmt. Aus dieser Urform eines spiralförmigen Ornaments entwickelt er Tierornamentik und anthropomorphe Formen, die dann eine symbolische Bedeutung bekommen. Die äußere Form, die Umrißform, korrespondiert mit den kleinteiligen Formen in deren Innerem. Der Pinienzapfen als Fruchtbarkeitssymbol enthält etwa die Darstellungen eines Baumes — in Anlehnung an den keltischen Baumkult —, eines Ebers, einer stilisierten Frauengestalt oder der sich in den Schwanz beißenden Schlange.

Rudolf Wittkower hat dem Motiv von Adler und Schlange eine längere Abhandlung gewidmet, und dieses Symbol und seine wechselhafte Geschichte von den Babyloniern bis ins 20. Jahrhundert verfolgt. Er stellt fest, «daß dasselbe Bildsymbol, wenngleich es stets gleiche fundamentale Gegensatzpaare zum Ausdruck bringt, in jedem einzelnen Fall eine ganz eigene Bedeutung in seinem speziellen historischen Umfeld besitzt». Die Absicht des Künstlers, in unserem Falle Wolfgang Gerners, ist es nicht, eine Geschichte des Symbols darzustellen, sondern er versucht, der archaischen Formgebung nachzuspüren, wenn er aus der vereinfachten Form gegenübergestellter Adlerkrallen das Bild einer Schlange herausdestilliert.

Über ein anderes signifikantes Motiv hat sich Fritz Saxl geäußert, es handelt sich um eine Figur mit jeweils einer Schlange in jeder Hand. Die früheste bekannte Darstellung stammt aus Mesopotamien, aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. Es taucht, in immer wechselnden Bedeutungen, auf in Ägypten — vermutlich aus Syrien importiert —, dann am Anfang unserer mediterranen Zivilisation in Kreta, schließlich in Griechenland beim Dionysos-Kult. In mehr als tausend Jahren Christentum kommt es nicht mehr vor, bis man es im 12. Jahrhundert als ‹Herr der Tiere› in Frankreich, England und Deutschland wieder findet, nicht in Italien, wie es zu vermuten gewesen wäre. Es liegt in diesem Fall nahe, eine Verbindung zu heidnischen Kulten in diesen von den Kelten besiedelten Gebieten herzustellen, wobei noch einmal betont werden muß, daß es sich nicht um ein genuin keltisches Symbol handelt. Worauf hingewiesen werden soll, ist die Tatsache, daß sich Traditionen auch in einem lokal begrenzten Bereich fortsetzen, daß beispielsweise im Christentum sich heidnische Kulte nicht nur allgemein, sondern auch punktuell niedergeschlagen haben. Auch der Widderkopf, Attribut der keltischen Dreikopfgottheit, findet sich an romanischen Kirchen in vorwiegend einst von Kelten besiedelten Gebieten. Die Liste ließe sich fortsetzen, erinnert sei nur noch an St. Jakob in Regensburg, dessen Plastik einer Untersuchung in Hinblick auf heidnische Elemente keltischen Ursprungs wert wäre.

Es ist die grundsätzliche Frage nach unseren eigenen Wurzeln, die Wolfgang Gerner stellt. Ein sogenannter Primitivismus in der modernen Kunst, wie wir ihn zum Beispiel mit Gauguin, Picasso, Matisse, Modigliani oder in Deutschland mit den Expressionisten der Brücke verbinden, wird mit einem genuin ästhetischen Interesse erklärt und damit zu verharmlosen versucht. Es fasziniert das Andere, das Rätselhafte, das Unzugängliche, das Magische. Das ist der Grund, warum sich die Rückwendung zu sogenannter primitiver Kunst fast auschließlich auf Afrika und Ozeanien bezog. Ein wesentlicher Aspekt dieser Vorliebe für außereuropäische Kulturen und deren magische Gebräuche ist die Abgrenzung: Es sind immer die Wurzeln der anderen, die man bewundernd, aber letzten Endes verständnislos anblickt. Es ging um die Suche nach dem Archaischen schlechthin. «Hilflos negert der Unoriginelle» — wie Carl Einstein sagte.

Nun reproduziert Gerner nicht einfach vorgefundene Elemente, sondern er setzt sie um. Die Bronzeplastik mit dem Titel Alkmona stellt ein Mischwesen dar aus einem angedeuteten Stierkopf, einer Art Rückenflosse oder Schweif und elefantenartigen Beinen. Diese Fabelgestalt wurde von den verschiedensten ausgegrabenen Kultgegenständen inspiriert, eine große Rolle dabei spielte der Bronzestier von Weltenburg. Der Stier nun, folgt man Friedrich Theodor Vischer, wird durch den Vergleichspunkt seiner Stärke und Zeugungskraft zum Symbol der Urkraft, aber mit dieser verwechselt und infolgedessen als heilig verehrt. Es wird die Frage aufgeworfen nach dem Unterschied von Sein und Bedeutung. Der Künstler, der mit solchen Symbolen arbeitet, befindet sich in der Mitte zwischen kultischer Handlung und distanziertem Bildbegriff. Diese Spannung, die mitnichten ein rein ästhetisches Problem ist, gilt es bei der Betrachtung immer zu berücksichtigen.

Das Material, mit dem Gerner bei sämtlichen hier gezeigten Arbeiten operiert, ist der Stein, sind, genauer gesagt, Solnhofener Platten. Diese stammen, wie der Name schon sagt, aus der Gegend der Funde aus keltischer Zeit, die Gerner inspiriert haben. Ausgehend von der in den Stein eingegrabenen spiralförmigen Struktur bis hin zu bearbeiteten Kultsteinen, die bei Hallstatt-Gräbern gefunden wurden, bekommt das Material selbst die Funktion eines Bedeutungsträgers.

Wie die archäologischen Funde nahelegen, und wie es von antiken Schriftstellern überliefert ist, waren die Kelten ein farbenverliebtes und putzsüchtiges Volk. Man muß, nebenbei gesagt, bedenken, daß schließlich auch die klassischen griechischen Statuen nicht nur farbig, sondern geradezu bunt gefaßt waren. Die schrille Aufmachung der keltischen Krieger — der Kampf hatte für sie eine rituelle Dimension — stürzte nicht umsonst die Römer für lange Zeit in Angst und Schrecken. Die Farbigkeit keltischer Kleidung oder des Schmucks reflektiert Gerner im jeweiligen Grundton der Steine oder in der Farbigkeit der Lithographien. Ebenso wie die Steine als Bildträger mit dem in sie eingegrabenen Inhalt des Bildes korrespondieren, bezieht sich die Farbgebung auf entweder den Symbolcharakter der Darstellung oder das Material des Vorbildes — so ist etwa die Form eines goldenen Halsreifes mit einem dem Material nahekommenden Grundton unterlegt.

Im Zusammenhang mit kultischen Ritualen der Kelten spielen Anthropophagie und kultischer Kannibalismus eine Rolle. Menschenopfer sind von Caesar bezeugt. Die phantasievolle Bilderwelt der Kelten mit ihren Misch- und Fabelwesen einerseits und die grausamen Rituale ihres Kults andererseits erscheinen heute als Antagonismus, letztere als barbarisch. Dabei sollte man bedenken, was Aby Warburg in seinem Vortrag über das Schlangenritual bei den Pueblo-Indianern bemerkte: «Und doch waren vor 2000 Jahren gerade in dem Ursprungsland unserer europäischen Bildung, in Griechenland, Kultgewohnheiten im Schwange, die an verzerrter Kraßheit das, was wir bei den Indianern sehen, noch übertreffen.» Ähnlich steht es mit den Kelten. Die heutige zunehmende Subtilität der Barbarei in Form von moderner Leibeigenschaft und ökonomischem Kannibalismus zeugt mitnichten von einer höheren Stufe der Zivilisation, wie immer beeilt wird zu versichern. So weit sind wir in dieser Beziehung von unseren ‹barbarischen› Vorfahren nicht weg, allein von ihrer Phantasie könnten wir wieder etwas lernen.

Ivo Kranzfelder

Laubacher Feuilleton, 10.1994, S. 8

Eine reproduktionstechnisch einwandfreie Abbildung liegt leider nicht vor.

 
Fr, 13.11.2009 |  link | (2623) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



Zeigen, nicht bewerten

Selbst schon eine Kunstfigur geworden und damit den Gegensatz von Kunst und Leben auf radikale Weise aufhebend, ist Andy Warhol samt seinem Werk geeignet, einen riesigen Rezipientenkreis zu polarisieren. Zeigen, nicht bewerten — so könnte man seine Werkhaltung überschreiben, und dies macht sich auch das vorgelegte Buch zum Prinzip: nicht aus vorgefaßter Warte Belege sammeln, sondern erst einmal in unverkürzter Wahrnehmung die Entwicklungen Warhols, biographische Eigenheiten, Selbstäußerungen samt seiner Täuschungsversuche darzubieten, dabei sein Werk in Überschau vorzustellen wie auch Informationen über historische oder gesellschaftliche Kontexte zu geben.

