Kunst der Nichtschwimmer

Für Frank Auerbach

In den Dreißigern hat es Versuche gegeben, innerhalb der École de Paris eine jüdische Fraktion ins Leben zu rufen. Zu ihr gehörte, natürlich, Marc Chagall, und ihr zugerechnet wurden nicht nur Amadeo Modigliani und Chaim Soutine: minder bekannte Leute wie Kikouïone oder Mané-Katz sollten in dieser Fraktion eine Heimstatt finden. Mané-Katz oder Kikouione sind heute vergessen, ob zu Recht oder zu Unrecht, bleibt dahingestellt. Vergessen aber ist die vierte Galionsfigur der Fraktion, ein Mann, der einst erfolgreich war bis zum Geht-nicht-mehr, der, im übrigen, mit Balthus oder vor Balthus das Lolita-Sujet, kleine Mädchen mit hochgeschürzten Röcken, ins Bild gebracht hat: Julius Pinkas, genauer: Jules Pascin. Dieser Mann war ein Vorbild: als er sich das Leben nahm, hat ihn Ringelnatz in Versen beklagt; Gotthard Jelicka hat in Worten sein Portrait gezeichnet. Er war der typische Montparnos, ein Weltenbummler, den man mit Fug auch einen Halbweltenbummler, ein Zeichner von hohen, ein Maler von etwas weniger hohen Graden.

Warum ist er vergessen? Ein Beispiel aus der Literatur hilft da weiter. Vergessen wie Pascin ist auch der Schriftsteller Jakob Wassermann, einst ein Star. In London sagte mir ein Antiquar, man lege Wassermann nicht mehr auf, weil er Jude ist. So allerdings, auch was Pascin angeht, stimmt es nicht. Ob nämlich jemand Jude ist, Neger, schwul oder, wie Djuna Barnes, Lesbe, bleibt irrelevant; was zählt, ist Nightwood von Djuna Barnes oder die Falschmünzer von André Gide. Das Outing bringt keine Kunstgebilde zustande, sondern Beschämungen. Wo es bei Pascin (oder Wassermann) hapert, drückt das schöne Wort von Kierkegard aus: «Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, endet als Witwer.»

Es gibt Maler, und sonst nichts. Biographisches können oder sollten die Bilder nicht einlösen; schon bei Chagall beginnt die Spekulation. Wifredo Lam: halb Neger, halb Chinese; seit wann ist Folklore ein Malmotiv? Wenn das Beispiel der Dreißiger Schule macht, wird bald eine Kunst der Nichtschwimmer kreiert. Picasso ist allemal dabei.

Hans Platschek

Laubacher Feuilleton 5.1993, S. 10
 
Do, 27.08.2009 |  link | (1481) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



Ikonoklastische Geometrie

Im Italien des 14. Jahrhunderts nährte sich die Bildung des Künstlers aus den Reichtümern seines Landes und Zeitalters. Dieses Wissen wurde bald mit ‹Antiken› angereichert. Dann wurden Orientalismen, Japanismen und einige ‹Chinoiserien› hinzugefügt, die die abendländische Kultur nicht nur bereicherten, sondern ihr oft auch widersprachen. Im 19. Jahrhundert kann man beobachten, wie sich das Wissen des ‹abendländischen Künstlers› um die archaischen (griechischen, ägyptischen, sumerischen et cetera) präkolumbianischen, afrikanischen, ozeanischen und anderen Künste erweitert, wobei jede dieser Kulturen ihre eigene Entwicklung beinhaltet und ihre eigenen Widersprüche in sich trägt.

Was fängt der Künstler unserer Tage mit all diesen Reichtümern an? Sicherlich gibt er weder eine Übersicht, noch zieht er die Gesamtsumme daraus. Eher heben sich die verschiedenen Faktoren gegenseitig auf, als daß sie sich zusammenzählen lassen. Einige gerinnen, mehr oder weniger bewußt, zu gelehrten Verbindungen, in denen Phidias mit einer Prise afrikanischer Kunst verjüngt wird oder sich die japanische Kalligraphie mit Hieronymus Bosch verbindet.

Da wir dieses Chaos durchschauen, tun wir alles, um diesen Reichtum aus unseren Werken zu vertreiben. Wir möchten klarer sehen. Darum bedienen wir uns einer möglichst einfachen, belanglosen Sprache und versuchen, jedes große Formproblem einzeln zu erörtern. Wir sind davon überzeugt, aus den einfachsten Mustern (beispielsweise aus geometrischen Elementen) nicht nur ein großes ästhetisches Vergnügen zu ziehen, sondern auch unseren eigenen Geschmack besser zu verstehen. Der Erfinder der Arabesken der Alhambra in Granada, aber auch Mondrian hatten sich in ihrer Zeit offensichtlich mit Fragen beschäftigt, die den unseren sehr ähnlich sind. Ihre Haltung bestärkt uns.

Ishtar, Nr. 2, Paris, Juni 1959, S. 74


Ein tiefer Graben tut sich heute zwischen den ‹inspirierten Künstlern› auf, in deren Werken jedes Detail durch eine rein von der Intuition geleitete Wahl endgültig festgelegt ist, und den experimentellen Künstlern, die Situationen anbieten, in denen sich Raum und Zeit nicht nur für, sondern auch durch den Betrachter verändern.

The choice in present day art, in: DATA, Directions in Art Theory and Aestetics, Faber and Faber, London, 1968, S. 236


Wie ich diese Mißverständnisse beim Informationsaustausch liebe! Geistige Haltungen, nicht füreinander geschaffen, prallen aufeinander, perverse Gesinnungen bilden widernatürliche Paarungen, also schlicht alles, was dem Verstand zu einem freien, noblen und absurden Dasein verhilft.

François Morellet


Laubacher Feuilleton 4.1992, S. 7; mit freundlicher Genehmigung des Autors

Aus: Ikonoklastische Geometrie und verunfallte Geometrie, in: Bulletin, Galerie Liliane und Michel Durand-Dessert, Paris 1981

Übersetzt aus dem Französischen von Stefanie Buhles

 
Di, 25.08.2009 |  link | (1224) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



Unnütze Gesten

Es wäre grundverkehrt, die Digitalisierung der Bilder und die daraus resultierenden beliebigen Möglichkeiten der Manipulation als neues Phänomen aufzufassen. Neu daran sind nur die Technik, die Leichtigkeit der Handhabung und die Verbreitungsmöglichkeit. Die derzeitige Bilderschwemme in den verschiedensten Formen: Printmedien — also Photo —, Film, Fernsehen sowie, nicht zu unterschätzen, die private Bildherstellung via Photographie, trägt, genau betrachtet, die Züge eines Bildersturms.

Das Kernproblem liegt in der «dialektischen Bilderzeugung, die erst in der Nicht-Identität von Bild und Abbild ihre dennoch notwendige Identität erreicht». Bazon Brock betont ausdrücklich die Parallelen neuerer Streitigkeiten um das Verhältnis zwischen Abbild und Abgebildetem zum byzantinischen Bilderstreit des achten Jahrhunderts.

Tatsächlich gibt es, um einmal das Beispiel Fernsehen herauszugreifen, zwei konträre Standpunkte: Die einen behaupten, durch das Fernsehen verblödeten unsere Kinder und, seltener, wir selbst; man solle sich nur einmal das Programm anschauen usw. Die anderen, die noch an die Mündigkeit des Zusehers — Optimisten, die sie sind — glauben, heben die aufklärerische Funktion des Mediums hervor; wenn man etwas nicht mehr sehen wolle, könne man ja abschalten.

Ob letztere sich Werbefernsehen ansehen, ist schwer zu sagen. Wenn sie es tun, konnten sie einen Werbespot bewundern, in dem Elton John von Satchmo begleitet wird, während ihnen im Publikum Humphrey Bogart und Lauren Bacall lauschen. Der kleinste gemeinsame Nenner aller vier, von denen Satchmo und Bogart bekanntlich schon tot sind, ist eine Limonade, für die sie werben. Louis Armstrong und Bogart sind meines Wissens noch nie zusammen in einem Film aufgetreten, und schon gar nicht zusammen mit Elton John. Möglich wird so etwas mit digitaler Technik. Die Ausführung ist so perfekt, daß das Irreale der Szene nur dem aufmerksamen Betrachter auffällt.

Nicht weit entfernt davon, auf einem anderen Kanal, gibt es Reality TV, das pure Gegenteil, das sich mit der digital manipulierten Virtualität schon fast wieder trifft. Hier werden Videofilme gezeigt, von denen behauptet wird, sie seien «authentisch», Katastrophen oder Mord «live».

All dies geschieht noch im herkömmlichen Verhältnis Bild — Betrachter. Die neue Technologie weist nun in den Cyberspace (eine Wortschöpfung des Science-fiction-Autors William Gibson), in eine virtuelle Realität, an der wir aktiv teilnehmen können, in die wir eintreten können. Wir sind dann Teil dieser, also, so kann man schlußfolgern, selber nur virtuell. Der Umkehrschluß hieße, wir seien real, und, da wir uns tatsächlich in einem Raum bewegten, müsse auch dieser Realität sein. Die Bilderzeugung, soweit können wir Brock folgen, mag dialektische Züge tragen, für die Bildrezeption muß das stark angezweifelt werden.

Ausgangspunkt ist die begründete Annahme, daß, was uns als Bild erreicht, von uns als eine Art ‹Wahrheit› akzeptiert wird. Die Bilder in ihrer Fülle sind ein Teil der Realität — als Bilder —, die Wahrnehmungsgrenze zwischen Abbild und Abgebildetem verwischt aber immer mehr, das heißt, die Bilder werden nicht mehr als Bilder wahrgenommen. Im Jahr 787 auf dem zweiten Konzil von Nicea wurde von den Ikonodulen folgendermaßen argumentiert: «Niemand wird dermaßen irrsinnig sein, den Schatten und die Wahrheit, den Prototyp und das von ihm Abgeleitete, die Ursache und das aus ihm Hervorgegangene für der Substanz nach eines zu halten.» Das ist noch heute die Position unserer zweiten Gruppe. «Die Kunst», so resümiert Brock den Standpunkt der Bilderfreunde, «sei die Magd der Theologie, wie das Bild Magd des Bildbetrachters sei.»

Es geht hier um die Zweckbezogenheit des Bildes, um ein Phänomen von höchster Aktualität. Wenn der Inhaber einer Werbeagentur behauptet, Werbung sei Kunst, so hat er im umgekehrten Sinne teilweise recht. Kunst war immer eine Art von Werbung, sei es für religiöse oder für weltliche Anliegen. Sie ist jedoch gleichzeitig und vor allem immer auch Werbung für ihre eigene Autonomie, für ihre Zwecklosigkeit. Auch die Postmodernen offenbaren in dieser Hinsicht eine seltsame teleologische Sehnsucht nach Sinn — wenn sie sich auch (aus guten Gründen, ist anzunehmen) der mühseligen historischen Analyse verweigern.

Es entsteht dann die «individuelle Mythologie», die jedem Fitzelchen von Gedankenabsonderung einen absoluten Anspruch verleiht. «Individualisierung meint erstens die Auf lösung, zweitens die Ablösung traditionaler kollektiver Lebensformen durch solche, in denen die einzelnen auch innerhalb von Kleinfamilien ihre Biographie selbst durchhalten und zusammenflickschustern müssen.» — so der Soziologe Ulrich Beck. Ein Bestandteil dieser Herstellung einer individuellen Biographie war schon immer die (Amateur-)Photographie. Sie bot eine Verschränkung von objektiver und subjektiver Realität, denken wir beispielsweise an Urlaubsbilder: Die Seufzerbrücke in Venedig etwa ist objektive Realität, die nicht zu dem Zweck hergestellt wurde, als Kulisse für Photographien zu dienen. Trotz der der Photographie zu einem gewissen Grade immanenten «Automatisierung der Wahrnehmung», wie Paul Virilio das genannt hat, trägt der Hersteller einer Photographie — außer es ist ein Automat — ein subjektives Element in diesen Prozeß hinein, sei es durch Blickwinkel, sei es durch Plazierung eines Familienmitglieds vor der jeweiligen Sehenswürdigkeit, in unserem Fall der Seufzerbrücke.

Eine solche Erschaffung einer — fiktiven — Bildbiographie kennen wir von Marcel Duchamp, der einen Steckbrief mit zwei fast unkenntlichen Automatenphotos von sich selbst und einer Beschreibung, die auf jeden zweiten paßt, mit einer langen Liste von Namen, unter denen der Gesuchte aufgetreten sein soll, als Ready-made 1923 anfertigte; oder von Christian Boltanski, der sein Prinzip der Fingierung der eigenen Biographie und der anderer mit äußerster Konsequenz betrieb. Eine Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität ist bei ihm nicht möglich, denn, so Boltanski: «Je allgemeiner das Abbild ist, desto näher kommt es dem Leben.» Cindy Sherman schlüpfte in die verschiedensten Verkleidungen, ohne ihre wirkliche Identität preiszugeben; sie hat in der Konsequenz ihres ästhetischen Prinzips keine, denn auch die ‹wirkliche› ist in diesem Falle nur Verkleidung.

