Der vorhäutesammelnde Gott Von Herbert Köhler «Um es vor Gott und Menschen zu irgendwelcher Ansehnlichkeit und Bedeutung zu bringen, war es nötig, daß man die Dinge – oder wenigstens ein Ding – wichtig nahm.» Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, Frankfurt am Main 2007, S. 310 Nach langem Hin und Her – es gibt einfach wichtigeres – setze ich mich nun doch an die Maschine, um ein paar Gedanken zu einem ungeheuerlichen Vorgang niederzuschreiben. Es geht um einen Vorgang, über den ich mir bisher noch nie so richtig Gedanken gemacht hatte, höchstens mal mein Staunen weglachen mußte, wenn ich über die Vorhautsammlungen des König David las, die er sich von den in glorreicher Umgebung selbst Abgeschlachteten hat anlegen lassen, um seine Taten später dann zu psalmodieren. Von Neidern ist zu hören, daß sich David auch hin und wieder potenzförderndes Frikassee, Präputium-Ragout also, servieren hat lassen. Daraus sei dann die Vorliebe für Kaldaunen etc. entstanden. Glaubt man’s? Das Schwänzchenabschneiden bei den Besiegten durch die Sieger war in den monotheistischen Anfängen ein durchaus beliebtes Spiel; bis man merkte, daß die Vervielfältigungskraft dann doch eher in den Orchis liegen mußte. Sogleich gab es das Hodenabschneiden, das sich noch in der Orchideen-Bewunderung ästhetisch festgezurrter Damen heutiger Tage nachweisen läßt. Hatte man sich mit der Hauttrophäe etwa die zukünftige Oberhoheit über den erlegten Feind gesichert und gleichzeitig ein Symbol für eine Mord- und Vermehrungs-Potenz eingeführt, die einem in Zukunft nicht mehr schaden wird? Die Richtigkeit dieser Gedankengänge war dem Männerhirn einfach mit in die Wiege gelegt. Daran hat sich, so wie es aussieht, nichts geändert. Das liegt ganz allgemein an der entwicklungsgeschichtlich bedingten Verdehnungslust von vernünftigen Einsichten, eine der Säulen männlicher Logik und Impuls aller Religionen und ihren profanierten, transzendental entkernten Erscheinungsformen, den Ideologien. Der unentwegt in Sachen Kreuz-mit-der-Kirche schreibende Karlheinz Deschner hat mich als erster, vor Jahrzehnten schon, mit dem frühjüdischen Präputium-Fetisch und seiner Legitima-tionsgeschichte konfrontiert gehabt. Dabei blieb es auch. Zuerst Opfergabe an den vorhäutesammelnden Gott, dann das Zeichen des Bundes mit dem vorhäutesammelnden Gott, dann, relativ spät, kamen die Exegeten auf die Hygiene-Nummer. Da es absurder nicht geht, schien sie lange Zeit tragbar. Die Nutzung des Gehirns ist für den Glaubenden wie ein Schluck Wasser für den Ertrinkenden. Seither aber hat man die Begründungsebenen außerhalb der jeweiligen Orthodoxie vergessen. Auf diese Weise lebt alles Hirnlose in der Konservierung von Tradition weiter. Und man tut so, als ob die nie irren kann. Ich vermute sogar: deshalb geht es uns allen mentalitätsgeschichtlich so schlecht. «Aber das ist eine andere Geschichte.» (Moustache, eigentlich Bob le Hotu, Barkeeper, in dem Billy Wilder-Film ‹Irma la Douce› von 1963) Das Zeichen zum Bunde ist eine grandiose Finte früher Stammesgesellschaften. Wie schweißt man Solidargemeinschaften besser zusammen als über gemeinsames, ewig erinnerbares, vererbbares, also stempelsicheres Leid? Nur für das Fußvolk geht es um einen Bund mit dem installierten Gott. Es ist eine Art absolutistische Auslagerungsidee der Stammesverantwortung. Es geht in Wirklichkeit um eine Optimierungsidee als gemeinschaftseinigende, stammesstabilisierende Maßnahme, um so viel als möglich Mitglieder mit einem Brandzeichen an den Stamm zu binden. Und man soll sie alle am coupierten Schwanz erkennen. Pudelideologie. So einfach wie genial! Nun gibt es seit einigen Wochen einen Medienhype um ein Kölner Landgerichtsurteil, das die Beschneidung – nach 300 Jahren mitteleuropäischer Aufklärung – als Körperverletzung