Warhol besteht geradezu aus Legenden, deren Bildung er emsig betrieben hat. Dies wird einleitend rekapituliert und der Kult um den Popzaren dargestellt, ohne ihm selbst zu huldigen oder andersherum durch eine Philippika die Überhöhung noch einmal zu verstärken. Entwickelt wird das biographische wie auch künstlerische Material vielmehr im Sinne eines Künstlertypus, dessen Emanzipationsbestreben in Selbstauratisierung gipfelt, der sich aber gleichzeitig urteilsenthaltsam gegenüber seinen Werkinhalten zeigt. Und in diesem Sinne wird auch das sonst oft vernachlässigte Frühwerk in Entwicklungskontinuität gesehen: bereits seine Gebrauchsgraphik benötigt alles andere als Einfühlung, sondern gibt die Dinge als distanziertes Plakat in serieller Fertigung. Die Entwicklung des Factory -Gedankens aus dem Geist der anonymisierten Arbeitsteiligkeit wird gezeigt, und nicht zuletzt die gründliche Intention auf den Markt: dessen Vorgänge werden jubilatorisch von Warhol nachvollzogen, Coca Cola und Campbell's sind eben Inbegriffe von Waren, die immer halten, was das Etikett verspricht (oder androht). Doch bekommt auch der amerikanische Traum einen Knacks, denn die demonstrative Neutralität gegenüber tödlichen Vorgängen vermag diese noch an sich zu steigern, sei es in Flugzeugabstürzen, Selbstmorden, Jackie Kennedy vor und nach der Ermordung des Präsidenten oder serienweise elektrischen Stühlen. Und in dieser Phase sieht der Autor auch den stärksten kritischen Impetus Warhols. Indessen wird nicht verschwiegen, daß er in den folgenden kühleren Zeiten des Post-Pop (spätestens mit den malerischen Verschönerungen der Mao-Serie 1972) hierin nachläßt, daß er auch künstlerisch hinter seinen Innovationen in verschiedenen künstlerischen Disziplinen der 60er Jahre zurückbleibt und seine Factory immer mehr zum reinen Marketing-Büro verkommt.

Gerade die unauslotbare Haltung der désinvolture gegenüber dem (scheinbar) beliebigen Gegenstand, die Aufwertung der Lüge und der propagierte Individualitätsverlust sind Warhol oft zum Vorwurf gemacht worden. Unmöglich zu entscheiden, ob nun, wie vorherrschend an der amerikanischen Rezeption gezeigt wird, Alltagsdinge selbst wie Kultgegenstände gefeiert werden können als Höhepunkt einer umfassenden Demokratisierung, oder ob, wie in der europäischen (besonders: der deutschen) Variante, im Serienprinzip eine vorab kritische Absicht zu erblicken ist — beide Interpretationen erfahren bei Romain umfassende Belege. Warhol, der vielleicht konsequenteste Mann ohne Eigenschaften, der im Schatten junger Medienblüte zum reinen Voyeur wird, zum provokanten Kühlschrankdandy und Medium der Medien, läßt den Betrachter gänzlich ohne didaktischen Verweis und erzwingt Reflexion, die er selbst, offen apolitisch und verschwiegen katholisch (!), immer abgelehnt hat. Es wird aufgezeigt, daß erst hinter dem Konflikt der Interpretationen, also gerade in dieser Unentscheidbarkeit der von Warhol gelegten und verwischten Spuren, die Chance zu einem kritischen Sehen liegt. Die Hoffnung von Romains Interpretationsangebot basiert darauf, daß Pop Art alles zum Zeichen macht und damit auch die Zustände wandelbar erscheinen läßt: «Indem Pop Art sich der Bilder annimmt, etikettiert sie diese um.» Darin und in der Freisetzung des Lesers zu eigenem Urteil, das er mit diesem vorzüglichen Buch auf reiches Anschauungs- wie Untersuchungsmaterial gründen kann, werden dem Verächter wie auch dem reinen Apologeten der Kunst Warhols nachhaltige Denkanstöße gegeben.

Ralph Köhnen

Lothar Romain:
Andy Warhol
Bruckmann-Verlag, München 1993


Laubacher Feuilleton 8.1993, S. 10
 
So, 08.11.2009 |  link | (1581) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



Luis Meléndez

Das Stück Schinken sieht zum Greifen aus, nein: zum Hineinbeißen real aus, und das gleiche gilt für die Pflaumen, deren mehliger Überzug darauf hinweist, daß sie eben erst gepflückt worden sind. Wem angesichts der Gegenstände das Wasser im Mund zusammenläuft, liegt nicht falsch, vorausgesetzt, das Wasser im Munde hielte ihn nicht davon ab, sich eingehender mit dem Gemalten zu beschäftigen. Man kann, mehr noch, ein kleines Experiment veranstalten; man kann sich aus dem nächsten Feinkostladen ein ähnliches Stück Schinken sowie eine Handvoll Pflaumen besorgen und beides nebem die Abbildungen legen. Das Ergebnis ist ebenso paradox wie es gängigen Vorurteilen oder Lehrmeinungen widerspricht: der Schinken und die Pflaumen auf den Bildern muten ungleich wirklicher an als die wirklichen Dinge, genauer: das reale Stück Schinken und die realen Pflaumen wirken blaß.

Was ist hier passiert? Bleiben wir zunächst einmal bei den Beispielen Schinken und Pflaumen, obwohl die zusätzlichen Dinge in den Stilleben, der Tonkrug, der Holzlöffel, die Eisenpfanne hier und dort der Krug aus Talavera, das Brot, die Feigen und das kleine Holzfaß dazu beitragen, dank Materialkontraste die Materialien der benannten Beispiele zu unterstreichen. Der Schinken besteht aus Speck und durchwachsenem Fleisch, wobei oben die Schwarte eine nicht mehr auf Anhieb zu identifizierende Form abgibt. Allerdings bleibt sie, ihrer Genauigkeit wegen, auf den zweiten oder dritten Blick als Schwarte erkennbar. Ein zweiter oder dritter Blick setzt frei, in welchem Maß Fleisch und Speck im Schinkenstück einer raffinierten Übersetzung zu verdanken sind: Rot und Weiß kommen nicht mechanisch vor, sondern, einer alten Kompositionsregel gemäß. So, daß die intensiveren Teile, des Rots also des geräucherten Fleischs, vor dem neutraleren Weiß des Specks um ein Drittel zurücktreten. Akademischen Regeln folgt auch der Tonkrug, der die Vertikale beherrscht. Eine ähnliche Rolle spielt der Steinkrug im Stilleben mit den Pflaumen. Allein, solche Milchmädchenrechnungen, man kann sie auch Bauelemente nennen, sind als Auskunft zu spärlich.

Denn was verblüfft ist, abermals, das Greifbare, das Eßbare, die Lust des Malers und des Beschauers, in das zu beißen, was ja Malerei bleibt. Luis Meléndez hat von 1716 bis 1780 gelebt: er war reinen Geistes; kleine Tricks, das Auge zu täuschen, einen trompe d'œuil also herzustellen, kamen ihm nicht in den Sinn. Er hat mit der Aufmerksamkeit eines Forschers, wenn nicht eines Detektivs untersucht, was im Schinken das Schinkenhafte ist. Heute würde man statt ‹Schinkenhaftes› ‹Zeichenhaftes› sagen, und genau hier drängt sich eine Unterscheidung auf. Meléndez sieht, um beim Beispiel zu bleiben, den Schinken und nicht das Zeichen eines Schinkens: um allerdings dieses Stück Nahrungsmittel auf die Leinwand zu bringen, muß er es mit gebührender Aufmerksamkeit auf besondere Kennzeichen hin förmlich abklopfen. Als Fleischer hätte er da wenig Probleme; als Maler steht er vor einer doppelten Aufgabe. Er muß, auf der einen Seite, so pathetisch es auch klingen mag, in den Schinken kriechen, ein Schinken-Meléndez werden; auf der anderen Seite hat er der Malerei Tribut zu zollen, überspitzt gesagt: er ist vor seiner Staffelei ein Metzger und gleichzeitig ein diesen Metzger übertrumpfender Maler. Die Doppelstrategie geht so vor sich, daß Meléndez das Saftige des Schinkenfleischs leicht von Ornamenten durchsetzt in den Speck malt, dabei aber dem Rot dadurch eine Glätte verleiht, daß er es auf eine Weise abtönt, die den weißlich gehaltenen Speckteil als Kontrast versteht. Frappierend sind die Einzelheiten. Ob rechts im Speckteil etwas Rosa aufkommt, ob sowohl im Fleisch wie im Speck ein paar zurückgenommene Lineamente beim Beschauer das Wasser im Mund bewirken: die Buchstäblichkeit ist ein Kind der Darstellung und nicht, wie bei Akademikern und Kaufhausmalern, umgekehrt.

Zumal die Maltechnik über sich hinausspringt. Neben dem Stück Schinken liegen drei Eier. Der Schinken ist sozusagen mit spitzem Pinsel gemalt; die Eier hingegen geschwinder, naß in naß, sodaß ein glatteres Volumen entsteht. Der Belag auf den Pflaumen ist mit trockener Farbe aufgetragen, während der Steinkrug abermals naß in naß, mit einer leichten Lasur angelegt ist. Das Glanzlicht bleibt im Steinkrug gefangen; womöglich hat der Maler seinen Finger zuhilfe genommen. Aber auch in diesem Bild ist das Brot teils trocken, ja mit Punktierungen dargestellt, teils wieder, an der oberen Partie, in Übergängen vermalt. Die Feigen sind buchstabiert, das heißt: die besonderen Kennzeichen wieder detektivisch festgehalten.