So ist die Individualität, die suggeriert wird, nur Schein, ‹Fake›.
Das geschönte Gesicht eines Politikers (z. B. ohne Doppelkinn, Warzen etc.), das uns von Wahlplakaten entgegengrinst, basiert auf der Hoffnung, die Betrachter würden —auch durch die Masse der gleichartigen Bilder — die Realität mit dem Bild verwechseln. Aber erst wenn die abgebildete Person nur noch als Bild existiert, also wenn das Original entweder wegfällt (was vorstellbar ist) oder wenn die Wirklichkeit dem Bild angeglichen wird, ist Deckungsgleichheit gegeben. Für letzteren Fall gibt es ein prominentes Beispiel. Der Popstar Michael Jackson wurde in der Realität — durch Gesichtsoperationen — dem Bild angeglichen, das, so kann man vermuten, von seinen Werbestrategen entwickelt worden war: nicht zu schwarz, nicht zu weiß, nicht zu maskulin, nicht zu feminin. Bei seinen Auftritten greift er sich ans (männliche) Geschlechtsteil — für die (weiblichen) Fans —, das Gesicht ähnelt dem von Diana Ross zu ihren besten Zeiten — für die (männlichen) Fans. Jackson ist eine lebendige Projektion.

Die Faszination durch Fremdartiges, die einen in der eigenen ‹Normalität› bestätigte, wurde abgelöst durch ein Identifikationsmuster, hergestellt aus dem Durchschnitt aller in Frage kommenden Konsumentengruppen. Das Ergebnis ist ein Monster, das beispielsweise schon immer als Vorbild für alle modebewußten Frauen durch Modezeitschriften geisterte. Roland Barthes hat es beschrieben: «So ist also die Frau, wie sie gewöhnlich von der Rhetorik der Mode bedeutet wird: unbedingt feminin, auf jeden Fall jung, selbstsicher und gleichwohl eine widersprüchliche Persönlichkeit. Sie heißt Daisy oder Barbara, verkehrt bei der Comtesse de Mun und Miss Phips; ihre Arbeit als Direktionssekretärin hindert sie nicht daran, zu jeder Jahres- und Tageszeit auf allen Festen dabeizusein. Regelmäßig fährt sie ins Weekend, reist ständig nach Capri, auf die Kanarischen Inseln und nach Tahiti, obwohl jede Reise an die Côte führt. Sie hält sich immer nur in mildem Klima auf und liebt alles gleichzeitig, von Pascal bis zum Cool Jazz.»

Bild und Realität stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Es ist beileibe nicht so, daß ausschließlich die Realität die Form der Bilder bedingt. Die Bilder interpretieren die Realität, und diese wird, im Rahmen ihrer Veränderbarkeit, den Bildern angeglichen. Indem der Bildraum dem realen Raum angeglichen wird oder umgekehrt, entfällt jene fruchtbare Spannung, die die Avantgarden in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts zwischen beiden Bereichen errichtet haben.

Dies ist der Fall bei digital gespeicherten Bildern bzw. im Extremfall bei dem, man kann in diesem Falle nicht mehr sagen ‹Phänomen›, Cyberspace. Die Möglichkeiten dieser Simulationstechnik sind, folgt man den Visionen der Techniker, phantastisch und nahezu unendlich. Man wird nicht mehr nur virtuelle Wirklichkeiten am Rechner konstruieren können, sondern man wird sich in diesen auch bewegen können. Es ist schwer vorstellbar, daß wir in Dallas zusammen mit J. R. Ewing einen Drink nehmen. Der Weg jedoch ist vorgezeichnet, wie man das an dem Gerangel um die Ranch der Ewings sehen kann. Diese Ranch ist nicht vergleichbar mit der Seufzerbrücke, denn sie ist eine rein konstruierte Wirklichkeit, wird aber genauso rezipiert wie die objektive (man müßte diesen Begriff immer in Anführungszeichen setzen)

‹Die Realität› gibt es nicht. Es gibt nur subjektive Wahrnehmung, die aufgrund der Beschaffenheit unseres physiologischen Wahrnehmungsapparates bestimmte feststellbare Ähnlichkeiten aufweist. Duchamp hat das in seiner Installation >Étant donnés: 10 la chute d´eau 20 le gaz d´éclairage (Gegeben sind: 1. der Wasserfall 2. das Leuchtgas) im Philadelphia Museum of Art vorgeführt. Es existiert nur das, was man sieht, das heißt alles, was außerhalb des Gesichtsfeldes oder unter der Oberfläche ist, ist nicht das, was wir uns mittels der Oberfläche oder des Ausschnitts vorstellen bzw. ergänzen. Der Betrachter kann auch nicht in den Raum eingreifen, er ist in die Position des Voyeurs, des Spanners gezwungen, denn er muß, um etwas zu sehen, durch zwei kleine Gucklöcher in einer Holztüre blicken. Dort, wo das Gesichtsfeld aufhört, hört auch das Geschehen innerhalb des Raums auf.

Ähnlich verhält es sich im Cyberspace, in den einzutreten man heute noch eines Helms und eines Data Glove bedarf. Der Rechner ermittelt nur die Daten für den gerade gewählten Ausschnitt, der wieder im Speicher verschwindet, um dem nächsten Platz zu machen, wenn man sich ‹umdreht›. «Zu den bedeutendsten Aspekten der Entwicklung von neuen Technologien der digitalen Bildproduktion und des synthetischen Sehens, das die Opto-Elektronik ermöglicht hat, gehört für mich», so Virilio, «die relative und relativierende Durchmischung von Faktischem (oder, wenn man das vorzieht, von Operationellem) und Virtuellem, gehört die Überlegenheit des ‹Realitätseffektes› über ein Realitätsprinzip, das übrigens, vor allem in der Physik, schon weithin abgelehnt wird.»

Von einer Manipulation von Bildern, wie es sie schon immer gegeben hat, bis zum Cyberspace oder gar zu der Entwicklung einer künstlichen Intelligenz ist noch ein weiter Weg. Vielleicht sind dies auch die neuen Utopien, an die sich manche Menschlein in ihrer Hilflosigkeit klammern? Auf Kongressen über das Thema jedenfalls geht es, wie Dirk Schümer in der FAZ schrieb, «wildromantisch» zu. Neurobiologen sehen die Entwicklung nüchterner. Sie sind der Ansicht, daß außerhalb der physischen Realität Information nicht verfügbar sei. Das Leben wird nicht zu einer spiritistischen Sitzung werden. Wir können nur den Stoff verarbeiten, der da ist.

«Ich bin allein, im Dunkeln. Und nur diese Feststellung. Ich glaubte mich fähig, frei eine Welt zu erfinden, die endlich von irdischen Dingen geräumt wäre. Nichts hat sich geändert. Ich kann lediglich laufen, dumm herumrennen, unnütze Gesten machen.» (Maurice Henry 1928 in der Zeitschrift Le Grand Jeu)

Ivo Kranzfelder


Laubacher Feuilleton 4.1992, S. 11
 
Mo, 06.07.2009 |  link | (1941) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



Finsteres Spiel

Das erotische Nichts bei Salvador Dalí

Der Bereich »Erotik in der Kunst« ist ein schwüles Terrain. Zahlreiche Autoren und Verleger haben sich daran versucht, unübertroffen jedoch ist immer noch die Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart des Eduard Fuchs. Für das 20. Jahrhundert sei hingewiesen auf den von Lo Duca herausgegebenen (längst vergriffenen) Band über Die Erotik im 20. Jahrhundert (Basel 1967) aus der Reihe Bibliothèque Internationale d'Érotologie (ja, sowas gab's mal!) oder die Moderne Enzyklopädie der Erotik in zwei Bänden (München, Wien, Basel 1963). Diesen Spezialitäten lag eine Karte bei mit folgender Verpflichtungserklärung: «Ich versichere, daß ich volljährig bin und verpflichte mich durch meine Unterschrift, den Band DIE EROTIK IM 20. JAHRHUNDERT verschlossen aufzubewahren und ihn keinem Jugendlichen unter 21 Jahren noch einer anderen Person zugänglich zu machen, von der ich annehmen muß, daß sie nicht die erforderliche Reife besitzt, um dieses Buch objektiv bewerten und beurteilen zu können.»

Nun zeigt die Tatsache, daß dem Exemplar, das ich antiquarisch erworben habe, diese Karte noch jungfräulich beilag, daß die Verpflichtung so ernst nicht genommen wurde. Schließlich befand man sich in den sechziger Jahren auf dem besten Wege zu einer «sexuellen Revolution», die allerdings längst zu einer ermüdenden Konsumerotik verkommen ist. Die Gründe hierfür liegen schon in den zwanziger und vor allem dreißiger Jahren. «Die Schönheit», hat Salvador Dalí gesagt, «ist nichts als die Summe des Bewußtseins unserer Perversionen.» Und: «Die Schönheit wird eßbar sein oder gar nicht sein.» Man findet hier den Ursprung einer Haltung, die Peter Gorsen als die «Kommerzialisierung des Lustprinzips» bezeichnet hat.

Dalí malte 1929 ein Bild mit dem Titel Le Jeu lugubre, das selbst unter den skandalträchtigen Surrealisten einen Skandal provozierte. Er, der sich als den einzig wahren Surrealisten bezeichnete, hatte zumindest insofern recht, als er die letztlich bürgerliche Grundhaltung seiner zeitweiligen Freunde, wie sie sich auch in den Recherches sur la sexualité in der Zeitschrift La Révolution Surréaliste äußerte, bloßstellte. Stein des Anstoßes war eine männliche Rückenfigur im rechten unteren Eck des Bildes, deren Hosen mit Kot beschmutzt waren. Im selben Jahr 1929 blieb Gala, damals noch die Frau des Dichters Paul Eluard, zum ersten Mal bei Dalí in Cadaqués. Gala gegenüber verwahrte sich Dalí heftigst gegen den ihm gemachten Vorwurf der Koprophagie: «Ich schwöre Ihnen, daß ich kein Koprophage bin. Ich verabscheue diese Abirrung ebenso rückhaltlos wie Sie. Aber ich betrachte das Skatologische als Schockelement, genau wie Blut oder meine Heuschreckenphobie.»

In der Tat lebte Dalí seine Perversionen hauptsächlich in seinen Bildern aus. Gala soll nach seiner eigenen Aussage die einzige Frau gewesen sein, mit der er jemals geschlafen habe. Luis Buñuel, eine Zeitlang sein enger Freund, bestätigt: «Gala ist die einzige Frau, mit der er richtig geschlafen hat. Hin und wieder hat er auch andere Frauen charmiert, amerikanische Millionärinnen vor allem, aber er begnügte sich dann etwa damit, sie in seiner Wohnung zu entkleiden, zwei Spiegeleier zu braten, sie ihnen auf die Schultern zu applizieren und sie dann ohne ein weiteres Wort wieder wegzuschicken.»

Dalís finsteres Spiel blieb letztendlich in der Phantasie oder erschöpfte sich in Voyeurismus. Seine Technik bestand in eben der Nicht-Verwirklichung seiner Vorstellungen: «Ich stelle mir die kompliziertesten erotischen Raffinessen, die kunstvollsten Kombinationen, die auf köstliche Art unmöglichen Stellungen vor und bin bereit, Millionen für Dinners, Wege, Einladungen, Kostüme, Beleuchtung, Dekorationen auszugeben. Aber mein glühendstes Begehren ist es, daß nichts geschieht. Nichts!»

Was von Dalí noch als subversive Aktion bzw. Nicht-Aktion gedacht war, ist mittlerweile die Regel. Allenthalben wird mit erotischen oder direkt sexuellen Reizen geworben, aber was passiert? Nichts. Als Ersatzhandlung soll der Konsum dienen. Auch hier gibt es eine Maxime Dalís, die dem ganzen Betrieb den Garaus machen würde, beherzigte man sie: «Ich bin mit meinem Sperma so geizig wie mit meinem Gold.»

Ivo Kranzfelder

Laubacher Feuilleton 14.1995, S. 7
 
Fr, 24.04.2009 |  link | (2419) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



Martine Dallennes

Die gerettete Hermetik — Rückkehr

Zuerst sind da Rätsel, der Schrecken, das Schöne, erste Erscheinungen des Neuen auch in der Rückkehr, aber das allein entscheidet nichts. Denn (um ein Diktum Walter Benjamins über die urbane Landschaft von Berlin auf die Malerei abzuwandeln): sich in einem Bild nicht zurechtzufinden, heißt nicht viel. In einem Bild sich aber zu verirren, wie man in einem Wald sich verirrt, braucht Schulung.

Davor wiederum steht Aggression. 1979 vernichtet Martine Dallennes ihr gesamtes bisheriges Werk, noch akademisch orientiert und antwortgebend allemal, einschließlich fast aller Schriftstücke. Was folgt, liest sich als permanente Suchbewegung, als Rückführung eigenen Wissens in einen Horizont des Fremden, als Recherche verlorener Malerei und Schrift im Experiment, das das Material, das da auf Bildern, Graphik und selbstgedruckten Büchern wie eine Obsession herumspukt, auf sich selbst zurückführt. Rückkehr: das sind dunkelblaue, fast schwarze Druckerfarben auf Leinenpapier, mit dicken Buchstabenschenkeln, Feder- und Tuschespuren als zu einer Spachtelbewegung verdichtete Zeichen. Notizübungen sind darauf, lakonische Kritzeleien, aber auch autobiographische Textfragmente, Schriftgruppen zwischen Kalligraphie (schönem Überfluß) und Dekompensation (kritischer Auflösung). Ein Projekt wird so ins Unbekannte gestellt, das sich in viele Fragen fassen ließe, vielleicht zwei davon: Lassen sich Bild und Schrift(-typen) — die sie in vielerlei Varianten alphabetisiert — versöhnen, lassen sich gar Anhaltspunkte für eine Universalsprache finden, aus dem alle Rede und alles Abbilden hervorgegangen ist? Und wenn dies scheitert, ließen sich Impulse für die Misere gegenwärtiger Kommunikationsmöglichkeiten gewinnen?