wertet und in Zukunft unter Strafe stellen will. Eine moderne Verve? Ein Supergau für selbstvergessene Traditionalisten! Steht memoaktives Kulturgut einmal in Frage, dann geht es aber erst richtig los. Das kennt man im Schmalspurformat von Heimatfanatikern aller couleur. Und gemessen an einer 4000 Jahre alten, mentiziden, hirnausschaltenden Tradition, die allein schon durch die Zeit ihres Bestehens jeden Sinn verloren hat, sind 300 Jahre neu entdeckter Fähigkeit zum Zweifel wirklich nichts. Leider, muß man sagen! Die Empörung über das Urteil ist deshalb gigantisch. Alle melden sich zu Wort, natürlich zuallererst die körperlich Betroffenen, Juden und Muslime, denen man von nun an, zumindest in Deutschland, das Liebste zu nehmen scheint, nämlich das, daß man ihnen etwas nimmt. Sie fühlen sich kriminalisiert, wenn sie nicht mehr verstümmeln dürfen. Dann aber rufen da auch die Christen, vorab die Katholiken, die ihre auf Nächstenliebe projizierte Affinität zu Säugling-, Knaben-, Alumnen- und Männerappendices über die Jahrhunderte und die aktuellen Tage immer wieder flächendeckend bewiesen haben, denen man aber zugute halten kann, daß sie den Hang zum sanctum praeputium nur noch in Form der Reliquie auslebt oder Künstler und Maler aller Stile beauftragt, ihnen den anregenden Bildeindruck der Zirkumzisions-Prozedur zu bannen. Man muß das wirklich aussprechen: Es gibt tatsächlich Leute, welche die Vorhaut Jesu anbeten! Beides ist absurd! Sah man darin etwa eine kosmetische Schweifveredelung? Und nun kommen die vatikanischen Lobbyisten Gottes, die nicht unbedingt wollen, daß ihre Neben- und Konkurrenz-Monotheisten im rituellen Zwielicht stehen müssen. Das ist solidarischer Beistand von einer Seite, die weiß, wie es geht. Aber auch außerkonfessionell wird viel über Beschneidung geredet. Der Grundtenor unter dem Deckmantel der aus mediokerer Anbiederung heraus produzierten Toleranz: Warum sollte eine kulturelle Handlung, die 4000 Jahre zum Glücke aller, oder eben, weil man es immer so macht, praktiziert wurde, plötzlich mit Strafe belegt werden? Klingelt da nicht etwas? «Was damals Recht war, kann doch heute nicht Unrecht sein», furzte einst ein Ministerpräsident aus Baden-Württemberg seine verhängten Todesurteile während der NS-Zeit weg. So einfach, das Ganze? Die jungen männlichen Ferkel, denen herzlose Metzger die Gonaden ohne Betäubung von der Leiste ziehen, haben es da besser. Sie können darauf hoffen – verfügten sie über die zerebrale Fehlschaltung Hoffnung –, daß dies offiziell bald nicht mehr geschehen kann. Und der schwänzchentragende Jude und Muslim? Er kann das Auserwähltsein unter Narkose zwar mit Stolz konnotieren, die Schmerzen der Verletzung trägt er jedoch noch einige Zeit mit sich, äußerlich wie innerlich. Wie gesagt, das schweißt zusammen. Das Ungeheuerliche dieser körperlichen Verstümmelung kann nur seine Unzumutbarkeit verlieren, wenn es etwas stärkeres gibt, für das es sich lohnt zu leiden, spricht das Heldenhirn. Das Stärkere ist – so müssen wir vermuten – das Gefühl, im Bunde mit einer Figur zu sein, die im Nimbus einer absoluten Größe steht, der Allmacht. Der Allmächtige aber liebt seine Bündler nicht ohne jeden Preis und Einsatz. Seine Liebeseinforderungen sind freudianisch. Und dieser von Abraham erfundene, allmächtige Gott will alles, vor allem aber die arterhaltende und einflußerweiternde Sexualität. Niemand darf potenter sein als dieses omnipotente Installativ. Niemand darf Mordaufträge als Treueprüfung vergeben, niemand darf grausamer sein, niemand eifersüchtiger, niemand neidischer, niemand einfordernder, niemand listiger, niemand strafender, niemand gnadenloser, niemand verheerender etc. Schenke einem Solchen dein Präputium zum Zeichen, daß er Dich zu sich aufnimmt und schützt! Schutzgeld?! Der