Wie aber kommte es, wie Delacroix sagen würde, daß solche «wirklich charakteristischen Details» nicht auf Kosten einer «Einheit» gehen? Der dunkle Hintergrund kann dazu etwas beitragen, nicht zuletzt auch eine Virtuosität von seiten des Malers Meléndez, der das Gewerbe seines Vaters, Francisco Meléndez, womöglich wider Willen ausübte: das eines Miniaturisten. Es sieht jedoch so aus, als sei der Sohn einem Generalnenner gefolgt, dem ihm die Gegenstände, die Welt der Dinge, vorschlugen. Er hat sie mit einer Bescheidenheit gesehen, der man am besten mißtraut. Eine der Pflaumen, rechts im Vordergrund, wirft einen Schatten, der anders verläuft als andere Verdunklungen. Es handelt sich keineswegs um einen Schatten, es handelt sich um eine Verbindungsform. Die Welt der Dinge liefert Vorschläge: auch wenn man sich in sie begibt, lädt sie zu Abweichungen ein.

So wie Luis Meléndez im 18. Jahrhundert kann man heute nicht mehr malen. Jeder Food-Photograph ist imstande Motive dieser Art lecker zu knipsen. Die Binsenweisheit führt allerdings zu einer tieferen Bedeutung. Der Photograph steht hinter einer Maschine, die ihm obendrein ihr Auge leiht: die Nähe, das Greifen, die Begehrlichkeiten stellt er künstlich her. Wo Meléndez in den Gegenstand förmlich kroch, wahrt er Distanz. Es ist die gleiche Distanz, die moderene Maler vor ähnlichen, an Meléndez gemahnende Motive einhalten. Aus einem anderen Grund immerhin: sie haben nicht zuletzt infolge einer Skepsis den realen Dingen gegenüber, die Doppelstrategie aufgehoben, und zwar zugunsten der Malerei. Cézannes Birnen sind zwar als Birnen erkennbar; ihre Wirklichkeit aber besteht aus Farbe, Umriß und Tonalität. Braques Mandoline ist, wie Morandis Flasche, vollends ein Malvorwand, wobei das Malen auf die Sehweise einwirkt und umgekehrt. Skepsis hat den Maler Luis Meléndez nicht heimgesucht, obwohl er dazu mehr als einen Grund hatte.

Vor diesen eindringlichen Bildern versagt das Biografische. Trotzdem spielt es eine Rolle: es verzeichnet ein Scheitern. Meléndez wurde in Neapel geboren, drei Jahre nachdem die Stadt, neben den südlichen Niederlanden, Mailand und Sardinien, für Spanien verlorenging. Der Vater, ein asturischer Miniaturenmaler, hatte sich 1699 am Vesuv niedergelassen; 1717 kehrt die Familie nach Madrid zurück, wo Luis später die Akademie besucht, sich am Miniaturen- und Schmückgeschäft seines Vaters beteiligt, Schüler des französischen Portraitmalers Carle van Loo wird und Italien, namentlich Neapel und Rom, bereist. Nach seiner Rückkehr im Jahr 1753 verdient er sich den Lebensunterhalt als Bibelillustrator für die Kapelle im Königspalast.

Kurz: der Maler Luis Meléndez führte zunächst einmal die grave Existenz eines Kunsthandwerkers. Das Stilleben mit dem Schinken, den Eiern und dem Tonkrug ist um 1722 gemalt, das mit den Pflaumen und den Feigen dürfte im gleichen Zeitraum entstanden sein. Wie überliefert, wollte Meléndez ein «amüsantes Kabinett mit sämtlichen Nahrungsmitteln» zusammenstellen, «die das spanische Klima hervorbringt». Er bewirbt sich mehrmals um den Rang eines Hofmalers, ein vergebliches, ja sinnlosese Unterfangen, denn der erste Mann bei Hof in Sachen Kunst war niemand anderes als Anton Raphael Mengs, ein sogenannter Neoklassiker, ein Idol Winkelmanns und überdies einer der abstoßendsten Kunstdogmatiker, die es je gegeben hat. Seine Richtlinien hatte er 1762 unter dem Titel Gedanken über die Schönheit und den Geschmack in der Malerei zum Druck befördert, und es versteht sich von selbst, daß die irdischen Stilleben eines Luis Meléndez weder dem Geschmack, noch dem Schönheitsbegriff, geschweige den Gedanken dieses malenden Staatsanwalts entsprachen. Meléndez starb verarmt und so gut wie vergessen.

Hans Platschek


Laubacher Feuilleton 7.1993, S. 7
 
Di, 20.10.2009 |  link | (1696) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



Theoretiker des Unperfekten

Ein Gespräch mit Vollrad Kutscher

dbm: Wie bist du zur Performance gekommen? Was hat dich angeregt?

Vollrad Kutscher (vk): Ich fand es einfach das Interessanteste, was es im Moment gab. Wenn ich denke, die Happenings, die damals in den 60er Jahren liefen, das waren Sachen, wo die Kunst am pursten, am reinsten war. Da kam überhaupt nicht der Aspekt des Kommerzes rein, sondern es kam nur die künstlerische Haltung, die sich darin äußerte, diese Reduzierung auf den Moment. Die ganzen Diskussionen, die damals geführt wurden über die Reproduzierbarkeit der Kunst, und zwar von Benjamin unter diesen Aspekten mitsamt dem Politkram hintendran, das war in der Performance eigentlich weg. In der Performance hast du eine künstlerische Äußerung gehabt, die gab es einen bestimmten Moment lang, mit dem körperlichen Einsatz, das konnte witzig sein, das konnte dies oder jenes sein, es hat also eine Offenheit gehabt, und gleichzeitig war es auch am radikalsten als Kunstäußerung, deswegen hat es mich interessiert. Dann natürlich auch, weil ich vom Kasperltheater her kam, sowieso schon in den Straßen herumkam — das waren schon halbe Performances damals —, in den Straßen direkt gespielt habe, neben den Demonstrationen her, das war lebendig.

dbm: War es für dich eine besondere Form der persönlichen Äußerungen, also ganz stark vom Individuellen geprägt?

vk: Ja, das waren keine abstrakten, allgemeinen Überlegungen, sondern dadurch, daß es körperlich an dich gebunden war und an deine Geschichte, deine private und ganz persönliche Äußerung. Das war nicht so belastet wie die ganzen anderen Sachen. Wenn du die Malerei hattest, hattest du ja so einen Klotz an Kunstgeschichte gehabt. Gut, in der Performance gibt's auch Leute, zum Beispiel Dada, die haben da was angestoßen, das kannst du heute weitermachen. Ich hatte natürlich auch viel guten Kontakt mit Leuten, die damals auch Performances gemacht haben.

dbm: Das pflegst du ja nach wie vor, denkt man an deine Veranstaltungen, die du seit den 70er Jahren in deinem Atelier in Frankfurt machst.
Doch zurück: Ist es für dich auch heute noch eine besondere Form, sich innerhalb der Kunst zu äußern, diese Mischung aus Physischem, Psychischem und Mentalem? Offensichtlich hängst du dieser Gattung auch heute noch an.


vk: Inzwischen hat sich das geändert für mich. Ich mache Einzelperformances auch, aber ich liebe halt die Sache mit den anderen zusammen. Als Künstler arbeitest du normalerweise sehr stark nur für dich und bist dann auch dein eigener Herr und hast das Ergebnis dann auch vorliegen.

Aber wie sich das in der Zwischenzeit entwickelt hat, so in den 80er Jahren, mit diesen Gruppen oder diesem Kontakt zwischen den Künstlern, das war etwas, was für mich und was in der Kunst ganz wichtig ist, daß du einen Kontakt zum Publikum bekommst bzw. den Leuten nicht hermetisch was vor den Latz knallst und sagst, das ist es jetzt, das ist Kunst oder leckt mich am Arsch.

Die Haltung kann man zwar einnehmen, ist auch gut, wenn man diese Haltung hat. Ich sage mir, ich möchte die Leute verführen, ich möchte sie in etwas hineinführen, wo sie erstmal emotional oder freundlich angemacht sind, und dann kommen aber die Sachen hintennach, die absoluter sind, schärfer am Punkt sitzen, vielleicht auch in der Diskussion. Das ist auch bei meinen anderen Arbeiten so.