Nicht viele Themen gibt es, die die Kunstgeschichtler mehr beschäftigt haben als das Verhältnis von Wort und Bild, womöglich noch damit verbundener Raum- und Zeitdarstellung, Simultaneität und Sukzessivität. Ein völlig überschätzter Nebensatz des Horaz («ut pictura poesis»), der bis heute Karriere feiert als «Narrativität der Bilder», der raumgreifende Laokoon-Streit des 18. Jahrhunderts und die Provokation, die z. B. Kubisten oder Futuristen mit der Einbeziehung von Schrift als Alltagsmaterial ins Bild erzielen wollten, sind dafür nur ein paar markante Beispiele, nicht zu reden von zahlreichen Einzelfiguren wie Paul Klee.

Gesprochene Sprache — sprechende Sprache
Zum Glück ist aber Innovation nur eines von vielen ästhetischen Kriterien. Martine Dallennes insistiert also, fragt unbeirrt in ihren Versuchen, die malerische Elemente des Farbauftrags mit typographischen oder manuellen Varianten von Schrift in Beziehung setzen wollen. Um nun die populäre Einhelligkeit darüber zu differenzieren, daß Worte und Pinselstriche nicht dasselbe sind, bemühen sich semiotische Ansätze um eine Trennung der Zeichentypen: verbale Zeichen seien solche, die willkürlich ihren Inhalten zugeordnet sind, arbiträr also (oder modisch gesagt: digital), die außerdem begrenzt sind, auf der anderen Seite bilden ikonische Zeichen wahrnehmungsähnlich den Darstellungsinhalt nach, sind also durch ihn motiviert oder (wieder modisch:) analog gebildet, haben dabei fließende Übergänge. Eine problematische wie prophylaktische Einteilung, die Übergangsphänomene an den Rand plaziert — zugestanden wird etwa, daß (Post-)Impressionisten mit ihren divisionistischen Pinselstrichen digital malen. Und grundlegender: sprachliche Äußerungen evozieren bildliche Assoziationen, aber auch umgekehrt bedeutet kein Bild etwas, wird es nicht sprachlich kommentiert, ergo: kein visuelles Zeichen entsteht oder wird gedeutet ohne einen kulturellen Kontext. Das Bild ist so vorformuliert und kulturell bedingt wie nur irgendeine Alltagserscheinung, und in der bildenden Kunst stellt sich dieses Problem doppelt: alltäglich ohnehin besprochen, ist sie über das Gebäude der Kunsttheorien auch noch immer mit sich selbst im Gespräch — ein Umstand, den besonders Umberto Eco (Einführung in die Semiotik) und Nelson Goodman (Languages of Art) betonen. Andererseits, und dieses Dilemma löst auch keine Semiotik, scheint es Randständigkeiten des Sehens zu geben, Ausnahmeerscheinungen, unmittelbare optische Eindrücke, die noch nicht vorbesprochen strukturiert sind — so hoffen es die Theorien des reinen Sehens, des ‹innocent eye›, oder doch solche, die auf Grenzüberschreitungen setzen, die im gemeinsamen Auftreten von Schrift- und Bildzeichen unbekannte Ereignisse produzieren. Dem tragen auch die Versuche Martine Dallennes' Rechnung, ja, so gesehen wären Probleme der Zeichenübermittlung überhaupt nur in Kombination mit dem je anderen Medium zu lösen. Das Bild, figurative wie abstrakte Elemente brauchen zu ihrem ‹neuen› Gesehenwerden den Kommentar, damit sie selbst neue Gestalt annehmen können. Beide Zeichentypen sind also durch kulturelle Praxis verbunden, ohne daß sie aber auf der Materialebene identisch sind. Wie aber könnte man solche Schrift-Bildprozesse beschreiben?

Denn Probleme, so wiederum Eco, «entstehen im Fall einer neuen und undefinierbaren Inhalts-Einheit (wenn man unter solchen Umständen noch von einer Einheit reden kann) oder vielmehr eines Inhalts-Nebelflecks, der nicht in erkennbare und definierte Inhalts-Einheiten aufgelöst werden kann. [...] Wenn der Maler zu arbeiten beginnt, ist der Inhalt (in seiner nebelhaften Struktur) weder codiert noch in präzisen Einheiten artikuliert. Er muß erfunden werden.» Stimmt. Aber nicht nur der Inhalt ist noch offen, sondern auch der bloße Ausdruck muß erst gefunden werden, wir stehen «vor der paradoxen Situation, daß der Ausdruck sich nach einem Inhaltsmodell richten muß, daß als solches noch gar nicht existiert». Da der Inhalt eben noch nicht festliegt, einer wäre, der nur noch eben ins Bild umgesetzt werden müßte, also schon vor seiner Verfertigung da wäre, bleibt eine doppelte Suchaufgabe: alle nur erfindbaren «Ausdrucks-Clusters» (Eco) müssen gegriffen werden, um zugleich einen noch unbekannten Inhalt zu vermitteln. Der vorhersehbare Inhalt wäre codierbar, der Inhalts-Nebelfleck muß eine Kryptomechanik des Neuen erzeugen, in dessen Umkreis der Betrachter noch abwehrend, zögernd eintritt. Es geht dabei um die offene Situation des Signifikanten, um das Neudenken eines scheiternden wie auch schönen Codes als Blindflug, der vom Signifikanten her auf Künstlerin und Betrachter steuert. Nicht nur nebenher wird dabei der Leser-Betrachter aus der Konsumentenrolle zum Produzenten promoviert.

Gerade aber auch Motive, Spuren von Gegenständlichkeit, lassen ihrer Malerei und Zeichnung Raum für produktive Deformation. Das Märchen vom Feuervogel wird variiert, der sich sterbend verbrennt, um verjüngt wiederaufzuerstehen, Phönix gehört in diesen Zusammenhang, Ikarus, der von seinem Flug träumt, Stadtlandschaften und nicht zuletzt auch Masken, die allegorisch Stellung nehmen zur Verweigerung von fixierter, dinghafter Bedeutung. Dabei würde allein der gestaltsuchende, identifizierenwollende Blick schon genug Anhaltspunkte finden, um lange beschäftigt zu bleiben. Man denkt ausschweifend an Stadtstraßen als Sprache, Häuserkonstellationen als Bilder, man sieht Zeichentrümmer, die wie Leichen dort liegen, Abfall, Tierteile treiben dort vorbei, hungrige Vögel, Strichmännchen. Irgendein Luftzug trägt einen Schneeball, in den wieder eine ganze Landschaft eingelesen werden kann. So ‹inwendig voll Figur› sind die kleinen Tintenspuren, die auf die von einer Gummiwalze aufgetragenen Farbflächen gesetzt oder von ihr halbbedeckt werden, daß jedes dinghermeneutische, vereindeutigende Verfahren untauglich scheint, schließlich zum Rorschach-Test wird, der alles über den Betrachter, nichts aber über den Gegenstand sagt.

Folgerichtig scheint der Versuch, das Darstellungsmaterial auf seine Ausdrucksfähigkeit hin abzuklopfen, um in historischer Rückführung, in einer Archäologie der Zeichen, mehr über ihren Horizont und Ursprung zu erfahren. ‹Babel› von 1988 kennzeichnet ausdrücklich diese Suche nach den verlorenen Sprachursprüngen, aber, Hybris des Unternehmens: nichts wird herausgefunden, zwecklos scheint es, etwas Festes über die Entstehung von Sprache und ihre Diversifizierung zu sagen, der Nullpunkt der Verständigung löst sich auf in neue Wirbel, drei (!) Bildzentren sind von Linienhäufungen, Strichbildungen umflattert. Waren zu Beginn der achtziger Jahre noch ganze Textseiten unversehrt in die Bilder aufgenommen worden und hatten dort ihren sicheren Ort, waren sogar noch fast dekoriert von den sie umgebenden Farben, lösen sie sich nun in Buchstabengewebe auf. Die Unwahrscheinlichkeit gelingender Benennung, die nur durch willkürliches Festsetzen funktioniert, wird sichtbar, die romantische Suche der zwischen Zeichen, Wort und Farbe schwankenden Spuren, die sich als gestörte, nicht mehr funktionierenwollende erweisen, bleibt erfolglos. Die Künstlerin wird zum Leser der eigenen Schrift, die sie entstehend beobachtet, ihren erwachsenden Regeln folgend, ihren Algorithmen, die ohne Grund und Boden neue Ansichten und Deutungen eröffnen. Eine Phantasieschrift spult sich da auf dem Papier ab und bildet selbstähnliche Ordnungen, unverständliche Worte entstehen, die durch ihre typographische Gestaltung und Plazierung einen Wert erhalten, absichtslos geschieht all das, im Entlanglaufen der Feder über das Papier.

Der Zweifel an Sprach-Spielen führt bis zu einem Alphabet schwarzer Lettern, einer Serie auf blauem Grund als neuerlich umfassender Inventur. Weitere Versuche mit in der Druckgraphik gebräuchlichen Lettern werden gemacht, die gelegentlich als das einzig noch gesicherte Wissen über Schrift erscheinen. Amuïssement, Verstummen und Recherche einer dann wiedergefundenen Sprache bilden in den letzten Jahren Zyklen in ihrem Schaffen; Zeichen ersticken, werden übermalt in blau, weiß oder rot, dann wieder, vor einem Neubeginn, ballen sich die Schriftzüge unerkenntlich zusammen, erscheinen sogar Eigenappelle im Werk — man solle neu beginnen, (von) Sprache neu lernen, heißt es in einem Bild. Was auch ihre Vorliebe für das Erlernen von Fremdsprachen erklärt, als Möglichkeit für Verfremdungstricks: ein Lerner hat stets eine andere Sicht als der Muttersprachler, gebraucht Strukturen falsch und liefert fehlerhafte Übertragungen.

Fremderfahrungen mit Bild und Sprache belegt auch ein Traum von ihr: indem ein Bild angesehen wird, wird es weggeschaut, Sätze, die geträumt werden, weggesagt. «Man hörte Hände» ist so ein Satz, der als Sprachrhythmus fordert, etwas Neues zu tun, wie dies aber auch verständlichen Worten gehen kann, sagt man sie oft genug vor sich hin. Schutz gegen die vereinnahmende Wut des Verstehen bietet die Möglichkeit, alles auf Spuren zurückzuziehen, das Unterwegssein zur Sprache erst neu zu bahnen. Um es aber nicht allzu sehr heideggern zu lassen, Sätze wie «Die Sprache ist uns stets schon voraus» oder Lakonismen wie «Die Sprache spricht», ihrerseits zur Modephrase tendierend, nachzuplappern, soll noch einmal Benjamin erwähnt werden: Gegen die Vorstellung, daß Sprache nur ein Mitteilungsvehikel sei, beschwört auch er ihre offenbarende Kraft: »Die Sprache ist nicht Instrument und nicht Mittel des Subjekts, sondern jenes Medium, an das und in dem es sich verliert, um zu sprechen: die Sprache spricht (von sich selbst)« — so in seinem Essay ›Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen‹. Im Unterschied zu Heidegger aber ist Sprache für Benjamin in ständiger Umsturzbereitschaft und hat ein ethisches Motiv dahinter: aus ihr selbst ergehen keine Befehle oder Handlungsmaximen, aber eine Vielzahl von Möglichkeiten stellt sie bereit, und am Subjekt liegt es, sie zu nutzen oder nicht. In der Rückbindung an die, die sprechen, sind Spielformen sprachlichen Handelns zu erweitern.

Gedächtnis(se)
Arbeiten, bevor noch das Vergessen vergessen wird, an einer Archivierung, an einer Biographie der Zeichen, die Gedächtnis ihres eigenen Materials wie auch sozialer Ereignisse sind, ist Ziel Martine Dallennes', das sie derzeit als Projekt einer ‹Geschichte der Zeichen› verfolgt. Dabei sammelt sie auch natürliche Zeichen, Windabdrücke im Sand, bezieht einen anderen Zeichentyp, nämlich Ziffern mit ein und spannt ihre Geschichte von der Beginnlosigkeit bis zur Computersprache — die auch wieder mit graphischen Mitteln dargestellt wird. Poststrukturalismus und Kybernetik, die der Botschaft die Substanz absprechen, verschaffen den Medien sicherlich eine formidable Aura, und das ganze mündet dann in die fatalistische Plattheit McLuhans, daß das Medium selbst die Botschaft ist, durchaus vergleichbar mit der Sprachmystik Heideggers. Ein Medium ist aber an sich noch gar nichts, wenn es nicht zu bestimmten Zwecken auf bestimmte Weise genutzt wird. Entgegen der Auffassung — stellvertretend dafür Vilém Flussers Essay Die Schrift — daß das Medium der Schrift abgewirtschaftet habe, eben weil es nicht vergessen kann, weicht sie gerade nicht auf modische Medien (art ware usf.) aus, sondern experimentiert weiter mit der Kombination von Farbe und Alphabeten, griechischen, lateinischen, arabischen oder chinesischen, die Anstöße zur Verwandlung geben. Daß dabei die Archäologie der Handschriften und die Anklänge an Höhlenmalereien nicht das abbilden, was sie aufbewahren, daß sie nicht mimetisch sind, kann kein Gegenargument sein. Ars memoriae erinnert an sich selbst als Medium gegen die Verabschiedung aus Altersgründen, evoziert, stellt in einen Möglichkeitshorizont von Abbildungen zurück. Archiviert werden so Zeichenbildungsprozesse, die immer neu anlaufen können — und damit ein subversives Erkenntnisinteresse haben.

