Gefrorene Musik

Die Form ist das Ergebnis einer unaufhörlichen, immer neuen Anstrengung. Eine einzige Welle ist nichts, sie interessiert mich nicht. Aber nach dieser Welle kommt eine andere und noch eine. Jede setzt die vorangehende, jede die folgende voraus — und alle anderen, die ihr folgen werden. Ohne diese beständige Kraft des Wassers würde die einzelne Welle zusammenfallen, sich auflösen. Alle zusammen bilden nur eine einzige ungeheure Woge. Man isoliert ja auch nicht eine einzelne Note in einer Symphonie. Sie ergibt sich aus der Bewegung der Musik, die anschwillt, deren einzelne Partien sich überlagern, die schließlich abklingt. Die Plastik und die Musik haben denselben tönenden und sich immer wieder erneuernden Raum.

Wie das Klangvolumen in der Musik, das die Stille mit Spannung erfüllt, wäre das Volumen in der Plastik nicht möglich ohne die Leere des Raumes. In ihr setzt sich die Vibration der Form über ihre Begrenzungen hinaus fort, und beide, Raum und Volumen, erzeugen gemeinsam aus den möglichen Strukturen der Form ihre endgültige Gestalt. Der Rhythmus wird durch die Form bestimmt, er erneuert sich mit ihr, aber er steckt ebenso im Intervall — vor allem im Intervall würde ich sagen, im Intervall seiner Modulation, seiner Variationen. Ich habe manchmal versucht, das Spiel der Linien und Akzente auszudrücken, die ich in Gips- oder Bleireliefs geschnitten habe. Aber diesen Reliefzeichnungen fehlte die dritte Dimension, fehlte gerade jene Leere, die eine sichtbare, fast materialisierte Resonanz des plastischen Werkes ist.

Ein Spiel von Oberflächen — das ist das richtige Wort. Gefrorene Musik, ohne Echo. Ich liebe das Saubere, das klar Geschnittene, aber es muß auch nach den Seiten hin ausgreifen können, es muß sich umwenden können und dadurch Distanz schaffen, es muß Schweigen erzeugen oder Leere, wie man will, damit die Form vibrieren kann. Vielleicht läßt sich darin wirklich eine Erinnerung an baskische Musik finden, mit ihren Melodien, die immer wieder von Dur in Moll wechseln, so daß es oft dem Zuhörer überlassen ist, sie in der einen oder anderen Tonart zu hören. Bei den meisten meiner Skulpturen alternieren die Positiv- und die Negativformen. Jede ist in gewisser Weise das Gegenstück, die Gegenmelodie zur anderen.

Eduardo Chillida


Laubacher Feuilleton 11.1994, S. 5
Aus: Künstler — Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst , München 1994, Ausgabe 26, S. 14/15

 
Mo, 14.09.2009 |  link | (1380) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken






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