Ich habe eine Einladung vom Museum für moderne Kunst (Frankfurt am Main; Anm. d. Red.) vom Ammann bekommen zu dem, was er jetzt vorhat, dieses Umstrukturieren. Und mir ist das durch den Kopf gegangen, daß sämtliche Künstler, die er aus Frankfurt zusammengestellt hat, fast alle eine bestimmte Haltung haben, die er einnimmt. Aber die Haltung ist eine hermetisch asketische und deswegen häufig leicht unsinnliche; das reduziert sich, ist sehr reduktionistisch und sehr asketisch. Da kann der Ammann sich nachher als Vermittler einbringen, um das wieder zu vermitteln, was so ein introvertierter Spinner dann vor sich hindenkt, was auch okay ist, was ich auch schätze. Aber ich sage mir, es ist so eine Zuspitzung, genauso zugespitzt wie dieses ganze Milieu in Frankfurt in den anderen Bereichen, das ist Spezialistentum, eine Zuspitzung, wo die breite Sinnlichkeit, die man normalerweise in der Kunst auch kennt, wegradiert ist, nur noch zu einem dünnen Spitzenprodukt. Das halte ich für angepaßt, wie Bankertum. Deswegen mache ich meine Perfomances oder meine Arbeiten im Atelier vor diesem Hintergrund dagegen.

dbm: Wie weit spielt dabei die Kunst als gesellschaftlicher Prozeß eine Rolle? Ich weiß, daß das in diesen postmodernen Zeiten kein Begriff ist, aber wir haben ihn nicht vergessen. Ich nehme das wohl zu Recht von dir an, so wie ich nach wie vor der Meinung bin, daß Habermas recht hat mit seinem unvollendeten Projekt der Moderne — es ist ja wirklich viel zu wenig darüber nachgedacht worden. Aber wie weit ist die Kunst jetzt hier tatsächlich ein gesellschaftlicher Prozeß beziehungsweise interdisziplinäre Lösungsmöglichkeit?

vk: In der Folge von '68, gerade in der Zeit, wo ich auf der Kunstschule war und mich noch in die Politik eingemischt und meine Kunst zuhause gemacht habe, weil ich mir gesagt habe, ich habe es mir teuer erkauft, ich habe für mein Studium selber bezahlt und nicht vom Papa bezahlt gekriegt, um dann zu revoluzzern, also ich mache meine Kunst, weil ich das machen wollte, es hat mir Spaß und Lust gemacht und war für mich was ganz Zentrales; in dieser Folge war die Frage nach der Gesellschaft nie relevant. Daß man mit Kunst irgendwas hebeln könnte in der Gesellschaft, und dieser missionarische Gedanke, daß alles gesellschaftlich orientiert sein muß, mit diesem rigiden Standpunkt habe ich eigentlich immer Schwierigkeiten gehabt. Ich habe mir gesagt, Kunst ist nicht etwas, was dich sozusagen vergewaltigt oder sonstwas mit dir macht, sondern das ist eine Mitteilung wie Musik, eine unter vielen Mitteilungen, wie ein Buch, das du zur Hand nimmst. Das Buch kann dich packen, wenn du dich drauf einläßt, aber du kannst es genau so gut liegen lassen. Inwieweit hat ein Buch eine gesellschaftliche Relevanz? Es hat eine, wenn die Leute es lesen und wenn sie ein Bedürfnis haben; wenn sie aber keins haben, kann man es ihnen nicht reinwürgen. Aber es gibt trotzdem eine Haltung, die für mich mit der Gesamtperson verbunden ist. Du bist als Mensch ja nicht nur Künstler — reduziert —, sondern du bist als Mensch ein Zeitgenosse, in ein bestimmtes politisches System eingebunden, wo du Haltung beziehst, und das macht man als Staatsbürger. Bezogen auf das Fachidiotentum oder Spezialistentum, und ist es allerdings sehr gut gewesen nach den 60er Jahren, daß das aufgelöst worden ist, dieses zugespitzte Denken, daß diese Breite versucht worden ist, nämlich den Bezug von den unterschiedlichen Dingen herzustellen, die alle möglichen Spezialisten vor sich hin entwickeln. In der Zwischenzeit wird das ja auch in der Ökologiedebatte und sonstwo begriffen.

dbm: Innerhalb unserer Gesellschaft ist der Rückzug auf das Individuum sehr ausgeprägt, allerdings ohne daß das sonderlich reflektiert wird. Und in der Kunst wird fast nur noch in ‹Markt› gedacht. Die Kunst als Fragestellung scheint dahin.

vk: Ich sage mir, wenn ich heute ein Portrait male, könnte ich gut davon leben: ich mache eine Zeichnung, setze mich irgendwo in den Jahrmarkt, krieg' ich schnell einen Hunderter, oder mach' mit einem Photoapparat und kriege schnell ein bißchen Geld, oder mach' in Öl oder so. Dann fängt schon die Frage an: Welches Medium entspricht der heutigen Zeit? Mit welchem Bild bist du authentisch? Dann kommt das Moment der Wahrheit oder auch der Wahrnehmung rein. Die Stringenz in der Formulierung hinterher, das ist für mich auch eine Art von Politik. Daß sie nämlich in deiner Zeit, in deinem Bereich, eine Aussage machst, die der Zeit entsprechend ist, daß eine Ethik drinnen ist. Ich bin nicht Warhol, ich habe nicht diese Marktallüren.

dbm: Mir ist aufgefallen in der Arbeit von Lüneburg (in der Ausstellung Auf Bewährung; Anm. d. Red.), dem Hildebrandslied, daß da aus allen Ecken und Enden eine unglaubliche Aggressivität vorscheint. Der Text ist gehalten wie eine italienische Fußballreportage, eine Rundfunkreportage, die fast ein Dialog ist, auch in dem Versuch, die Stahlkugel mit Messer und Gabel zu fassen, dieses Hin und Her. Was hast du denn für ein Verhältnis zur Aggressivität, zur Gewalt?

vk: Ich habe beim Militär überhaupt erst mal gelernt, was Gewalt ist. Ich habe gelernt, zu kommandieren, und ich habe gelernt, daß man mit einer bestimmten Lautstärke, was ja auch eine Aggressivität ist, vorgehen muß, was sich ja verbal auch im Hildebrandslied äußert. Das hätte ich früher nie gekonnt. Ich habe aber beim Militär gelernt, eine bestimmte Rolle zu spielen. Eigentlich bin ich ein relativ harmloser Kerl, der sich so wie jeder andere geprügelt und seine Niederlagen und seine Siege errungen hat. Früher hätte ich gesagt, das wäre normal. Aber beim Militär lernt man das ja; das war für mich eine total irre Erfahrung. Ich war so ein surrealistisch seine Träume malender Kerl und kam dann zum Militär. Ich wurde da hin- und hergebeutelt in dieser Grundausbildung und mußte dann selber hinterher ausbilden. Ich habe dann den Leuten — ich fand das immer blöd, wenn da die Leute rumgeschrien haben und habe gesagt: Leckt mich am Arsch, oder seid ihr bekloppt — hinterher selbst solche Befehle geben müssen. Ich habe den Leuten das ganz normal gesagt, jetzt machst du das oder das. Das haben die Leute nicht ernst genommen. Das heißt, ich mußte lernen, meiner Stimme einen bestimmten Ausdruck zu verleihen, damit die Leute wußten: das ist Ernst. Die waren nämlich total geschockt, wenn ich ihnen gesagt habe, so geht das nicht, und sie hinterher die Konsequenzen gespürt haben. Das ist ja sowieso ein totales Rollenspiel. Die Leute beim Militär haben natürlich gedacht, weil ich aus einer Militärfamilie komme, deswegen müßte ich diese Militärsache auch machen. Mein Vater war sowohl Militär als auch Theologe, ursprünglich Militär, Berufssoldat in der Reichswehr, apolitisch natürlich, wie die Reichswehr sich verstannden hat. Dann hat er seinen großen Jammer hinterher gehabt und Theologie studiert in der Gefangenschaft. Dann wurde er Pfarrer. Und hinterher wurde er wieder Militär, '56.

dbm: Ich komme jetzt nochmal auf diese Assoziationspunkte Aggressivität und Gewalt im Hildebrandslied zurück. Inwieweit kommt das in deiner Arbeit insgesamt vor?

vk: In Performances zum Teil. Ich habe eine Performance gemacht, die Ersatz-Palast heißt, und da gibt es ein Band, das ständig spielt: das sind Hundebefehle. Da heißt es nur: Komm her! Kommst du hierher! Sitz! Down! Hau ab! Na los, lauf schon!. Hau ab! Hau ab! So geht das, die ganze Zeit, nur dieser Rhythmus, und dazu kommt das Lied Winterreise von Schubert mit dem weichen romantischen Moment, das halt in der Winterreise drin ist, im Depressiven auch, diesen depressiven Liebesgeschichten, die nicht funktionieren. Das taucht da drin auf, und während der Zeit, in der das abläuft, zeichne ich so einen Ersatz-Palast in der U-Bahnebene, einen Traum-Palast, der reflekiert, was Werte sein könnten: Es gibt Zimmer, die heißen Tor der Lauterkeit oder Brunnen der Torheit oder der Dummheit. Solche Geschichten sind in diesem Palast drin, die eigentlich ideelle Werte sind. Aber das passiert halt von dem Hintergrund der umgebenden Hochhäuser, dieser Banken, wo anders gehandelt wird. Die Leute, die sich in diesen Untergrundbereichen aufhalten, Ausländer, Arbeitslose, Heimatlose oder so, die werden dann noch reingemanscht. Es dreht sich also um Gewalt, wie ich sie selbst auch erfahren habe und wie ich sie auch weitergeben kann, aber in einer reflektierten Form, in einer Korrespondenz der Teile miteinander, zueinander.

dbm: Aggressivität als ein Ventil letztendlich?