Authentizität?
Bleibt bei der Biographie der Zeichen, die manchmal auch zur obsessiven Angst werden, noch Platz für das Subjekt, oder ist dies nur ein alter Mythos, der post Lacan (mit dessen Schriften Martine Dallennes vertraut ist) restaurativ wirkt? Das Be(ein)drucken von Papier ist zwar ein automatistischer Vorgang, hinter dem das Subjekt zurückbleibt. Der Künstler habe sich im Werk verborgen im Hintergrund zu halten — eine ambivalente Formel ist dies dennoch, weil damit auch anerkannt wird, daß sich persönliche Spuren im Werk niederschlagen. Graphik ist eine Handdisziplin, und das Gestuelle, das Unkontrollierte sind ebenso offenkundig subjektiv wie das Material beim Einsetzen von Druckertypen sich objektiviert. Autobiographischer Abdruck im Wunderblock des Papiers und Technik — sie bezeichnen eine Spannung, die sich bei ihr auch in einem ‹Autobiographie› betitelten Werk zeigen: da werden auf Computer-Endlospapier Lebensereignisse symbolisiert, die in ebenso rätselhaften wie gelegentlich figurativ ergänzten Spuren erscheinen wie die ‹Geschichte der Zeichen›. Der Autor ist nicht mehr Herr im eigenen Hause, verschwindet hinter seinen Zeichen, ist aber ebenso inkommensurabel wie diese. In die Zeichen verstrickt, ist das Subjekt alles andere als souverän, aber indem es sein Sehen sieht, kann es in Prozesse eingreifen. Mit romantisierender ‹Authentizität› oder ‹Identität›, einer Selbsteinheit hat das jedoch nichts mehr zu tun.

Das Andere
(Rückkehr) L'autre, angloamaerikanisch: ‹otherness› oder gar das Partizip ‹othering› haben zwar Konjunktur als Gegenbegriffe zur baren Vernunft, ja sind in vielen Varianten in Hochform auch dann, wenn blanke Affirmation durchschlägt. Abseits der Mode aber könnte sich ein kritischer Zug von Alterität behaupten, geht es darum, ihn in Verfremdungseffekten zu erweisen. Die Klage geht über Miskommunikation und wird sich nicht damit abspeisen lassen, sie sei nicht innovativ; im Schwitzkasten der Medienhochkonjunktur («Wir informieren uns zu Tode», so Neil Postman) könnte das ganze Leben tatsächlich ein Quiz werden, das keine anderen Erkenntnisse zuläßt als RTLplus, werden nicht die Zeichen auf sich selbst gespiegelt oder verrätseln sie sich nicht gegen ihren Gebrauch.

Insistierende Fragen an sprachliche und graphische Ausdrucksmittel, die die Tendenz zum Verstummen vielleicht doch noch rückgängig machen könnten, Fragen auch gegen eingefahrene Signifikationen — so ist ‹Rückkehr› Schulung ohne imperative Botschaft, ist Fremderfahrung im eigenen, Erinnerung an sich selbst und Rekapitulation der Ausdrucksmöglichkeiten. Geheimbotschaften, Gegen-Kommunikation werden hier hermetisch inszeniert als programmatische Weigerung, verstanden zu werden, ja noch, sich selbst zu verstehen. Ein/Fall, gegen die Begradigung von Zeichen:

bababadalgharaghtakamminarronnkonnbronntonnerronntuonnnthunntro-varrhounawnskawntoohoohoordenenthurnukenthurnuk.

Ralph Köhnen

Laubacher Feuilleton 3.1992, S. 8
 
Di, 07.04.2009 |  link | (1972) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



12.367 tägliche Gedanken

Täglich hat der Mensch 12.367 Gedanken, behauptet eine PKW-Werbung im BBC. Das Image des dynamischen Geschäftsmanns scheint zum neuen Modell zu passen und das Soll zu erfüllen: so sieht jemand aus, der wie sein Fahrzeug am Tag fünfstellig denkt. Wieviel denkt der Mann in der Nacht?

Solchen Gedanken hängen wir so lange nach, daß wir alle weiteren versäumen, die uns die halsbrecherischen Einstellungen und Schnitte aufdrängen wollen. So wären wir als Testpersonen bei der Gedankenzählung sofort weit unter den Durchschnitt gefallen, wobei uns auch keiner an die Automarke mehr kam. Gedankenstrich. Freiheit, Gut, Blitz, Sprung, Spiel, Splitter, Armut, Reichtum, Austausch, Gang, Akrobatik, Übertragung und Verbindung lassen sich dem Wort anhängen. Aber Zählung ist neu. Was wird gezählt, wenn Gedanken gezählt werden? Zählen Hintergedanken? Rechnen Nebengedanken halb? Fällt Gedankenschwere ins Gewicht?

Gedanken werden durch Zeichen übertragen. Auch die Zeichen einer chinesischen Zeitung kann jeder nachzählen. Aber sie vermitteln vielleicht nur den Gedanken, daß man sie im Kramladen zum Einwickeln von Reisschalen brauchen kann. Wir können die Zeichen nicht lesen, andere können es. Doch spätestens die ‹Konkrete Poesie› hat gezeigt, daß eine Menge Zeichen allein noch nichts Genaues bedeuten muß. Vom Schulaufsatz wissen wir ungefähr, seit Wittgensteins Tractatus klar und deutlich, daß ein ordentlicher Grund-, Kern- oder Leitgedanke in Hauptgedanken zerfällt. Diese wiederum können in einer numerierbaren Hierarchie von Explikationen gegliedert werden: Generäle, Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften. Auch bei verschiedener Gewichtung ergibt die Summe der Punkte allerdings weder die Gedankenzahl des Tractatus noch die des Autors und seiner Leser. Das Prinzip 1.1.1.1 ... kennen wir vom Inhaltsverzeichnis oder von Computerdateien.

Der Datenbegriff führt zu unserem Werbestreifen zurück. Wir halten fest:

1. Gedanken gehen aus Stromstößen im Gehirn hervor.
1.1. Stromstöße kann man registrieren.
1.2.1. Auch gedankenlose Stromstöße werden mitgezählt.

2. Das Kreativstudio hat Gedanken mit Daten verwechselt.
2.1. Die Datenautobahn befördert das Produkt Automobil.

3. Die digitale Verrechnung von allem, was der Fall ist, favorisiert die Umwandlung von Gedankenflügen in Datenmengen.
3.1. Die Alptraumströme, die bei der elektronischen Gedankenzählmaschine abfallen, können nur ungenau gemessen werden.
3.2. Was sich nicht genau messen läßt, existiert nicht im System. Es ist das Wunderbare.

Hier verlassen wir den Highway und finden uns im Fragengestrüpp. Wie drückt sich ein Bildgedanke in Frequenzen aus? Entsprechende Berechnungsmodi konnte man in der euphorischen Gründerzeit der Informationsästhetik bei Max Bense nachlesen, der die Qualität von Rembrandt-Radierungen gemessen hat. Sie wäre sicher hinter der Computeranimation und Schnittechnik unseres Spots so weit abgefallen, daß man dem Künstler die 12.367 täglichen Gedanken nie abgenommen hätte. Selbst diese Zahl wäre erst Durchschnitt und kein Geniemaß. Erst der Rembrandt-Trailer im Internet könnte den beschleunigten Gedankenstandard erreichen, den heute der Kunstkonsument verlangt. Zur Methode fällt uns ein, daß man Impulse umso genauer quantifizieren kann, je gleichförmiger sie verlaufen. Dann wäre die ideale Testperson diejenige, die einen Tag lang 12.367 mal gleichförmig ‹ein Streichholz› denkt. Das wäre zugleich autogenes Training, das eine erholsame Gedankenleere im Gehirn erzeugt, bei der auch das Streichholz bald verschwindet. Danach könnte es ein Maß für Wiederholungen geben, das sich zwar für den Mittelwert, nicht aber für die Werbung eignete, weil zu oft wiederholte Zeichen auch bei einem Produkt ihren Sinn verlören.

Übrigens verzeichnet das Guinessbuch der Rekorde niemanden, der es an einem Tag auf 12.367 Streichhölzer gebracht hätte. Wer statt des Streichholzgedankens hauptsächlich den National-, Rasse- oder Elitegedanken im Kopf hat, eignet sich trotz der einfältigen Impulse weniger zur Ermittlung des statistischen Durchschnitts, denn die emotionalen Amplituden könnten bei der Messung Unschärfen ergeben. Aber das würde uns jetzt zu weit ins Feld der Nachtgedanken führen.

Thomas Zacharias

Laubacher Feuilleton 19.1996, S. 16
 
Sa, 28.03.2009 |  link | (1505) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



Verdauungsbeschwerden

Über Kunst, Essen und Trinken

Wie entsteht Kunst? Natürlich jedesmal verschieden, sonst wären ja durchwegs ähnliche Ergebnisse zu betrachten. Wer ist heutzutage ein Künstler? Vielleicht der, der in den meisten Ausstellungen vorkommt? Oder der, der öfter als andere in Zeitungen und Zeitschriften erwähnt und besprochen wird? Die Kuratoren sind meist dieselben, die Autoren sind meist dieselben, und da ist es logisch, daß auch die Künstler meist dieselben sind. Die Ausstellungen schauen ziemlich gleich aus, die Artikel lesen sich ermüdend ähnlich. Die Parallele zum Jahrmarkt oder zum Zirkus ist evident: Die Achterbahn oder Geisterbahn, je nachdem, ist immer dieselbe, geht aber auf Tournee. Niemand allerdings käme auf die Idee, einer Geisterbahn hinterherzureisen, man weiß ja, sie kommt jedes Jahr wieder zur selben Zeit und am selben Ort, man weiß, wie sie aussieht, man gruselt sich auch bald nicht mehr. Deklarierte man aber die Geisterbahn zu Kunst, ein ganzer Strom gläubiger Jünger zöge hinter ihr her, voller Bewunderung, ab und zu in Anbetung innehaltend. Der Unterschied zum Gruseln ist zu vernachlässigen.

In Ehrfurcht jedenfalls steht man da, das Wort «Künstler» ist mit der nötigen Tiefe und sehr bedeutungsschwanger auszusprechen, eine Aura hat sich einzustellen, eine Gloriole schwebt im Raum, darüber ein kleines, goldenes Krönchen. Mehr als der gläubige Bewunderer zählt jedoch der Besitzer, das ist nicht erst heute so, aber heute besonders. Animistische kannibalistische Vorstellungen stecken dahinter: Kaufen ist wie aufessen. Esse ich das Hirn meines getöteten Feindes, dann nehme ich seine Intelligenz und was sonst sich noch da drin befinden mag, in mich auf. Kaufe ich ein Bild — ja, was dann? Dann kann das passieren, was Yasmina Reza mit viel Witz in ihrem Stück Kunst geschildert hat: Abgründe tun sich auf, menschliche Katastrophen spielen sich ab, und alles nur deshalb, weil ein Dermatologe — nichts gegen Dermatologen! — ein modernes Bild gekauft hat, in weiß, für eine horrende Summe, und weil einer seiner besten Freunde dieses als «weiße Scheiße» bezeichnet hat.

Wer den Bereich der Ästhetik ghettoisiert, in einer abgehobenen Sphäre ansiedelt, der kann leicht auf der Nase landen. Was Henning Ritter in der FAZ über den akademischen Betrieb äußerte, das gilt für die Kunst schon lange: «Das globale akademische Milieu ist umfangreich genug geworden, um als Adressat und Publikum seiner selbst zu taugen.» Diskreditiert wird — wieder einmal — die banale Realität: Man flüchtet sich in höhere Sphären, die Kunst hat sich als Religionsersatz schon im 19. Jahrhundert bewährt.

Es gibt Menschen, deren höchstes Glück besteht darin, echten Künstlern zu begegnen und beispielsweise mit ihnen zu Tisch zu sitzen. Vielleicht färbt ja was ab vom Genie, wer weiß? Man denkt dabei an den Film Der diskrete Charme der Bourgeoisie vom alten Anarchisten Luis Buñuel, in dem er die Verhältnisse umdreht: Eine Abendgesellschaft sitzt auf Kloschüsseln um einen Tisch herum — die Herren mit heruntergelassenen Hosen, die Damen mit hochgezogenen Röcken —, und man macht Small Talk. Ab und zu steht eine Person auf, erkundigt sich diskret nach einem Örtchen, zieht sich in einen kleinen Verschlag zurück und schlingt dort ziemlich unappetitlich irgendetwas zum Essen in sich hinein.

Würden Sie einen Künstler aufs Klo begleiten? Um festzustellen, daß sich die Verdauung eines Künstlers nicht so sehr von der Ihrigen unterscheidet? Außer er hat Durchfall und Sie nicht? Es gibt ja tatsächlich Künstler, die haben sowas wie Schaffensdurchfall, die sondern ununterbrochen irgendwelches Zeug ab, das die, die dem Entstehungsprozeß nicht beiwohnen, dann in eben den erwähnten Ausstellungen darbieten, die wiederum in den ebenfalls erwähnten Zeitungen und Zeitschriften rezensiert werden. Aus dem Altpapier wird dann Toilettenpapier hergestellt, mit dem wiederum die Künstler … Usw. usf. Man nennt das Recycling. (Das Äquivalent zum künstlerischen Schaffensdurchfall heißt bei Kunsthistorikern und Kritikern Logorrhöe, Wortdurchfall.)

Die Scheiße hat als Material und Thema bereits Eingang in die Kunst gefunden, Piero Manzoni hat sie in Konservendosen abgefüllt, Dieter Roth hat kleine Hasen daraus geformt, um nur zwei Beispiele zu geben. So falsch ist der Vergleich ja auch nicht. Noch einmal die Frage: Wie entsteht Kunst? Durch Aufnahme, Verdauung und Ausscheidung. Von nichts kommt nichts.