mafiose Patengedanke ist daraus abgeleitet, die Gottähnlichkeit aller irdischer Machtpisser und Massenverführer auch, egal auf welchem Niveau. Das ist nichts anderes als das Gesetz des Menschen, das dieser zur Tarnung einem göttlichen Installativ zuschreiben muß, weil es seinen Mitwesen gegenüber zu ungeheuerlich auftritt. Warum, frage ich – und bisher habe ich noch nie diese Frage im Beschneidungs-Diskurs gehört – , installieren sich ein paar Nomaden unter der Führung des biblischen Abraham oder Ibrahim einen Vorhautsammler als Gott? Und was für ein Licht wirft das auf eine Gesellschaft, die damals gerade im Begriff war, sich monotheistisch zu sortieren. Welcher Stellenwert muß die an Zuwachs und Vermehrung interessierte Sexualität zu dieser Zeit gehabt haben, daß sich der Beste von allen, der nicht einmal ein Gesicht hat, alle Vorhäute seiner Untertanen liefern läßt? Warum kommt keiner auf die Idee, so einen Un- bis Wahnsinn zu hinterfragen? Ist es der memoaktive Schock, der da über Jahrtausende lähmt? Auch wenn durch das eingeforderte Vorhautpfand die illustre Vielfalt gängiger Opferpraxis auf die Hautspitze fokussiert werden konnte und so sicher abertausende von rituellen Morden unterbunden werden konnten, frage ich mich nach 4000 Jahren Entwicklungs-, Menschheits-, Mentalitäts- und Technikgeschichte, ob da vielleicht nicht doch jemand nicht alle Tassen im Schrank hatte. Und ich bin vor allem bestürzt darüber, daß das noch niemand gemerkt hat. Sind wir in unseren Schränken nicht mehr Herr der Lage? Dem Richter in Köln gehört ein Denkmal gesetzt! Wenn schon Tradition. Ich befürchte nur, daß es noch einmal 4000 Jahre dauern wird, bis es gebaut werden kann.
Schneewittchen aus dem Sarg Da es seit der Einschläferung des Laubacher Feuilletons mehrfach den Wunsch nach einer Renaissance gegeben hat, beinahe wäre, als die Digitalisierung noch nicht über die Welt hereingebrochen war, daraus ein gedrucktes Wasunger Feuilleton geworden, wird hier wieder aktuell Zeitgemäßes zu lesen sein. Der Anfang sei mit einem Kommentar von Enzoo gemacht, der in Seemuses Wahrnehmungsfenster eine ihrer wahrlich filigranen Häkeleien zum Aufruhr der Moskauer Muschis übergestülpt hat. So sei hiermit dieses vor über zwanzig Jahren in die Lesewelt hineingeborene Feuilleton wiederbelebt. Wir ändern lediglich dahingehend, indem wir auch die alte Recht- und damit auch die Groß-Klein-Schreibung beziehungsweise die alte Hausorthographie wieder einführen — und im übrigen hier auch wieder der zeitungsgemäße Blocksatz. Was Lettre International recht ist, muß uns billig sein. Zwar sind wir kein Trachtenverein auf der, demnächst wieder eingeläuteten, Münchner Wiesn, aber ein wenig Tradition möchte aufleuchten, zumal das Blättchen zwar nach einem lauen Bach benannt wurde, aber schließlich ist Laubach überall, und den Nabel dieser Welt erblickte es ohnehin in einer Schwabinger Kneipe. Es ist schließlich nicht alles Alte und aus Bayern schlecht. Umgekehrte Christenverfolgung ... daß Herr Putin durch seinen Ukas während des Gerichtsverfahrens, man möge die drei Frauen nicht allzuhart bestrafen, nicht nur bewirkt hat, daß die drei Damen ‹nur› zwei Jahre ausgefaßt haben statt möglichen sieben, sondern das russische Staatssystem und dessen Gerichtsbarkeit und dessen Abhängigkeit von der politischen Elite bloßgestellt hat, wird er so nicht gewollt haben. Aber großzügige Gönnerhaftigkeit ist nicht nur dort im Osten oft demaskierend. daß er und natürlich ursprünglich ‹pussy riot› eine Diskussion (wieder) inganggesetzt haben, wie groß der Einfluß der Kirche, gleich welcher katholischen oder auch nicht katholischen Richtung auf die Staatssysteme unserer Welt und ob das wirklich gut ist, ist zu begrüßen. So gesehen sind ‹pussy riot› Opfer einer umgekehrten Christenverfolgung.