vk: Das ist ein Ventil. Und für mich, muß ich sagen, liegt auch dieses Hildebrandslied auf so einer Ebene, weil da auch eine Emotionalität abläuft. Da wird gesagt, daß der Vater mit seinem Sohn sich nicht verständigen kann, sie sich schlagen müssen aus irgendwelchen Ehrenkodices und Verhaltensmustern heraus.

dbm: Du siehst deine Kunst als Formulierung einer Frage, als ein mögliches Modell für jemand anderen, die Arbeit zu rezipieren oder Entsprechendes daraus abzuleiten. Also ist die interpretatorische Möglichkeit freigestellt?

vk: Ja klar. Wie er das anwendet, das ist sein Bier. Er muß damit klarkommen, das ist auch offen angelegt in der Arbeit. Ich mache ja nicht ein Päckchen und sage, das und das will ich dir verklickern, sondern ich sage, ich nehme aus dem und dem Bereich so und so viele Dinge, die sich schichten und die komplex sind, die ich auch nicht lösen kann in dem Sinne, sondern die einfach so da sind. Und ich formuliere sie immer so. Deswegen kann man die Arbeiten auch unterschiedlich interpretieren.

dbm: Du hast ja sozusagen die ‹klassische› Ausbildung gemacht, Akademie et cetera. Du bist dann über die Performance mit den zeitgenössischen Medien Photographie, Film und Video in Kontakt gekommen?

vk: Nein, nicht über die Performance, sondern das ging eigentlich über die Entwicklung. In der Kunstschule war eine Kamera, und ich habe mich für Trickfilm interessiert, Zeichentrickfilm. Deswegen habe ich mir eine Kamera ausgeliehen. Später gab es dann eine Professur für Film an der Akademie, und ich fand das wichtig. Aber es hat mich nicht eigentlich interessiert, auch Photo überhaupt nicht. Ich konnte das schon früher, schon als Kind habe ich Photos abgezogen, das hat mich künstlerisch nicht interessiert. Später habe ich dann gedacht, warum auch nicht, ich kann doch mal ein Photo machen oder einen Film. Ich habe dann einen Film angefangen über die Stadt, aus meinen Arbeiten heraus, und ich brauchte dazu dann das Labor, weil ich im Film photographierte Hintergründe geplant hatte. Ich habe dann angefangen, mit Chemie draufzuspritzen und Atmosphäre zu schaffen. Dann brachte ich es zur Dokumentation, und aus der Dokumentation wurde eine Arbeit für sich, und aus dem Film und Super-8-Film wurde zum Schluß ein Video. Da hat sich so eines aus dem anderen entwickelt. Das kam nicht deswegen, weil ich gesagt habe, ich muß das Medium jetzt nehmen, sondern das Medium war einfach gekommen, also habe ich es genommen.

dbm: Hat diese zeitgenössische Art von Mischtechnik, wie man bei dir sagen könnte, einen formalen Grund? Bedienst du dich der unterschiedlichsten Medien, weil sie für deine Arbeit erforderlich sind? Hat deine Arbeit keinerlei Zielrichtung auf ein bestimmtes Medium hin?

vk: Ich bin so ein Hansdampf in allen Gassen. Das war lange ein Problem, das ich gehabt habe. Ich hab gesagt, was bist du für ein Arsch, alle anderen spezialisieren sich und sind dann Graphiker oder sind Maler oder Bildhauer; ich bin kein Bildhauer, ich bin kein Maler. Zeichner und Graphiker wäre ich, weil ich darin so lange gejobbt habe, aber im Prinzip bin ich es auch nicht. Photograph bin ich auch keiner, ich bin eigentlich nichts. Ich bin ein touche-à-tout (Hansdampf in allen Gassen; Anm. d. Red.), aber das à-tout heißt auch As. In diesem Über-alles-Bescheid-Wissen steckt auch, es entsprechend vertiefen zu können oder die Hilfe von Leuten zu holen, die deine Absichten dann genau so ausführen, wie du es haben willst. Wenn ich ein Video mache, setze ich mich daneben und lass' den schneiden. Ich muß nicht unbedingt alles selber schneiden können. Ich kann mir das auch beibringen. Wenn es nötig ist, bringe ich es mir auch bei und mach' es auch, es dauert ein bißchen länger, aber es muß nicht sein.

dbm: Siehst du deine Zusammenarbeit mit anderen, wenn ich jetzt an deine Veranstaltungen in deinem Atelier denke (jährlich zur Buchmesse; Anm. d. Red.), als ein gegenseitiges ‹Belehren› im Funktionenaustausch? Ist das mit ein Grund, warum du diese Veranstaltungen gemacht hast?

vk: Der Grund ist: Ich habe ein Kunstverständnis, das breit ist, ich habe Kunstideale. Ich habe ein Ideal von Literatur; Literaten müßten mit Musikern und mit Künstlern einfach etwas zu tun haben, die müssen einfach im gleichen Café sitzen, die müssen miteinander schwätzen. Daraus entstehen Impulse, obwohl die in einem ganz anderen Metier tätig sind; das ist aber so etwas, was ich als geistige Lebendigkeit bezeichne. Das gab es in Frankfurt nicht.

dbm: Vielleicht bist du doch ein Spezialist, nämlich, ein Spezialist für das Nicht-Spezialisiertsein, wie Arnold Gehlen sich genannt hat.

vk: Ja, das ist natürlich richtig gesagt. Deswegen habe ich auch diese Theorie des Unperfekten.


Laubacher Feuilleton 1.1992, S. 6

Die Fragen stellte Detlef Bluemler: dbm, Mitglied der Gesellschaft zur Verwertung und Erhaltung der Idee des Pfennigs AG (Europan).

Weiterführende Information auf der Seite von Vollrad Kutscher.

 
Sa, 03.10.2009 |  link | (1873) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



«Ich bin schwarz, aber schön»

Zur Installation Schwarze Madonna von Passau von Vollrad Kutscher

So spricht die Braut im Hohenlied Salomons im Alten Testament: «Ich bin schwarz, aber schön» (1,4). Die Bibelexegese hatte dafür im Laufe der Zeiten mehrere Deutungen parat. So wurde die Braut — die in der Typologie mit Maria gleichgesetzt wird — als Äthiopierin aufgefaßt, aber auch, dem Wortlaut folgend, als von der Sonne verbrannt, während sie den Weinberg hütete. Eine neuere Auslegung sagt, im Hebräischen sei das Wort «dunkelbraun» unbekannt, weswegen es durch «schwarz» ersetzt worden sei. Die Übersetzungsschwierigkeiten — vom Hebräischen ins Griechische, vom Griechischen ins Lateinische, von dort mehrfach ins Deutsche — sind bekannt. Arno Schmidt hat dazu bemerkt: «Solange man als die reinste Quelle ‹Göttlicher Wahrheit›, als heilige Norm der ‹Vollendetsten Moral›, als Grundlage von Staatsreligionen ein Buch mit, milde gerechnet, 50 000 Textvarianten (also pro Druckseite durchschnittlich 30 strittige Stellen!) proklamiert; dessen Inhalt widerspruchsvoll und oft dunkel ist; selten auf das außerpalästinensische Leben bezogen; und dessen brauchbares Gute (schon vor ihm und zum Teil besser bekannt) auf unhaltbaren Gründen eines verdächtig-finsteren theosophischen Enthusiasmus beruht: solange verdienen wir die Regierungen und Zustände, die wir haben!»

In einer Legende aus der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts wird berichtet, Lukas habe versucht, die Gottesmutter auf einer Tischplatte aus dem Hause Mariens zu portraitieren — daher die Färbung der sogenannten Schwarzen Madonna. Schwarze Madonnen gibt es häufig, eine Studie listet allein in Europa 272 Stück auf. Eine sehr prominente befindet sich schon in der Diözese Passau, nämlich in Altötting, einer besonders frühen Stätte der Marienverehrung in Bayern.

Wie werden nun Madonnenbilder schwarz? Das ist kein Wunder, die Erklärung ist einfach: Es kann sich um die natürliche Färbung des Holzes handeln oder um chemische Veränderung des Inkarnats z. B. durch Kerzenrauch oder ähnliches. Verbindungen zu heidnischen Kulten oder vorchristlichen Religionen wurden hergestellt, etwa zur Fruchtbarkeitsgöttin Demeter (Ceres) oder zu Isis mit dem Horusknaben. Sollte ein solches Bild tatsächlich aus Afrika gekommen sein, etwa aus Äthiopien — Marienkult ist dort durchaus früh belegt —, wird es sich um die ganz natürliche Annäherung an die Physiognomie der dortigen Bevölkerung handeln.

In Anspielung an die ‹Schwarze Braut› aus dem Hohenlied ist im Klosterneuburger Altar, vollendet 1181, die Königin von Saba als Negerin dargestellt. Der hl. Augustinus, immerhin einer der vier Kirchenväter, stammte aus dem Gebiet des heutigen Algerien und sah auch so aus. Der berühmteste christliche Negerheilige ist Mauritius, an dem nicht nur seine Heiligkeit faszinierte, sondern vor allem seine Physiognomie, ein bekanntes Bildbeispiel stammt von Matthias Grünewald (heute in der Alten Pinakothek in München). Aus der Zeit vor der Mitte des 13. Jahrhunderts datiert eine bemerkenswert realistische Skulptur des Afrikaners im Magdeburger Dom mit blauschwarzer Gesichtsfarbe.