Doch nun zur Frage: Was essen Künstler? Was trinken sie? Was empfehlen sie? Giorgio Vasari etwa berichtet von Piero di Cosimo, dieser habe so einfach gelebt, daß er sich darauf beschränkt habe, nur harte Eier zu essen. Wenn er Leim für seine Grundierungen kochte, sott er aus Gründen der Sparsamkeit die Eier gleich mit, und zwar nicht nur sechs oder acht, sondern gleich an die fünfzig. Er hob sie in einem Korb auf und verzehrte sie nach und nach. Gegen Ende seines Lebens soll Piero etwas seltsam und wunderlich geworden sein. Er schimpfte auf Ärzte, Apotheker und Krankenpfleger und warf ihnen vor, die Patienten verhungern zu lassen. Wahrscheinlich haben sie ihm verboten, harte Eier zu essen.

Einer seiner Schüler war Jacopo da Pontormo, der sich ebenfalls zu einem Sonderling entwickelte — sowohl in seinen Arbeiten als auch in seinen Eßgewohnheiten. Seltsam mutete es damals an, wenn ein Künstler nur das machte, wozu er gerade Lust hatte und nur für den Auftraggeber arbeitete, der ihm paßte. Kein Künstler, so kommentierte Vasari, sei verpflichtet zu arbeiten, außer wann und für wen es ihm gut scheine; leide er dadurch, so sei es sein eigener Schaden. Trotz der Bewunderung für Pontormo hatte der Chronist vor allem eines auszusetzen: Pontormo ahme Dürer nach! Das war unerhört. Schließlich kämen ja, empörte er sich, die Deutschen und die Flamen nach Italien, um die italienische Manier nachzuahmen und nicht umgekehrt. Warum also wollte Pontormo gerade das loswerden, weswegen die Nordlichter in den Süden reisten?

Gegen Ende seines Lebens, Anfang des Jahres 1554, begann Pontormo, einige Notizen in eine Kladde zu schreiben. Darin geht es zu einem großen Teil ums Essen und, damit untrennbar verbunden, um die Verdauung. Giorgio Manganelli nannte den Maler einen schwankenden Psychotiker, einen «borderline». Pontormos Aufzeichnungen sind wohl das eigenartigste autobiographische Dokument eines zu seiner Zeit hochberühmten Malers, das wir kennen. Was bewegt so einen Maler? Ein kurzer Ausschnitt. Wir schreiben das Jahr 1555:

«Mittwoch, den 1. Mai, zu Abend 12 Unzen Brot, 1/2 Köpfchen, Käse und grüne Saubohnen. Donnerstag die andere Hälfte zum Abendessen. Freitag, zum Abendessen mit Piero einen Eierfisch, Salat und Dörrfeigen. — Fest der ‹Kreuzauffindung›. Samstag einen Eierfisch mit Rübenkrautsaft, Zucker und Rübenkrautsuppe und 10 Unzen Brot. Sonntag abend zwei Eier. Montag gebackene Lammleber. Dienstagabend ein Lammherz, gesottenen Schweinebauch und 10 Unzen Brot; und den Arm der Figur angefangen und zwar so: (Es folgt eine winzige Skizze) — Mittwoch der Tasso gestorben — und Donnerstag die Figur fertig gemacht, mit Daniello zum Abendessen gegangen: gebratenes Zicklein und Fisch. Freitagabend einen Eierfisch und Salat, 10 Unzen Brot, Wein weniger als einen Viertelkrug.»

Und so weiter und so weiter.

Hier hat ein Künster, der zu den ersten seiner Zeit zählte, etwas aufgeschrieben, und sein wichtigstes Thema ist die Verdauung. Von der Kunstgeschichte sind diese Aufzeichnungen bisher wenig beachtet worden. Vielleicht auch deshalb, weil man den Zusammenhang zwischen Kunst und Verdauung bisher unterschätzt hat. Ein Zeitgenosse Pontormos, der Bildhauer Benvenuto Cellini, hat ungefähr zur selben Zeit seine Autobiographie verfaßt. Er rühmt dort die eigenen Werke, verleumdet seine Konkurrenten, rechtfertigt seine Rauflust und seine Streitsucht, alles ganz normale Dinge — aber kaum ein Wort über seine Ernährung! Selbst wenn er darüber geschrieben hätte, Goethe hätte in seiner berühmten Übersetzung diese Stellen wahrscheinlich ausgelassen.

Machen wir der Kürze halber einen Sprung ins 19. Jahrhundert. Im ersten Band des Kapitals stellte Karl Marx fest, daß beim Handel bestimmte Wilde oder Halbwilde das Angebotene zweimal ableckten, um ihre Zufriedenheit mit dem Geschäftsabschluß kundzutun. Im Norden sei die Zunge das Organ der Aneignung, im Süden gelte der Bauch als Organ des akkumulierten Eigentums: So schätze der Kaffer den Reichtum eines Mannes nach seinem Fettwanst.

Karl Friedrich von Rumohr, Schriftsteller, Kunsttheoretiker — ein Dilettant im besten Sinne des Wortes — schrieb zu Beginn des 19. Jahrhunderts über den «Geist der Kochkunst». Mengenangaben und präzise Rezepte wird man darin vergeblich suchen. Rumohr legte Wert auf den nationalen Charakter einer Küche. Kochen war für ihn Kunst und Wissenschaft zugleich, Essen nicht nur Nahrungsaufnahme, sondern mit zahlreichen anderen Dingen verbunden: «Die im Anhange verbreiteten kleinen Wahrnehmungen über den Auftrag und die Anordnung der Speisen, über die moralischen Ursachen, welche den Genuß erhöhen oder vermindern, die Verdauung begünstigen oder aufhalten, wurden höchstwahrscheinlich hinter dem Stuhle aufgegriffen, von woher die meisten Kommensalen weniger beobachtet zu sein wähnen, als im Durchschnitt wohl der Fall ist.»

Der bekannteste Maler des Biedermeier, Carl Spitzweg, ein gelernter Apotheker, hat eine gutbürgerlich-bayerische Rezeptsammlung hinterlassen. Henri de Toulouse-Lautrec, der sich bekanntermaßen gerne in Kneipen und anderen einschlägigen Etablissements herumtrieb, verfaßte ebenfalls ein Kochbuch. Im Gegensatz zu Spitzweg ist dieses international, es enthält sowohl eine Zubereitungsart für Heuschrecken als auch ein «Käsebrot zum Durstmachen». Letzteres wird verständlich, wenn man weiß, daß Toulouse-Lautrec einer der ersten war, die sich für Cocktails interessierten.

Den Versuch, Küche und Ideologie zu verbinden, unternahmen in einem manifestartigen Kochbuch die italienischen Futuristen. Sehr spät verfaßt, zu einer Zeit, als sie mit dem Faschismus sympathisierten, war dieses Buch gegen die Pasta gerichtet: Die weichliche Nudel passe nicht zum neuen, starken Volk. Der bereits damals bekannte Grundsatz, Nudeln al dente zu kochen, wurde wohlweislich verschwiegen. Neues Nationalgericht sollte das stark machende Risotto werden, vorzugsweise mit Wein oder Bier zubereitet. Daß dieses Ziel — bis auf vielleicht die Gegend um Mailand, wo das Risotto von jeher Tradition hat — nicht erreicht wurde, ist bekannt.

Noch ein kleiner Exkurs über die «Gegenständlichkeit in der Kunst», wie sie 1920 der Dadaist Raoul Hausmann beschrieben hat. Kunst, so meinte er, sei eine Sache der Nation. Und Nationalität sei «der Unterschied zwischen Polenta, Bouillabaisse, Powidl, Roastbeef, Pirogen und Kloßbrühe».

Kunstgeschichte wird so plausibel: In Italien sei als Übergangskunst ein Realismus, nämlich der Futurismus, entstanden, während in Frankreich wegen des Suppeneinschlags der Kubismus in Erscheinung getreten sei. (Das ist natürlich vor der Hinwendung der Futuristen zum Faschismus geschrieben!) In Deutschland sieht es, das war zu ahnen, schlecht aus. Romanische Völker besäßen eine gute Verdauung, die Slawen könnten alles verdauen, der Deutsche aber leide an einem schmachvollen Wechsel von Verstopfung und Durchfall, der sich entweder in Kants Philosophie oder in Goethes zweitem Faust zeige. «Den Deutschen aber», so Hausmann weiter, «dürfte geraten sein, sich zuerst mit einer planmäßigen Trennung von Kloßbrühe in Klöße und Brühe zu befassen — andernfalls werden sie niemals über weibliche Würstelbeine, Weltbeherrschungspläne und Expressionismus, also die Kultur der verlogenen Dummheit, hinausgelangen.»

Hausmann hat ein bemerkenswertes Geschichtsmodell entwickelt. Wir befinden uns heute, das ist evident, in einer anhaltenden Phase des Durchfalls. Es wird so viel produziert, da man es nicht mehr verdauen kann. Da das Produkt sich auf dem Weg durch die dementsprechenden Organe kaum verändert, kann es jederzeit wieder verwendet werden. Wird das Produkt an einem anderen Ort neu eingesetzt, spricht man von Globalisierung.

Ivo Kranzfelder

Kurzschrift 2.1999, S. 33–38
 
Do, 19.03.2009 |  link | (1973) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



lrrlichtende Eisbrecher

Lieber Paul,
lange, lange Zeit ist vergangen, seit Du mich als Deine zweite Vahiné in Deine Hütte mitgenommen hast, mich die Wärme Deines französischen Körpers hast spüren lassen und ich Dir mit Monoi die gerötete Haut gekühlt habe, ihr den zarten Schimmer des Himmels über den Marquesas eingerieben habe. Heute lieben die Menschen diesen matten Glanz auf Deinen Bildern, die in den größten und schönsten Museen der Welt hängen. Diese Welt, wenn Du sie sehen könntest! Sie ist klein geworden! Alles, sagen wir fast alles, hat sich verändert, nur die Liebe zu Dir ist immer noch dieselbe geblieben. Ich bin viel gereist in diesem Leben, das immer noch andauert und nicht enden will, auch an Orte, in Länder, die Du nie gesehen hast, oder nicht sehen wolltest.

Paul, ich bin in Deutschland. Ich schreibe Dir diese Zeilen in einer grauen Dezembernacht, in der sich die Schwärze der Nacht nicht gegen die schlierig-grauen Wolkenschwaden durchsetzen kann. Die Stimmung paßt zu dem Land, in dem sie Deine Bilder lieben. Fünf Jahre nachdem Du mich und uns alle für immer verlassen hattest, schrieb ein deutscher Maler, Emil Nolde, über Dich, Cézanne und den Freund Van Gogh, daß Ihr Eisbrecher gewesen seid. Ihr Franzosen, sagte er, hättet mit allem Alten aufgeräumt, ja, ohne Euch wäre alles nicht so gekommen, wie es kam. Sie, die Deutschen, waren fasziniert von Deinen Entdeckungen des Primitiven. Pechstein, hast Du ihn gekannt — ich glaube nicht, da warst Du schon tot —, reiste nach Palau, Deinetwegen.

Sie waren schwärmerische Menschen, nein, sie sind es. Heute abend habe ich sie wieder einmal, vielleicht das erste Mal, erlebt, diese schwärmerischen Menschen, immer auf der Suche nach der Wärme und dem Licht des Südens. Unglaublich?! Sie versammelten sich im Keller eines Hauses, das einmal eine Lagerhalle war.

Nivea, ein uns vertrauter Klang, nicht wahr, wurde früher darin gelagert. Nivea nennen sie eine weiße Crème, um ihre weiße Haut geschmeidig zu halten, sie vor der Sonne, die sie so sehr suchen, zu schützen. Nivea! — Paul, ich erinnere mich immer mehr an Dich und Deine Süße, Deine Wärme, mon cher Paul. — Sie reisten von weit her zu dieser Halle. Menschen, wie Du sie zu Tausenden gekannt und getroffen hast. Diese Menschen, die zur Welt der Künstler und oft nicht so sehr zur Welt der Kunst gehören. Drei junge Männer in Lederkluft, wilde Gesellen, habe ich auf der Landstraße aufgelesen und sie mit zu der Kunst genommen. Ich glaube, sie waren verblüffter und erstaunter als ich, daß ich unseren Geboten der Freundschaft immer noch gehorche und sie ohne zu zögern in mein Auto habe steigen lassen. Punaania ist weit weg.

Und wir gingen gemeinsam den Weg zur Kunst, viele Stufen in den Keller hinab. Schwüle Kälte in dem großen Raum.

Viele Menschen, wenige Bilder bevölkern ihn. Hubertus Reichert ist da. Der ernste jüngere Mann setzt Farbflächen zueinander, stellt sie nicht gegeneinander. Blossfeldts berühmte Urformen des Lebens haben ihn inspiriert, eine davon hat er in seine Flächen integriert. Eine gewisse spröde Sinnlichkeit sind diesen Bildern nicht abzusprechen, wie der Maler eben selber ist. Ein seltsam lrrlichtender der Szene, er ist wirklich sehr bekannt geworden, hat seine Leinwand vorbeigeschickt. Wilde, lose Gitterformationen hat er hingeworfen auf das Bild, mit großer Geste eine wohl nur vorüberhende Leere dokumentiert. Ein seltsames Geschöpf dieser Maler, Photograph und Bildhauer, ein Liebling der Mondänen. Aber er ist ein guter Künstler. Weißt Du, er ist wie — na, Du weißt schon, wen ich meine. Einer, der in die Tiefen des Absinth hätte fallen können. Ich habe Dir ja schon gesagt, daß sie diesen wunderbaren Stoff der Träume verboten haben. Ein Absinthlöffelchen von Dir wird auf irgendeiner Auktion jetzt versteigert. Vielleicht sorge ich dafür, daß er es erhält, der lrrlichternde. Dabei ist sein Name so real, Günther Förg, bizarr.