Generell stand das Mittelalter Menschen mit schwarzer Hautfarbe nicht besonders positiv gegenüber, beliebt war die Darstellung des Teufels oder von Dämonen als Neger. Das änderte sich, als durch Reisen ein exotisches Interesse aufkam, etwa bei der Darstellung der vier Weltteile oder in Portraitstudien, man denke an diejenigen von Dürer.

Nichtsdestoweniger wirkt es immer noch fremdartig, das Christentum in etwa in die Umgebung hineinzustellen, aus der es kommt, seine orientalischen Wurzeln deutlich zu machen. Der nordische bzw. deutsche Volks- und Aberglaube setzt beispielsweise Maria gleich mit Frau Holle. Im Fest Mariä-Schnee am fünften August treffen sich beide. Daneben spielt die Farbe Weiß auf die Immaculata an.

Vollrad Kutscher liegt also gar nicht so sehr außerhalb einer — allerdings punktuell auftretenden und nicht allzu weit verbreiteten — Tradition, wenn er den Terminus ‹Schwarze Madonna› im Sinne von ‹Negermadonna› wörtlich nimmt und seine Figuren in Benin herstellen läßt. Unbekannt in der ikonographischen Überlieferung ist jedoch eine schwarze Maria Gravida, eine schwarze schwangere Madonna.

Die Maria Gravida alleine ist ein wiederum häufig auftauchendes Motiv, oft mit einem kleinen intrauterinen Kindlein deutlich gemacht. Eine Ausnahmestellung hat die Madonna del Parto (Madonna der Niederkunft) von Piero della Francesca in Monterchi. Das Bild der schwangeren Maria wurde zu einem Anlaufpunkt für vor allem ebenfalls schwangere Frauen, da Maria traditionell als Geburtshelferin gilt, daneben aber auch als Kinderbringerin für die Fruchtbarkeit zuständig ist. Die naturnahe Darstellung Pieros veranlaßte eine Frau aus der Umgebung Monterchis zu folgender Äußerung: «Überall gibt es Madonnen. Zwar ist es immer die gleiche, aber du mußt sie vor dir sehen, und noch besser ist es, wenn sie dir gleich ist, denn dann fühlst du, daß sie dich versteht.»

Solche topographisch punktuell konzentrierten Kultstätten oder auch Wallfahrtsorte wie Lourdes oder Fatima verlieren im Zeitalter einer postulierten und auch realisierten grenzenlosen Mobilität und der unbegrenzten Verfügbarkeit von Information ihren Sinn. Paradox wird damit ebenfalls das Verhältnis zwischen dieser Mobilität, die ja einen relevanten Wirtschaftsfaktor darstellt, und einer gleichzeitigen Abschottung gegen das sogenannte Fremde, einem erneuten Insistieren auf einer nationalen Identität. Das Konzept einer solchen Mobilität ist als einseitiges gedacht. Selbst am Ende des 20. Jahrhunderts ist der Kolonialismus noch lange nicht überwunden. Es gilt immer noch, was Carl Einstein 1921 einleitend in seinem Buch über afrikanische Plastik schrieb: «Exotismus ist oft unproduktive Romantik, geographischer Alexandrinism. Hilflos negert der Unoriginelle.» Diese Feststellung ist keineswegs auf den ästhetischen Bereich beschränkt, sondern nimmt die Maxime ‹schneller, höher, weiter› aufs Korn.

Devotionalienhandel ist an den bekannten Kultstätten weit verbreitet: das Bildchen des heiligen Antonius von Padua auf einer Miniatur-Kloschüssel, die als Aschenbecher dient. Die Wirklichkeit ist kaum zu übertreffen. Erasmus schrieb in einem Brief an den Erzbischof von Canterbury vom ersten April 1516, daß er die einfache Frömmigkeit des Volkes nicht verachte, er sich aber über die verkehrte Urteilsfähigkeit der Masse wundern müsse, die Schuhe von Heiligen und vom Rotz schmutzige Nasentüchlein küssen und dabei dulden, daß ihre Bücher, das allerheiligste und wirkungsvollste Erbe des Göttlichen, vernachlässigt daliegen.

Was können Marienbilder? Sie können, um nur einen kleinen Auszug aus dem «Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens» zu zitieren, «sich bewegen, reden, weinen, schreien, bluten, schwitzen, Gaben spenden oder annehmen, nicht gereinigt werden wollen, Unheil künden, Frevler bestrafen, mit dem Finger winken oder drohen, Verurteilte unter ihrem Mantel entrücken, vom Feuer verschont bleiben, Schätze zeigen oder bewachen, Spuk vertreiben usw. usw.» Ähnliches beklagte wiederum Erasmus in einem fingierten eigenhändigen Brief der Maria: «Und zuweilen bitten sie das von der Jungfrau, was ein ehrbarer Jüngling kaum sich unterstehn würde, von einer Kupplerin zu erbitten, und was ich mich schäme niederzuschreiben. Der Kaufmann, der Gewinn halber nach Spanien schifft, vertraut mir die Keuschheit seiner Konkubine an. Die gottgeweihte Jungfrau, die den Schleier wegwerfend sich zur Flucht bereitet, vertraut mir den Ruf ihrer Unschuld, welche sie eben preisgeben will. Der gottlose Soldat, der zur Schlachtbank geführt wird, ruft mir zu: heilige Jungfrau, verleihe reiche Beute! Der Spieler ruft: sei mir günstig, Himmlische, ein Teil des Gewinnes soll dir zufallen! [...] Die Unverheiratete ruft: Maria gib mir einen wohlgestalteten und reichen Bräutigam! Die Verheiratete: Gib mir schöne Kinder! Die Schwangere: Gib mir eine leichte Geburt! Die Alte: Verleih mir lange zu leben ohne Husten und Fieber! Es ruft der kindische Greis: Verleihe mir wieder jung zu werden! Der Philosoph: Verleihe mir unlösbare Knoten zu verknüpfen! Der Priester: Gib mir eine fette Pfründe!»

Anzumerken wäre hier noch, daß die Nachbildungen Schwarzer Madonnen, also die Devotionalien, bereits schwarz angefertigt wurden und werden. Die Schwarze Madonna von Passau existiert nur als Devotionalie, und sie ist nicht einmal immer schwarz. Das Gnadenbild selbst ist nur virtuell, übrig bleiben lediglich Attribute der Anbetung, etwa ein Kerzenständer mit elektrischen Kerzen vor einem blauen Fenster, wobei hier das Blau einen doppelten Zweck erfüllt: einmal als traditionell mit Maria verbundene Farbe, zum anderen als Zeichen romantischer Sehnsucht. Fernsehschirme nehmen dieses Blau noch einmal auf, kombiniert mit dem Schein — oder, einfacher, Bild — eines schwangeren schwarzen Bauches und dem einer Senufo-Figur, die, von einer weißen Hand gehalten, in den Boden gestoßen wird. Via Fernsehbild können auf elektronischem Wege die Objekte der Anbetung ins Haus geliefert werden, Realität braucht dazu nicht mehr zu existieren. Dem rituellen Stampfen mit der Senufo-Figur entspricht der magische Ritus im Raum: Mittels Ventilatoren werden Gipseier, auf die mit Lampen die Züge afrikanischer Masken projiziert sind, zum Leben erweckt. Das Gebläse der Ventilatoren versetzt die Lampen in leise Schwingungen, die Maskenprojektionen auf den Eiern bewegen sich sachte hin und her. Der Odem des Lebens wird elektrisch eingeblasen.

Vollrad Kutscher baut einen Kultraum zusammen, der, ohne ein Kultobjekt zu beherbergen, zeigt, daß durch sämtliche zugehörigen Attribute, von manifest existierenden Devotionalien bis hin zum flüchtigen Fernsehbild, das Objekt selbst überflüssig geworden ist. Ausgerechnet ein religiöses Thema eignet sich dazu hervorragend, da es ja ebenfalls Gegenstand reinen Glaubens ist. Seine Virtualität beweist dieses normalerweise ohnehin nur im Abbild, bei Kutscher gar nicht existierende Objekt zusätzlich durch seine Zusammensetzung aus Elementen vertrauter und fremder Kulte. Eigenartigerweise wird dabei eine existierende gängige Tradition durch wenige Kunstgriffe ins Fremdartige gesteigert, überhöht. Dem Betrachter sollte es gehen wie Joseph, der doch skeptisch ist, was die unbefleckte Empfängnis seiner Gattin betrifft. Die oft dargestellte Figur dieses skeptischen Joseph hat in der Ikonographie einen treffenden Namen: der Zweifel-Joseph.

Ivo Kranzfelder


Laubacher Feuilleton 16.1996
 
Sa, 26.09.2009 |  link | (3320) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



Gefrorene Musik

Die Form ist das Ergebnis einer unaufhörlichen, immer neuen Anstrengung. Eine einzige Welle ist nichts, sie interessiert mich nicht. Aber nach dieser Welle kommt eine andere und noch eine. Jede setzt die vorangehende, jede die folgende voraus — und alle anderen, die ihr folgen werden. Ohne diese beständige Kraft des Wassers würde die einzelne Welle zusammenfallen, sich auflösen. Alle zusammen bilden nur eine einzige ungeheure Woge. Man isoliert ja auch nicht eine einzelne Note in einer Symphonie. Sie ergibt sich aus der Bewegung der Musik, die anschwillt, deren einzelne Partien sich überlagern, die schließlich abklingt. Die Plastik und die Musik haben denselben tönenden und sich immer wieder erneuernden Raum.