Andere Tiefen der Seele, dunkle Seiten, Abgründe, liebevolle Verquerungen erkenne ich in dem Schwarz, dem Rot, den Farben von Walter Vopava. Er wirkt dunkel, geheimnisvoll wie seine Bilder. Sie lieben ihn alle — ich meine, er hat ein sehr volles Herz.

Verzeih, ich schweife ab, das Herz der Männer interessiert Dich sicher nicht. Mich manches Mal, Du kennst mich, Geliebter.

Absinth, der Absinth will mich nicht verlassen. Als hätte er Deine Gemälde, Deine Sicht der Dinge und der Sinne in wirren, wilden Absinthräuschen verzerrt, gedreht, gepreßt, zum Schmelzen gebracht.

Ein Schweizer — hör' auf zu schreien, wohl weiß ich, daß Du sie nicht magst, sie alle Calvinisten geschimpft hast —, hat das wunderbare Bild geschaffen. Wohl haben ihn die Erinnerungen an die Absinthbrennereien in seinem Zuhause bei Besançon die Sinne vernebelt. Hätte er doch die herrlichen Zeiten gekannt, von denen Du mir so viel erzählt hast. Seine Bilder wären anders geworden, besser bestimmt nicht.

Ach Paul, ich kann das mit Dir nicht vergessen. Nie. Ich schwöre es. Die Stille, die Ruhe, die ich mit Dir nicht gekannt habe, die habe ich jetzt genug.

Schluß. Ich rede ja wie eine alte, erfahrene Frau.

Die flirrende Schwüle meiner Heimat habe ich an diesem Abend im Keller gefunden, und die Stille, das Glück der Ruhe. Wunderbar hat Bernd Zimmer erkannt, was uns wichtig war. Warum Du hierher gekommen und geblieben bist. Gemalt und an die Wand genagelt, hängt es da. Wer es nicht wußte, erkannte es nicht. Dein Grab, Paul.

Nicht süßlich, nein, dunkel und geheimnisvoll zugleich erscheint der Stein, unter dem Du liegst, und die Azaleen, Palmen, Blumen und Ranken unserer schönen Insel. Die Sonne geht unter, rot leuchtet der Himmel. Wie ein Fanal der Liebe über den Tod hinaus. Ach Paul, sähest Du mich jetzt unter dem grauen Dezemberhimmel sitzen, Du würdest Dich meiner erbarmen und mich in Deine starken Arme nehmen.

Pau'ura a Tai

Anne Maier

Kurzschrift 1.1999, S. 17–20; Erstdruck in: PlantSüden, herausgegeben von Roland Hagenberg und Bernd Zimmer, Tokio — Polling
 
Di, 10.03.2009 |  link | (1949) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



Kunst — Geschmack

Wo das Positive bleibt? Der Kritiker ist ja nicht bloß zum Nein-Sagen, sondern erst einmal zum Unterscheiden angehalten. Gleichwohl ist Kritik nicht Trichinenbeschau. Betreuung des Rezensierten? Ist der Rezensierte mein Bruder? Bin ich sein Hüter?

Wie verhält sich der moralisch unter Druck stehende Kritiker, der nicht lügen will. Absinken. Die Leiden des nicht mehr jungen W. N. aus K. Sie beoabachten, wie ein Künstler, den Sie geschätzt und gegen Anfeindungen verteidigt haben, dabei ist, sich zu ruinieren. Gegen den Strom ist er zwar nicht immer geschwommen, doch hat er konstruktiv Widerständiges produziert. Die Kunstliebhaber und -sachverständigen hielten ihn für ein Talent in der Musik; und die Musikkenner meinten, er müsse wohl ein guter Maler und Objektemacher sein.

Sie beobachten bei sich selbst, wie die Zuneigung schwindet — während das massenhafte Interesse immens zunimmt. Sie wollen aber auch nicht der selbsternannten Elite das Wort reden. Sie bemerken indes: Hier wird zunehmend teurere Ware für den billigen Geschmack hergestellt. Von den Massen wird der Künstler zwar nicht goutiert, auch nicht verstanden, aber angehimmelt. Der gute Mensch vom Dienst macht nur leider kaum mehr gute Kunst, Sie sehen statt dessen allzu viele gutgemeinte Arbeiten.

Ein stadtbekanntes Boulevard-Organ stürzt sich auf den Künstler — oder er sich auf jenes —, dann legt man halt andere Maßstäbe an. Ganz klar: Man gerät in andere Gefilde der Kultur und der Unkultur. Man unterstellt, daß der Künstler den Konsens aufgekündigt hat, daß die vereinbarten Kriterien nun außer kraft gesetzt sind. Abwerten! Kunst ist nun mal keine Geschmacksfrage. Geschmack hat jeder Hund, und der riecht das Verdorbene noch viel früher.

S. D. Sauerbier

Laubacher Feuilleton 12.1994
 
Di, 03.03.2009 |  link | (1859) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



EurOpa, ach EurOma

Die Gemeinschaft der Künstler und Gemeinschaftsarbeiten in den Künsten

S. D. Sauerbier

«Das spartanische Lied ‹Wir sind, was Ihr gewesen seid; wir werden sein, was Ihr seid› ist in seiner Einfachheit die Hymne jedes Vaterlandes.» (Ernest Renan: Das Plebiszit der Vergeßlichen. Über Nationen und den Dämon des Nationalismus. Ein Vortrag aus dem Jahre 1882. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 73, 27.3.1993, Beilage Bilder und Zeiten)

Hier in Arabien sitze ich, alle Jahre ein- bis zweimal, Arabien hab ich wohl ein Dutzend Male heimgesucht. Am erträglichsten, am angenehmsten, hätte ich lieber gesagt, war's zur Zeit des Golfkriegs, die Hälfte unserer Landsleute hatte ängstlich sich abgewandt, schlicht Schiß, und war zu Hause geblieben. Die ehemaligen Kolonisten, die Franzosen, waren am Krieg beteiligt; gesehen habe ich nicht einen Franzosen, der sich hier in ein Hotel getraut hätte.

Sich mit den Augen der anderen sehen? Wie uns die anderen sehen, Europa von außen betrachtet? Schwierig! Denn wo ich auch hinkomme, ich bin immer schon da. Ich ist da kein Anderer — oder wäre das der, den ich neben mir gehen habe? Zweite Schwierigkeit: Was ich nie im Leben sehen werde: meine eigenen Augen.

Bekannt sind die Reisen von Surrealisten nach Ostasien — und zur selben Zeit Reisen der anderen Hälfte in die Vorstädte von Paris.

Da sein, wo man nicht ist. Einer besuchte das Straßburger Münster, er begann einen Rundgang, blickte in die Höhe, hielt dann inne — da hörte er eine Frau, offenbar überwältigt von Architektur und Kunst, ausbrechen in den Ruf: «Ganz wie in Istanbul!»

Hier bin ich Mensch? Dieselben Kulturbürger und -träger regen sich unziemlich über Muslime im eigenen Land auf, über verschleierte Frauen: «Die haben sich gefälligst anzupassen!» Sie tragen ihre nackten, schwangeren Bierbäuche spazieren und lassen am Strand ihre Busen baumeln. «Hier bin ich! Mensch!»

Aufnahme unserer Kultur mit den Augen einer fremden. In Tunesien habe ich einem Freund einige Reproduktionen von Gemälden der Christa Näher gezeigt; sie hatte sich einen Katalogbeitrag gewünscht. Die Ausdeutung aus islamischer Sicht war für mich aufschlußreich; Yoko Ono soll sie auch gefallen haben. Für einen Herrn Johann-Karl Schmidt war so etwas aber nicht von Interesse — Leiter der Galerie der Stadt Stuttgart.

Da doch schon unsere Ziffern, Bezeichnungen wie Alkohol oder Alchimie arabischen Ursprungs sind, haben es aber die Ölscheichs in Kuweit und in Libyen, Saudi-Arabien und den Vereinigten Emiraten versäumt, uns mit neuerer arabischer und islamischer Kultur vertraut zu machen. Die Scheichs besitzen riesige Anteile an unserer Wirtschaft — nehmen aber keinen Anteil an unserem kulturellen Volksvermögen mehr.

Zur Lage. Ein kroatischer Künstlerfreund lud mich ein, eine Ausstellung organisieren zu helfen: Künstler für ... — und hier stockte er schon; gewiß doch auf dem Balkan, aber nicht in Jugoslawien, das sei klar. Jugoslawien gebe es nicht mehr, und als Zwangsverband solle es nicht mehr restituiert werden. Immerhin hätten die Deutschen ja die Kroaten, Slowenen, Mazedonier ... bei ihrer Selbstbestimmung bestärkt, wenn nicht gar zur Separation animiert — könnten die Deutschen sie nun im Stich lassen? Die Ausstellung müßte sich mit den Folterungen, Vergewaltigungen, Massenmorden et cetera ... befassen. Nicht bloß gestiftete Werke dürften es sein, die irgend etwas zum Thema haben würden. Nun erkundigte ich mich, an welche serbischen Künstler der Freund denn gedacht hatte. «Serben können natürlich nicht beteiligt sein!» Dimitrijevic, Abramovic — nein danke?

«Die Hölle — das sind die anderen», heißt es bei Jean Paul Sartre. Doch soll uns das nicht als Ablaßspruch dienen. Einwohner der BRD als Nachfolgestaat der Schutzmacht des faschistischen Ustascha-Regimes — diffamiert man Deutsche heute von der anderen Seite.

So weit ist es schon gekommen. Als wären nach der Besetzung der Tschechoslowakei oder während des Kriegs in Afghanistan sowjetische oder DDR-Künstler, während des Vietnam- oder des Golfkriegs um Kuweit keine US-amerikanischen Künstler bei politischen Ausstellungen in Westeuropa beteiligt gewesen! Die Ausstellung sollte im Krönungsaal zu Aachen stattfinden — erinnern wir uns nicht des Worts vom «Sachsenschlächter» mit Bezug auf Karl den Großen?

‹Nation Europa› hieß eine rechtsextreme Zeitschrift, unverschämt kryptofaschistisch. Ich erinnere mich an eine Kritik der II. documenta — als wenn in Kassel ‹entartete Kunst› ausgestellt worden wäre! Sollte denn eine solche Ideologie die Zukunft Europas bestimmen?!

Ende der 50er Jahre gab es allerdings auch andere ideologische Positionen zu Europa. Auf dem Programm stand nicht gerade der common nonsense und das ungesunde Volksempfinden der Abendländler.

Durchdringung und Aneignung von Kulturen führten zu Internationalismus und zugleich Regionalismus. Konkrete Poesie in Schwyzerdütsch und Lautgedichte in Wiener Mundart, heute Rockpoesie auf Kölsch ... Das Zusammenfließen sehr unterschiedlicher Strömungen zeigte sich in Übertragungen, Verknüpfungen und Anschlüssen von Kontexten.

Nach dem Niedergang des ‹internationalen Stil›, nach der Reise in die Innerlichkeit kam es Ende der fünfziger Jahre zu verstärkter Hinwendung zur sozialen Realität. Eine veränderte Auffassung von Wirklichkeit war festzustellen bei Nouveau Réalisme, Zero, Fluxus, Pop art, Konkreter Kunst, Conceptual art ... Damit sind nun gar keine gegeneinander abgeschotteten ‹Firmen› markiert, wo die Künstler liberale Kumpaneien, ‹Banden›, bildeten.

Wechselseitiger Austausch unter Künstlern findet heute so selten statt — der Markt isoliert die Künstler. Etliche Amerikaner informierten sich Ende der fünfziger Jahre eingehend über die Poesie des Konkretismus (der Name des Tirolers Heinz Gappmayr taucht in den Notaten des Fluxus-Künstlers George Brecht um 1958 auf). Die veränderte Auffassung vom tätigen, produktiven Leser/Betrachter in der konkretistischen Poesie findet sich in den Stücken der konzeptuellen Kunst wieder.

«Alles, was ich weiß, woran aber im Moment nicht denke.» Die Amerikaner eigneten sich europäische Philosophie an (Sätze, Aussagen, Theoreme, etwa von Ernst Mach, sind zu Stücken von Robert Barry geworden.)

Die Hinwendung zur low and popular culture, der Massenkultur, beeindruckte und beeinflußte nicht wenige europäische Künstler.

Selten gehörte Musik führten als Gemeinschaftsstücke Wiener Aktionskünstler und -poeten auf, Kumpaneien wie die von Roth, Rainer, Wewerka und Hamilton produzierten gemeinschaftlich.

In den Künsten setzte sich durch Verknüpfung, Zusammenarbeit, Gleichberechtigung der Arten und Gattungen Internationalismus und Vielsprachlichkeit durch — gegen die Vorherrschaft stilistischer Muster, die später aber ungemein erfolgreich von Handel und Vermittlung zu ‹Trends› hochstilisiert wurden.

Viele Fluxus-Stücke waren so angelegt, daß sie in einer Sprache nach Wahl ausgeführt werden konnten, wie Alphabet Symphony, Son of Man Trio von Emmett Williams.

Etliche Montagen der Wiener Gruppe sind Gemeinschaftsarbeiten, nahmen zum Beispiel ein Lehrbuch der tschechischen Sprache als Material.