Wie das Klangvolumen in der Musik, das die Stille mit Spannung erfüllt, wäre das Volumen in der Plastik nicht möglich ohne die Leere des Raumes. In ihr setzt sich die Vibration der Form über ihre Begrenzungen hinaus fort, und beide, Raum und Volumen, erzeugen gemeinsam aus den möglichen Strukturen der Form ihre endgültige Gestalt. Der Rhythmus wird durch die Form bestimmt, er erneuert sich mit ihr, aber er steckt ebenso im Intervall — vor allem im Intervall würde ich sagen, im Intervall seiner Modulation, seiner Variationen. Ich habe manchmal versucht, das Spiel der Linien und Akzente auszudrücken, die ich in Gips- oder Bleireliefs geschnitten habe. Aber diesen Reliefzeichnungen fehlte die dritte Dimension, fehlte gerade jene Leere, die eine sichtbare, fast materialisierte Resonanz des plastischen Werkes ist.

Ein Spiel von Oberflächen — das ist das richtige Wort. Gefrorene Musik, ohne Echo. Ich liebe das Saubere, das klar Geschnittene, aber es muß auch nach den Seiten hin ausgreifen können, es muß sich umwenden können und dadurch Distanz schaffen, es muß Schweigen erzeugen oder Leere, wie man will, damit die Form vibrieren kann. Vielleicht läßt sich darin wirklich eine Erinnerung an baskische Musik finden, mit ihren Melodien, die immer wieder von Dur in Moll wechseln, so daß es oft dem Zuhörer überlassen ist, sie in der einen oder anderen Tonart zu hören. Bei den meisten meiner Skulpturen alternieren die Positiv- und die Negativformen. Jede ist in gewisser Weise das Gegenstück, die Gegenmelodie zur anderen.

Eduardo Chillida


Laubacher Feuilleton 11.1994, S. 5
Aus: Künstler — Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst , München 1994, Ausgabe 26, S. 14/15

 
Mo, 14.09.2009 |  link | (1433) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



Venedig in Las Vegas

Pamela C. Scorzin

Architainment für die Fun-Gesellschaft

«Las Vegas ist die tollste Stadt der Welt. Und jetzt, wo wir Paris haben, ist sie noch toller!», verkündete der neu gewählte Bürgermeister Mr. Goodman stolz zum Anbeginn des neuen Millenniums. Las Vegas, dieser gigantische Urban Sprawl in der fernen amerikanischen Wüste Nevadas, gebiert bei Nacht jedesmal erneut zu einer verführerischen Fata Morgana aus einem traumhaften Lichtermeer von Abermillionen pulsierend blinkender Glühlampen und knallig leuchtender Neonröhren. Das von den amerikanischen Pop-Artisten vielportraitierte Stardust Sign, das einst aus dem dichten Wald von Reklameschildern am Las Vegas Hauptboulevard, dem berühmten Las Vegas Strip, als Werbeikone strahlend herausragte, heute aber schon längst abmontiert und weggeräumt, und irgendwo auf dem Friedhof für aus ihrem Funktionsalltag ausrangierte, musealisch nobilitierte Neonkunst gelandet ist, hatte sich doch schon wahrlich und wohl für immer unauslöschbar als Matrix auf unsere kollektive Netzhaut gebrannt. Digitale Billboards, computergestützte LED-Anzeigetafeln und die tumultuarisch ratternden Sounds der chromblitzenden Game Machines werben in diesem irdisch-urbanistischen Spielerparadies, das sich selbst prahlerisch als die «erste Stadt des 21. Jahrhunderts» feiert, 24-Stunden-non-stop gierig um Gunst, Geld und Gut der Besucher, die es in ihrer ewigen Hoffnung auf den erlösenden Traumgewinn unaufhörlich in Legionen von Flugzeugladungen magisch aus allen Herren Ländern in dieses jüngst hastig expandierende Eldorado der Mega-Casinos hineinzieht.

Wahrlich taucht hier am fernen westlichen Horizont die glitzernde postindustrielle City auf: das neue Metropolis der Dienstleistungen, des Tourismus und des Showbiz. In der alle Sinne abzockenden grellen Lichteratmosphäre dieser schönen kommerzialisierten Neuen Welt, die nur noch von der Säule des tertiären Sektors getragen wird, erstehen zugleich auf wundersame Weise die weltweit bekannten Prachtkulissen der Alten Welt neu auf, so daß sich «John im Glück» nun wirklich im Land der greifbar nah gewordenen Träume wähnen darf. Ein Streifzug durch diese faszinierend artifizielle Megastadt im Südwesten der USA, der — wie es sich für die Spezies des Homo Americaniensis nun einmal gehört — allein im Tempo des fordistischen Zeitalters, ergo im Automobil, vollzogen wird, versetzt uns schlagartig, wie beim ungeduldigen und wahllosen Zappen durch die TV-Channels, in andere Zeiten und an andere Orte. Im Money-Wonderland sind sie für die zeitgenössischen Alicen magisch verdichtet und simultaneisiert. Eine gemächliche Spazierfahrt über den Strip, diese amerikanische Wiener Ringstraße, die man am besten stilecht — soviel Etikette muß auch im unkonventionellen Amerika sein — im Cadillac oder Chevrolet vollzieht, führt uns dabei von Straßenzug zu Straßenzug, von Block zu Block, wiederholt an flash-artig wiedererkannten Szenerien vorbei. Wir sind am Ort der Illusionen angelangt! Fließt hier nicht der Zwilling des guten alten vertrauten Canale Grande als verheißungsvoller Fluß einer prosperierenden Oase inmitten eines eigentlich wüsten und geschichtslosen, aber somit nicht mehr gänzlich gesichtslosen, fernen Niemandsland? Wir reiben uns die Augen und staunen weiter hinter unseren Windschutzscheiben: Nur bequeme wenige Autominuten von dem neuen, architektonisch geklonten. mit künstlichem Himmel versehenen Venedig, dem Las Venice, liegen hier wie an einer schimmernden Perlenkette aufgereiht zwischen zahllosen gigantischen Hotelkomplexen, Shopping Centern und Großkasinos die beliebten touristischen Highlights der alten europäischen Kultur- und Architekturgeschichte: Luxor, Rom, Venedig, Paris, Monte Carlo, Bellagio am Comer See, aber auch die städtebaulichen Ikonen der eigenen kurzen kulturellen Vergangenheit der jungen Nation der United States of America, diesen Römern des 20. Jahrhunderts, selbstverständlich alles konsum- und bildgerecht durch den Techni-Color-farbenen Screen Hollywoods betrachtet: Disneyland und New York grüßen hier im US-Bundesstaat Nevada im gleichen Zuge mit ihren ebenso weltweit bekannten Wahrzeichen die jungen und alten Besucher dieser modernsten «City of Entertainment», von denen sich aber die meisten nur etwa drei Tage in die gigantischen Hotelkomplexe aus Tausenden von Betten einmieten möchten. Die berühmt-berüchtigte obligatorische Grand Tour des 19. und 20. Jahrhunderts durch das alte traditionsreiche Europa selbst droht für die Anhänger dieser unterhaltsamen Scheinwelt mit einem Schlag für immer obsolet, zumal Las Vegas inzwischen selbst auch dünkelhaft auf eine genuin eigene Museumstradition verweisen kann: Man/frau/kind besuche etwa das Museum für Neonkunst oder das Liberace Museum, dieser herrlich kitschige Tempel für echten Straß und falschen Glitter an der 1775 E Tropicana Ave! Und, um es nicht zu vergessen, heißen heute die ungekrönten wahren Regenten dieser ultimativen Kapitale des US-amerikanischen Entertainment ‹Siegfried and Roy› — unentwegt smiling, im noblen Mirage residierend, und wie es sich nun mal auch in einem demokratischen Land für wahre Häupter gehört, stets scharf bewacht von ihrer exklusiven Leibgarde aus weißen Tigern.