Nicht selten gab es auch Mißverständnisse, die dann aber produktiv genutzt wurden; und besonders interessant waren, wenn sie rückübertragen wurden. Der Witze-Dichter Ernst Jandl verfertigte Zwangsübersetzungen: Den Wortlaut gesprochener englischer Wörter schrieb er als deutschen Text auf. Viel-Sprachen-Dichtung sind Hans G. Helms' triparametrische Texte, die bereits einen Mehrsprachen-Titel tragen: Fa:m Ahniesgwow, erschienen 1959. Das Material besteht aus zwei als einem Dutzend (nicht-) europäischer Sprachen — von ‹freien› Assoziationen des Lesers/Hörers noch ganz abgesehen. Komponiert ist das Werk in den Parametern Phonematik, Graphematik und Semantik. J. M. Kraußes Dichtmaschine Poetor ist in Teil-Programmen auch für andere als die deutsche Sprache eingerichtet; er verwendete eine japanische Spielkarten-Mischmaschine. Dichtapparate von George Brecht, Universal Machines genannt, sind für prinzipiell alle möglichen Sprachen angelegt. Zur Abschaffung der Sprache hat schon Jonathan Swift interessante Vorschläge gemacht.

In Objekt-Gedichten seit Ende der fünfziger Jahre wurden Dinge an die Stelle von Sprache gesetzt. Ein Gleiches geschieht in Ereignis-Gedichten etlicher Fluxus-Künstler, die Events notierten — sie konnten ebensowohl (nach-)gelesen, als Ereignis aufgeführt oder in den Aggregatzustand von Objekten dargeboten werden. «Vor Gebrauch gut schütteln», empfahl Tomas Schmit für seine Gedichte in Gläsern. Eventual-Poesie nannte ich jene potentielle Dichtung, die erst vom Seher/Hörer/Leser/Zuschauer/Ausführenden ... realisiert wird oder bloßes Material bleibt.

Entgegen der konservativen bis reaktionären, rückwärtsgewandten Position, die beansprucht, Geschichte gepachtet zu haben, ging es der Avantgarde ums Wachhalten von Erinnerung an historische, aber immer noch nicht erfüllte Forderungen des revolutionären Bürgertums seit 1789 über 1848 bis zur Commune 1871. In der Schrift Die Mission der Kunst und die Rolle der Künstler erhob der utopische Sozialist La-Verdant die Einheit von künstlerischer und politischer Aktion zum Programm. Ist denn die Kunst etwa Wirklichkeit geworden? Ganz gewiß — jedoch anders als im Sinne der hehren Absichten von Fluxus.

Widerspruch will ich einlegen gegen eine Auffassung, die weisgemacht hat, wir lebten jenseits oder nach der Geschichte. Das Pendant ist falsche Unmittelbarkeit — vorgespiegelt wird, diese Utopie sei tatsächlich erreicht, wo es Identität gar nicht geben kann —, es sei denn, Geschichtsbewußtsein ist uns abhanden gekommen.

Wer mit dem Kopf durch die Wand will, landet nur in der nächsten Zelle. Aus der Geschichte kann man nicht aussteigen, ebensowenig wie aus seiner Sprache, in der ja Geschichte sedimentiert ist. Ein Gleiches gilt für die Kunst: Wir sind Teil der geschichtlichen Welt — wie könnte man einen Standpunkt jenseits der Geschichte beziehen? Wir befinden uns nicht jenseits des Schaufensters. Der Künstler steht wie wir alle mitten darin, er ist zugleich Teil und Betrachter von Geschichte, zudem bezieht er Position zur Geschichte in seiner Arbeit.

In seinem wichtigen Beitrag zur verbesserung von mitteleuropa hat Oswald Wiener einen Automaten entworfen, der an die Stelle des Staates tritt und die Wirklichkeit ersetzt.

Pendant und Komplement dazu: Max Stirners Programm Der Einzige und sein Eigentum wurde von Konrad Bayer zu Ende gedacht, dem früh von eigener Hand geendeten Individualanarchisten bester Güte: Bayer proklamierte den Ein-Mann-Staat. Schwierigkeiten sah er vorerst allein in der Außenpolitik.

«Seid in der Zeit! Seid statisch!» lautete die Devise von Jean Tinguely auf einem Flugblatt, das er über Düsseldorf aus dem Flugzeug abgeworfen hat. Nun glauben wir aber an Fortschritt nicht mehr. «fort mit dem schritt!» — Tomas Schmit. Wir können ja nicht gerade behaupten, wir lebten in einer Europa-Euphorie. Vieles spricht da eine ganz andere Sprache.

Kunst gilt als gesellschaftliches Gedächtnis, sinnlicher Erfahrungen und Wünsche, Hoffnungen und Forderungen, als Wertspeicher von ideellem gesellschaftlichem Reichtum. Erschreckend ist, wie wenig Ahnung, wieviel Vorurteil und unbegründete Deutung ohne Kenntnis und Wissen mit Kunst befaßte Leute haben — nicht nur unsere Twens, ob nun mit freier oder angewandter, unfreier oder abgewandter Kunst, mit Planung und Entwurf befaßt —, sowohl in Bereichen von europäischer, nicht-deutscher oder gar afrikanischer, asiatischer zeitgenössischer Künste. Dem entsprechen Dumpfheit der Erfahrung oder Stumpfheit der Wahrnehmung, von Erlebnisäußerungen zu Ausdeutung und Urteil — sowohl was Zeit, Raum, Form, Gestalt, Inhalt und deren Geschichte angeht.

«Deutschsein?» war die Fragestellung zu einer Ausstellung mit Vorträgen in der Düsseldorfer Kunsthalle in diesem Frühjahr. Gerhard Merzens Beitrag erschien mir als l'art pour l'art pure: eine Reihe senkrecht paralleler Leuchtstoffröhren, die reine Kunst um der Kunst willen. Merz hat damit die Frage nach dem ‹Deutschsein?› am besten beantwortet. «Deutschsein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun», sagte doch Friedrich Nietzsche. Da man aber nichts durch sich selbst definieren kann, bestimmt sich Deutschsein wohl nur durch Nicht-Deutschsein, also durchs Anders-Sein. Aus der Soziologie kennen wir die Auffassung von der Rollenidentität, die sich durch Verallgemeinerung des Anderen definiert: «Taking the role of the generalized other». Und wie mit Deutschland verhält sich's hier mit Europa; es ist von außen zu bestimmen — am sinnvollsten durch den Außenseiter, den fremden Blick, die Sicht des Außenstehenden, womöglich des Randständigen.

Robert Filliou empfahl den Austausch der Kriegerdenkmale unter uns zivilisierten Europäern. Oft und oft hätte das Transportable Kriegerdenkmal von Edward Kienholz in die Welt bewegt werden müssen. Russen und Deutsche begründen nun ein gemeinsames Kriegsmuseum?

Der 20. Juli ist ein Gedenktag, der zur Besinnung aufs Deutschsein nötigt — ihn begingen Fluxus-Künstler 1964 in Aachen auf ihre Weise. Unter anderem zeigte Addi Koepcke neben Pin-up-Fotos militärische Feldkarten von der Marne-Schlacht: die Banalität des Bösen. Bazon Brock rezitierte im Kopfstand eine Paraphrase auf Joseph Goebbels' berüchtigte Sportpalast-Rede: «Ich wollte dies eigentlich zum 40jährigen Jubiläum in der Wuppertaler Stadthalle wiederholen. Da wurde mir gesagt, das sei zu gefährlich, weil heute Menschen glauben könnten, man führte die Sache huldigend vor. Als ich damals in Aachen die Rede vorführte, ging es um den Passus ‹Wollt Ihr ...›, und zwar nicht ‹den totalen Krieg› — sondern ‹die totale Kunst?› Das haben die Leute gar nicht gemerkt.» Von Ben Vautier kennen wir die Art total, «All is pretty», sagte Andy Warhol. Hatte Brock den Goebbels damit auf die Füße gestellt? Ist denn die Kunst totalitär geworden?

Bei der Frage ‹Deutschsein?› erinnere ich mich an die Schulzeit. In Tirol stand auf meinem Zeugnis als Unterrichtsfach nicht etwa ‹Deutsch›, sondern «Unterrichtssprache». Im Rheinland fand sich aus dem Zeugnis meines Bruders in der Sparte ‹Bekenntnis› die Eintragung «Dissident».

Kunst ist Interpretation von Kultur — so oder so. Stücke aus einer oder mehreren Kulturen kommentieren einander, manchmal ist's Programm.

George Segal stellt in Portrait of Sidney Jannis einem Abguß des Sammlers und Galeristen neben eine Staffelei, auf der ein Mondrian als Teil der Arbeit von Segal plaziert ist.

Braco Dimitrijevics tractatus post-historicus besteht aus Kombinationen jeweils von einem Kunstwerk, einem Alltagsgegenstand und einem Gegenstand aus der Zwischenzone, dem Niemandsland zwischen Kunst und Leben oder Alltag.

«Einen Rembrandt als Bügelbrett zu benutzen» — Empfehlung von Marcel Duchamp, der der Mona Lisa einen Schnurrbart aufmalte und die nicht geschändete als «Rasée» deklarierte.

Martin Kippenberger hat in sein Modell Interconti, ein Möbel als Stell- oder Sitzfläche, ein Gemälde von Gerhard Richter eingelassen. Kunst ist nur mehr Ab- und Unterlage, wortwörtlich etwas unter anderem oder eben für den Arsch ...

Heute so selten geworden ist unter Künstlern die kooperative und solidarische Haltung der Fluxer bei Kollektiv-Arbeiten, gegenüber dem Betrachter wie den Kollegen. Ein Beispiel von Kooperation ist das Korrespondenz-Stück Revue Rendezvous, das ich 1964/65 initiiert habe. Es beteiligten sich als Ausführer an diesen Verbund-/Versand-/Verband-Stücken 1 Tschechoslowake, 1 Grieche, 1 Schweizer, 1 Koreaner, 2 Dänen, 2 Franzosen, 2 Österreicher, 4 USAmerikaner, 4 Deutsche — 5 von ihnen mit mehrfacher Staatsangehörigkeit, zweifelhafter Nationalität sowieso.

Wer macht heute schon für Null Pfennig (Hassemanemaak?) bei so etwas mit — Null Bock auf Null Rendite und Promotion? (Auf dem ersten Kunstmarkt, der bekanntlich nicht erst 1968 in Köln, sondern 1966 in Büdingen stattfand, hatte ich das Publikum aufgefordert, mich zu zitieren. Ich verkaufte dann für DM 5,– Zitate an die Leute.)

Viele Künstler lehnten die immer neue Warenzufuhr für den Markt ab. Viele Sachen waren «Geschenksendungen, keine Handelswaren». Die Künstler versuchten die Brüder und Schwestern jenseits der Zonengrenze der Kunst gleich zu behandeln.

Als Schüler hörte ich einen Vortrag von Yves Klein: einen Aufruf zur Zusammenarbeit. In Revue Rendezvous habe ich eine Reihe von Aktionspoeten zusammengebracht — ich wollte nicht einfach Arbeiten nebeneinander reproduzieren, die miteinander nichts zu tun hatten oder bloß ein Thema stellen. Von Dick Higgins gab's ein Questionnaire, einen kniffligen ‹Fragebogen› von Tomas Schmit. Robert Filliou nannte eine Sammlung von Fragen «Ample Food for Stupid Thought». So forderte ich alle auf, die ihre Bereitschaft bekundet hatten, einen Fragebogen an sich selbst aufzustellen. Ein jeder Fragesteller sollte von vornherein alle Antworten auf seine Fragen zu seinen eigenen erklären. Blanko.

Mein Traum war Kollaboration, ein bißchen Romantik, aber auch die Erwartung von Wettstreit; das konzertante Prinzip: Jeder gegen jeden oder jeder mit jedem? Die Ausführenden konnten jedenfalls erst bei den Antworten ‹Schläge austeilen›. Sie durften aber gewärtig sein, selbst auch welche einstecken zu müssen.

Vom Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung hörten wir damals viele tönen. Nun wollten wir mal die Probe aufs Exempel machen: Selbstbestimmung durch die anderen: «Was bin ich für ein Mensch?» — «A Oasch!» — «kunst ist selbstverwirklichung», sagte Tomas Schmit.

Die Spatial Poems von Shieko/Mieko Shiomi sind eine Sammlung von Berichten zu ausgeführten Ereignissen auf der Welt, nach Shiomis Anweisungen. Beim ersten Spatial Poem sollte ein Wort, ein Satz ... an einem Ort deponiert werden, zum Beispiel postlagernd in Prag (Tomas Schmit), auf verschiedenen Güter-Wagons der Eisenbahn — sie reisen seither durch Europa, wohl getrennt (Bazon Brock).

Ein anderes Ereignis war auf den Erdmittelpunkt ausgerichtet: etwas fallen lassen. Ich schrieb als Bericht an Shiomi: «Um zu entscheiden, ob ich mitmache, werfe ich eine Münze.» Na, hat's geklappt?

Solidarische Kumpaneien waren Künstlergruppen — heute sind es allerhöchstens Zugewinngemeinschaften, ansonsten sind die Warenproduzenten völlig gegeneinander isoliert.

Nicht Joint ventures, sondern eben Joint works hat Robert Filliou initiiert — Zusammenarbeit mit dem Betrachter, der so nicht mehr zu nennen war, in gleicher Weise ist der Künstler immer auch Betrachter gewesen.

Als Kooperation der Künstler miteinander war das Kunstwerk nicht mehr das Produkt von Arbeit am ganzen Stück — es setzte sich schließlich die manufakturelle und industrielle Arbeitsteilung durch.

Der Kooperation folgte generell die veränderte Struktur der Arbeiten: Statt überordnend und hypotaktisch, hierarchisch und hegemonial im Geltungsanspruch — nun nebenordnend, im Prinzip anarchisch angelegt. Susan Sontags Charakterisierung: «Die Kunst des radikalen Nebeneinanders.» Eines der heroischen Beispiele: 1952 initiierte John Cage am Black Mountain College ein Ereignis mit Merce Cunningham, David Tudor, Robert Rauschenberg, M. C. Richards und Charles Olsen.