Wir erinnern uns noch vage im Dunkel der Las Vegas Night, Learning from Las Vegas hieß doch einmal ein architekturtheoretisches Kultbuch der siebziger Jahre. Die kleine Schrift avancierte zur Heiligen Schrift der Postmoderne, die den amerikanischen Architekten Robert Venturi in den poppigen Seventies, die der Low Culture huldigten und dem Camp frönten, weltberühmt machte und zum Pop-Architektur-Guru stilisierte. Venturi galt fortan als der Beelzebub, mit dem der weiße Teufel der Moderne, Le Corbusier, aus dem internationalen Städtebau ausgetrieben werden sollte. Den Blick am Ende des 20. Jahrhunderts also wieder einmal sehnsüchtig gen Westen gerichtet ... — doch, ach, was wollten wir noch lernen vom Las Vegas Strip, an dem sich heute mehr ‹Enten› als ‹dekorierte Schuppen› tummeln?! Was sollten wir auch aus dieser offensichtlich mehr noch als die internationalen Börsenstädte New York, Tokio, London oder Frankfurt am Main vom unschlagbaren globalitären Magic Double ‹Big Money› und ‹Big Business› bestimmten, städtebaulich und architektonisch erbarmungslos in atemlos-rasanter Beschleunigung aus wiederholtem Aufbau und Abriß vorangetriebenen, ungeheuerlich expandierenden und bizarr öden Stadtlandschaft im fernsten Westen noch nach all den formalen Auswüchsen sowie Ausrutschern inflationärer Epigonen der postmodernen Architektur vor unseren eigenen Haustüren noch lernen wollen?! Doch auch heute gilt immer noch der in der Werbung beliebte Slogan «Go West!» und so blicken wir auch heute noch einmal mit Robert Venturi, und damit zugleich auch mit etwas Sinn für Humor und Ironie, auf die jüngsten Großprojekte dieses spektakulären Archi tainment im fernen Las Vegas, das mit seinen unzähligen Stadtvierteln aus künstlich imitierten und simulierten Atmosphären um stete Aufmerksamkeit heischt. Gleichsam die Sirene unter den Töchtern der Mutter der Kunst ist sie, die sich schamlos ausgiebig dem exzessiven Liebesspiel in den Zitatorgien populärer Architekturstile und edler Monumente als amüsanter Unterhaltung und purer Vergnügung leichterdings hingibt, und somit — wenn schon nicht schöpferisch, so doch am erschöpfendsten — die von unseren wachsam-kritischen Kassandren der Sozialwissenschaften allseits diagnostizierte voyeuristische Erlebnis- und Spaßgesellschaft bedient.

Fragen wir also doch mit diesen akademisch gelehrten Soziologen erst einmal danach, was diese auf eine fast schon modische Ewigkeit von etwa fünf Jahren angelegte verführerische Kulissenarchitektur und die architektonischen Attrappen denn überhaupt zu bieten haben. An der notorischen Autoperspektive des Strips orientiert, offerieren sie uns auf den ersten Blick nur flüchtige Eindrücke und Sensationen, leicht verdauliche Déjà-vus aus den Kompendien des globalen Reisens und der überdurchschnittlichen Kenntnisse des alten enzyklopädischen Wissens, aber dann auch die reine Sehlust am perfekt inszenierten Spektakel, das einmal in der fernen Alten Welt doch König Ludwig II. von Bayern, Oper und Theater im Stile des Gesamtkunstwerks Wagnerscher (respektive Semperscher) Prägung hieß.Venetian Diese populistischen architektonischen Prachtkulissen und Fassadenarchitekturen an der Glanzmeile von Las Vegas mögen für uns zwar lediglich materiell minderwertig kopiert und perfekt illusionistisch reproduziert sein, sie sind darin aber zugleich auch mehr als nur der Ersatz, die Pop-Surrogate, für ihre fernen, womöglich nie besuchten Originale. Sie repräsentieren vielmehr den für Europäer seltsam anmutenden Akt der ‹Ein-Holung› der exklusiven Kulturgüter der mondänen Alten Welt in die noch Neue, die eine per se kulturell arme und traditionslose Virtuelle ist. Sie symbolisieren darin nicht nur die heute denkbar extremste Kommerzialisierung von Architektur und ihrer tradierten Stile, sondern auch die demonstrativ zur Schau gestellte Attitüde des amerikanischen Ethos des ›Anything goes›, den mit Kapital machbar gewordenen Einkauf selbst von Immateriellen wie der spezifischer Atmosphären, die diesen unverhohlen zitierten historischen Architekturen als Odem und Sentiments eigentümlich anhaftet. Gedacht sei hier beispielsweise an die durch unendlich viele Hochzeitsreisen kolportierte weltberühmte sentimentalische Romantik Venedigs, die das neu errichtete The Venetian in Las Vegas via World Wide Web nun sympathisch-demokratisch zum preiswerten romantischen Luxus mit stets ein bißchen mehr als das Original für Mr. and Mrs. Everybody anpreist: «The world's most romantic city is now in the heart of the most exciting destination location.» You are welcome in this pleasure-land, das bereits auch für billige Eheschließungen und schnelle Scheidungen bekannt wurde.

Der Dogen-Palast, die Rialto-Brücke, der Campanile und der venezianische Markusplatz als tradierte Architektursymbole für den Glanz und die Glorie des alten Venedig mutieren hier, nur etwas (ökonomischer) enger zusammengerückt, jedoch im überwältigenden 1:1 Originalmaßstab mit eigens aus Italien importierten Originalbaumaterialien sowie Gips und Styropor perfekt rekonstruiert, zu scheinbar Identität, Tradition und Historizität stiftenden Architekturchiffren, die jedoch vor allem als harmlos scheinheilig und in der Funktion von petrifizierten Entertainern vergnüglich plaudernd daherkommende, gleichwohl darin im effektiven Maße hypnotisierende Konstruktionen sind, die für den Bau völliger künstlicher Scheinwelten dienen. Offensichtlich werden solche Kunststädte dann nicht mehr von den nationalen und internationalen Architekten und Städteplanern, sondern von den Drehbuchautoren der globalen Filmindustrie entworfen. Auch ihre Einwohner und Besucher finden sich hier unversehens in der Rolle als Statisten einer machtvollen, geschwätzigen urbanen Inszenierung wieder. Während die glücklichen, weil stets super-freundlichen Angestellten dieser gigantischen urbanen Unterhaltungs- und Dienstleistungsmaschinerie offensichtlich ihre Arbeit unter den in grellen Popfarben imitierten überwältigenden Freskenzyklen venezianischer Renaissance-Meister nur noch als Spaß erleben dürfen und als Qualifikation allein das Metier der Schauspielerei beherrschen müssen: Auf den künstlichen Kanälen der Stadt schaukeln rhythmisch die Gondeln mit eigens aus dem Bel Paese Italia eingeflogenen, schmalzig — immerhin im Originalton — trällernden Gondoliere, während das in Uniformen italienischer Carabinieri patrouillierende allgegenwärtige Sicherheitspersonal dieses jüngsten Themenhotels der Superlative wirksam theatralisch von den an jeder Ecke versteckten, allgegenwärtigen Videoüberwachungssystemen ablenkt. Nur noch die liebevoll-lästigen Taubenscharen, Venedigs fliegende Ratten, wie mio Professore, Dottore Lupo Vino d'Amore, einmal despektierlich angemerkt hatte, fehlen uns unter dieser aseptisch glasabgedeckten, niemals überschwemmten und nie stinkenden, sterilen Piazza San Marco mit ihrem ‹himmlischen› illusionistischen Hypäthralraum. Auf ihr begleicht man seinen Espresso oder Cappuccino beim Cameriere! jedoch mit hartem Dollar oder am besten gleich per Kreditkarte und e-cash.

Das weltweit grassierende Disney-Virus schlug hier also offensichtlich am heftigsten zu; das Symptom: der Simulation wird nun eindeutig der Vorzug über die Wirklichkeit gegeben, während dabei die Kopie noch den Anspruch hat, das ferne Original übertrumpfen zu wollen. Folks, we just love them, Monsieur Baudrillards simulacra, and we want more of it! Die zitierenden Versatzstücke dieser neuen Architekturwelten bilden somit die pseudo-kulturelle Matrix der ausschließlich ökonomischen und in ihrer Struktur nach damit eigentlich höchst undemokratischen Kunststädte, hinter denen nicht Leviathan oder der Zauberer von Oz, sondern nur noch der schnöde Mammon auf uns lauert. Las Vegas' Spieler sind nur ein gekauftes Volk von Untertanen.

Der sympathisch poppig-vulgäre Las Vegas Strip der sechziger und siebziger Jahre, den uns Venturi so anschaulich und ausführlich beschrieb und als Architekturrezept gerade optisch schmackhaft gemacht hatte, ist inzwischen durch prachtvolle moderne Boulevards mit exzentrischen Wasserspielen und ultimative Lightshows verdrängt, dabei wurden selbst auch die letzten öffentlichen Fußgängerwege der Stadt privatisiert. Shopping Malls und Edelrestaurants wurden jüngst zwischen die alten Kasinos gemischt, weitläufige Golfplätze, teuere Luxusapartments und Wellness-Center säumen nun das endlos in die Peripherien ausfransende Stadtufer und verheißen neuen städtischen Luxus und Exklusivität. Am etwas anrüchigen Image der Stadt als notorisches Spielerparadies, Sündenpfuhl und Ganovenpflaster wurde in den letzten Jahren wahrlich hart gearbeitet, so daß sich Las Vegas heute wie alle Disneylands der Welt als betont familienfreundlich präsentieren kann. Für sein neues Image als Freizeit-, Entertainment- und Kongreßstadt hat sich das alte Las Vegas heute ein modisches Flickenmäntelchen aus lustig-bunten Themenparks à la Disneyland in Orlando, Florida umgelegt. Aber nein wirklich, noch ein Quentchen mehr an Kulissenromantik in Postkartenqualität dürfte der Stadt der vielen Wedding Chapels nach Ansicht ihrer professionellen Developer und Investoren nun doch wohl niemals ernsthaft schaden. Viva Las Vegas!

Und Grüße an Elvis ... von Pamela Casarin Scorzin aus dem alten, echten Veneto.

Kurzschrift 3.2000, S. 59 – 65
 
Fr, 04.09.2009 |  link | (3330) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken


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