Ausführung (von Musik) und Aufführung (von Theater) ist der Sinn von Performance — etliche Fluxus-Veranstaltungen hießen deshalb ‹Konzerte neuester Musik› oder ‹Musikfestival›. Die Verzeitlichung von Objekt-Realisaten führt zu zu Handlungs- und Ereignisformen, schließlich zu Verflüssigung und Aggregatwandel der Arbeiten als Gedichte, Notationen für Aufführungen oder als Entwürfe für Objekte. Die gegenseitige Anerkennung und Solidarität zeitigte Gleichberechtigung der Ausführenden; zunächst galt sie innerhalb der Aufführung vor dem Publikum, dann sie ausgedehnt auch aufs Publikum, dem Ausführung übertragen wurde. Antielitär, antiprofessionell, antispezialistisch war die Tendenz: Anonymisierung richtete sich gegen Erfolgshascherei, Popularitätssucht. Die kooperative Haltung der Fluxus-Leute war von fast grenzenlosem Vertrauen bestimmt — alles andere als kindlich sind aber die ernsten Scherze. Nach einem Wort von Tomas Schmit brauchen nur Scharlatane Anerkennung, nicht aber Künstler. Und paradox hieß es: «Wir brauchen keine Kunst. Denn wir machen alles, so gut wir's können.» Man erwartete wie von sich so von allen anderen, vor allem zu akzeptieren, was auch immer der Künstlerfreund tun würde. Zur Ernsthaftigkeit, die man an den Tag legte, kam das Vertrauen darauf, wie die Arbeit auch immer ausgeführt würde — den anderen wurde Kompetenz zur Performanz zugetraut und zugesprochen.

Warum standen 1989 so viele Künstler ratlos, sprachlos da? Allzu viele hatten sich einer Warenästhetik an den Hals geworfen, betrieben Public relations als ideologische Dienstleistung; oftmals haben sie Warenästhetik nur mehr nachvollzogen. Künstlerideologie war von innen zersetzt — die Künstler korrumpiert. Kaum Widerspruch wurde mehr eingelegt — in der Kunst der achtziger Jahre hatte es immense Erhöhung des Lärmpegels und der Reizschwelle gegeben, vor allem was Kitsch, Gewalt und Pornographie angeht, Senkung von Hemmschwelle, Reizzufuhr und -vermehrung.

In Orientierungs- und Ratlosigkeit sehen wir viele Zeitgeistler dem Defaitismus verfallen. Statt in ihrer Werkstatt zu nützlicher Arbeit überzugehen, welche Anstrengung bildnerischen Denkens verlangte und zur Strenge einer ästhetischen Erkenntnis führte, war nun ‹dekorative Intellektualität› angesagt. Was immer das war — es muß 'was Ekliges gewesen sein. Alles ging durch? Jedenfalls ließ man fast alles durchgehen: Man wähnte sich im Paradies der Freigeister — solange das Angebot reicht? Von wegen: Die Nachfrage ist erst einmal durch die Rezession gebremst. Nicht die Kunst, aber ihre Inanspruchnahme durch geistige Dekorateure und Deserteure scheint das Reich der unbegrenzten Zumutbarkeiten und Unverfrorenheiten geworden zu sein.

Bedeutet es heute Zynismus oder Ironie der Geschichte, daß gerade jene Haltungen in die Kunstwelt Einzug gehalten haben, die man 1968 bekämpft hatte, daß die verneinten Auffassungen und Parolen zu Maximen des Tages avancierten?

Und wie nehmen jene Leute gewisse kultur-revolutionäre Tendenzen gesellschaftsbezogener Konzepte stark zeitabhängiger Kunst auf, die sie nicht selbst miterlebt haben? Wie nehmen sie heute Stellung zu oppositionellen, ehedem subversiven ästhetischen Aktionen, Objekten und Situationen, wie verarbeiten sie jene ästhetischen Demonstrationen und Formen des Einschreitens? Kann man denn aus der Kunstentwicklung irgend etwas lernen? Was wir tun sollen — was können wir tun? Lenins derzeitige Erbverwalter sind zwar die falsche Adresse für kulturpolitische und sozial-revolutionäre ästhetische Fragen — Was nun? könnte sich Lenin allerdings heute fragen. Aber wie hämisch tönt es derzeit aus allen ‹Zeitungen für Deutschland›: Gescheitert seien nun nachweislich und endgültig die verhaßten Ansätze linker Politik und Kultur.

Verlangen aber die gegenwärtigen sozial-kulturellen Zustände nicht nach Einschreiten gegen den Status quo: daß die Künstler sich den Erfolgsspielen verweigern, daß sie zumindest Einspruch gegen das herrschende ‹Betriebssystem Kunst›, den Kunstbetrieb der Herrschenden einlegen?!

Warum gerade heute ästhetische Aktivitäten als soziale Aktivitäten wieder zur Debatte stellen — in einer Zeit modischer Ungesellschaftlichkeit, wenn nicht Asozialität in der Kunst? Gerade darum! Es ist zwar schon alles gesagt worden; es muß aber immer wieder gesagt werden: weil keiner zuhört.

Nach rasch verrauchtem Strohfeuer der Euphorie beim Niedergang des irrealen Sozialismus' und des undemokratischen Zentralismus', beim Zusammenbruch des Sowjetimperiums starrten dann die Künstler gebannt wie's Kaninchen auf die Schlange auf die Ereignisse um 1989 — hypnotisiert, gelähmt, starr vor Entsetzen über den Endsieg, da der Kapitalismus tatsächlich nun übrig geblieben ist. Aber warum sollte man auch in den Jubel einstimmen, da alsogleich zusammen mit den Doktrinen des zusammengebrochenen irrealen Sozialismus', mit der Sowjetdogmatik die gesamte antistalinistische Linke in einen Sack gesteckt und symbolisch vernichtet wurde. Ein Aufwasch, Tabula rasa machen. «Jetzt bestimmen wir!»

Dissidenten, Rebellen, Häretiker hatten die stalinistische Dogmatik bekämpft, DDR-Flüchtlinge und Ausgebürgerte wie Dutschke, Biermann, im Ostblock inhaftiert waren etliche ‹Linksabweichler› aus dem Westen — von innerer Opposition oder innerer Emigration ganz zu schweigen.

Als wären Linke nicht die ersten gewesen, die für die Freiheit in der CSSR im Untergrund gewesen sind. Noch am selben Tag der Besetzung ist man in Berlin zur tschechoslowakischen Militärmission marschiert. Ich kam von der Frühschicht und latschte am Schluß der Demonstration. Parole: «Wer macht uns frei? Wir selbst, und keine keine Partei!»

Kritik der Kunstmarkt-Kunst trifft die Ideologie der Objekt-bildenden Kunst als Ware, als Handelsgut: in ihrer Funktion der Agitation und Propaganda für den Kapitalismus oder ihre Willfährigkeit, weil Indifferenz und Inhaltslosigkeit. Gelandet war man bei Warenfetischismus und Simulation von Kunst in den Medien, in Duldungsstarre beim Verharren im Status quo.

Da nun endlich der sowjet-imperialistische Gesamtfeind zur Hölle gefahren ist, wird denn nun die Möglichkeit eröffnet, eine nicht-fixierte Auseinandersetzung mit der westlichen Demokratur und Mediokratie zu führen? Pustekuchen. «Freßt Scheiße! 50 Millionen Fliegen können nicht irren!»

Den zur Kommunikation unfähigen Patienten der Kunstmarkt-Therapie wurden Erzwingungsschläge erteilt — zu politischen Äußerungen spätestens während des Golfkrieges. Zu beobachten ist ein Klimawechsel — bei schärferem Wind gehen derzeit etliche Treibhauspflanzen ein, aber auch Pflanzen aus dem Frühbeet.

«An wohl keinem Punkt ihrer Entwicklung hat sich die Generation der 68er ja stärker blamiert als 1989.» Klaus Laermann. (Neue Rundschau. Nr. 2, Frankfurt am Main 1993)

Einspruch, Euer Ehren! Was stand denn in ihrer Macht?! Diese Auffassung wirft ein Licht auf die Heiligen der letzten Tage. «Hebe Dich hinweg, böser Geist von 68!» Geistes Austreibung als Geisteraustreibung.

Viele der kulturellen Erneuerungen, auch etliche politische Ideen waren längst seit Ende der sechziger Jahre in den Künsten entwickelt und niedergelegt, was sich um '68 auf breiter Front durchgesetzt hat — oft ohne daß die Genossen Ober-Arbeiter (vulgo: studiosi) von den Quellen eine Ahnung hatten, aus denen sich nicht weniges ihrer Ideologie speiste. Aber sollen das bloß ‹ideologische Restgrößen› sein?! Es lohnt sich, die Wanderschaft der Ideen aus der Anti-Kunst über Politik wiederum in die Kunst zu verfolgen. Gescheitert, mit der DDR untergegangen, integriert ... — in letzter Zeit wurden die unterschiedlichsten Versuche gemacht, Ideen zu bannen, für tot zu erklären ...

Sich selbst erfüllende Prophezeiung — auch ein Problem der Jenseitsforschung: das sollte man bedenken, wenn man vom Scheitern jener Utopie von Unmittelbarkeit spricht — man würde der Kunst ja übersinnliches Vermögen und übermenschliche Kräfte zuschreiben, sie also ein weiteres Mal fetischisieren. Welche Verfügungsgewalt besitzen denn überhaupt die Künstler?!

Die propagierten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sind heute real zwar nur als Idee vorhanden. Und für sie ist die Kunst gesellschaftliches, sinnliches Gedächtnis und ästhetischer Wertspeicher. Demonstrativ, beispielhaft, als Teilstücke fürs Ganze führte die Kunst als sozialer ästhetischer Prozeß vor — und nicht abbildlich, fiktional oder symbolisch, sondern vorbildlich.

Gewiß ist die gesellschaftliche und politische Entwicklung anders verlaufen, als die Propagatoren jener Utopie von Unmittelbarkeit und viele von uns es erhofft und gefordert hatten. Luxemburg und Liebknecht hatten aber doch nicht deshalb unrecht, weil sie umgebracht worden sind. Auch daß sie ‹praktisch› gescheitert seien, würde ja nicht gegen ihre Wahrheit und Dringlichkeit sprechen, die immer noch unerfüllten Forderungen, versagten Wünsche, unrealisierbaren Bedürfnisse und Absichten Wirklichkeit werden zu lassen — sondern nur gegen die herrschende Praxis in der Kultur, nämlich die Praxis der Herrschaft.

Man sollte die Kunst beim Wort nehmen, sie darauf verpflichten, aber ihr nichts andichten, was nicht in ihrer Macht steht, weder religiös, politisch noch ökonomisch. Wer vom Scheitern der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Umwälzung mit Bezug auf die Kunst spricht, der unterstellt ihr ja jenseitige Fähigkeiten, der hält magische Wirkkraft für eine Realität der Diesseitigkeit. Zwar habe ich ein Institut für Jenseitsforschung gegründet — diesseits und jenseits der Zonengrenze muß man dann aber doch keine Geisterbeschwörung, keinen Schadenzauber betreiben. «Daß diese so revolutionär angetretene Bewegung nicht viel mehr als eine Modernisierungskrise des Kapitalismus' war, von kultureller und ästhetischer, nicht aber von politischer Bedeutung, ist kaum mehr strittig. Sie ist heute fast völlig integriert.» Hermann Kurze. (Die Ruhe vor dem Sturm. Aus deutschen Zeitschriften: Auf der Suche nach einer deutschen Idee. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.4. 1993, S. 27)

Was heißt denn ‹integriert›? Wirksam geworden, womöglich als integer angesehen — oder aber wirkungslos geworden, neutralisiert, zersetzt?

Die Auffassung, daß die kulturelle keine politische Bedeutung sei — von ästhetischer als Teil der kulturellen Bedeutung noch ganz abgesehen —, das ist schon sehr seltsam. Als wäre die kulturelle Kolonisierung kein politisches Problem; früher ganzer Kontinente bis hin nach Australien. Als der Westen in Mittel- und Osteuropa einfiel, da konnte einen schon das Grausen ankommen — was nun dem Westen einfiel.

Die Phantasie, die wir meinten, die ist in der Tat nicht an die Macht gekommen, leider ist sie nicht mal integer aufgenommen worden. Kulturelle Kolonisierung des deutschen Ostens geschieht heute innerhalb der eigenen Sprachgemeinschaft, wenn nicht der Nation.

Alle Menschen werden Brüder? Mir sind manchmal Schwestern lieber.

*Der Autor Prof. Dr. Samson Dietrich Sauerbier (* 1942) studierte Theater- und Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Publizistik in Wien, Hamburg und Berlin (FU); seit 1972 Dozenturen an Universitäten in Berlin, Köln und Aachen, seit 1986 apl. Professor für Kunstwissenschaft an der Universität Köln, 1990 und 1991 Gastprofessor für Kunstwissenschaft/Kunstvermittlung an der Gesamthochschule Kassel; seit 1993 Professor für Semiotik und Kommunikationswissenschaft an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee (emeritiert). Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenbeiträge, u. a. zur Fluxus-Bewegung.


Laubacher Feuilleton 6.1993, S. 4 + 5; wiederabgedruckt in: Überall ist Laubach. Berichte vom Nabel der Welt. Verlag Christina Schellhase, München 1995, S. 95–110; siehe auch: Archiv der Eventualpoesie

 
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