Die Yeziden Von Arbil bis an den Zab sieht man kein einziges Dorf. Auf der anderen Seite des Flusses liegt aber ein Dorf namens Abd el asis, das zur Gänze von Leuten bewohnt wird, die man Jesidier nennt. Weil die Türken in ihren Ländern nur jenen freie Religionsausübung gestattet, die göttliche Bücher haben, also den Mohammedanern, Christen und Juden, sind die Jesidier gezwungen, die Grundlehren ihrer Religion geheimzuhalten. Sie nennen sich daher, wenn sie nach ihrer Religion gefragt werden, einem Mohammedaner gegenüber Mahammedaner, einem Christen gegenüber Christen und einem Juden gegenüber Juden. Wenn die Jesidier nach Mossul kommen, werden sie von der Obrigkeit, auch wenn man sie erkennt, nicht angehalten. Der Pöbel versucht bisweilen hingegen, sie zu prellen. So ein gemeiner Mensch beginnt über den Satan zu schimpfen, von dem die Jesidier glauben, daß ihn Gott eines Tages wieder in Gnaden aufnehmen werde, und die Folge davon ist, daß die Jesidier lieber alles, was sie angeboten haben, Eier und Butter zum Beispiel, zurücklassen, als mit anzuhören, wie ein Engel beschimpft wird. In den Gegenden allerdings, wo sie die Oberhand haben, darf niemand den gefallenen Engel Gottes beschimpfen, will er nicht verprügelt werden oder gar sein Leben verlieren. Die Jesidier werden von den Mohammedanern so verabscheut, daß Schafei, einer ihrer bedeutendsten Lehrer, es nicht einmal als böse Tat ansieht, wenn ein Muslim (Rechtsgläubiger) einen Dauasin (das ist der arabische Name für die Jesidier) tötet (um 1765). Carsten Niebuhr Aus: Düchting/Ates, Stirbt der Engel Pfau, Geschichte, Religion und Zukunft der Yezidi-Kurden, Edition Komkar, Köln 1992, S. 194f. Laubacher Feuilleton 16.1995, S. 6
Der neue Citroën Ich glaube, daß das Auto heute das genaue Aquivalent der großen gotischen Kathedralen ist. Ich meine damit: eine große Schöpfung der Epoche, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern erdacht wurde und die in ihrem Bild, wenn nicht überhaupt im Gebrauch von einem ganzen Volk benutzt wird, das sich in ihr ein magisches Objekt zurüstet und aneignet. Der neue Citroën fällt ganz offenkundig insofern vom Himmel, als er sich zunächst als ein superlativisches Objekt darbietet. Man darf nicht vergessen, daß das Objekt der beste Bote der Übernatur ist: es gibt im Objekt zugleich eine Vollkommenheit und ein Fehlen des Ursprungs, etwas Abgeschlossenes und etwas Glänzendes, eine Umwandlung des Lebens in Materie (die Materie ist magischer als das Leben) und letztlich: ein Schweigen, das der Ordnung des Wunderbaren angehört. Die ‹Déesse›* hat alle Wesenszüge (wenigstens beginnt das Publikum sie ihr einmütig zuzuschreiben) eines jener Objekte, die aus einer anderen Welt herabgestiegen sind, von denen die Neomanie des 18. Jahrhunderts und die unserer Science-Fiction genährt wurden: die ‹Déesse› ist zunächst ein neuer Nautilus. Deshalb interessiert man sich bei ihr weniger für die Substanz als für ihre Verbindungsstellen. Bekanntlich ist das Glatte immer ein Attribut der Perfektion, weil sein Gegenteil die technische und menschliche Operation der Bearbeitung verrät: Christi Gewand war ohne Naht, wie die Weltraumschiffe der Science-Fiction aus fugenlosem Metall sind. Die D. S. 19 erhebt keinen Anspruch auf eine völlig glatte Umhüllung, wenngleich ihre Gesamtform sehr eingehüllt ist, doch sind es die Übergangsstellen ihrer verschiedenen Flächen, die das Publikum am meisten interessieren. Es betastet voller Eifer die Einfassungen der Fenster, es streicht mit den Fingern den breiten Gummirillen entlang, die die Rückscheibe mit ihrer verchromten Einfassung verbinden. In der D. S. steckt der Anfang einer neuen Phänomenologie der Zusammenpassung, als ob man von einer Welt der verschweißten Elemente zu einer solchen von nebeneinandergesetzten Elementen überginge, die allein durch die Kraft ihrer wunderbaren Form zusammenhalten, was die Vorstellung von einer weniger schwierig zu beherrschenden Natur erwecken soll. Was die Materie selbst angeht, so steht fest, daß sie den Sinn für das Leichte im magischen Verstande unterstützt. Es liegt in der Form eine gewisse Rückkehr zur Aerodynamik, die jedoch insofern neu ist, als sie weniger massiv, weniger schnittig und gelassener ist als die aus der ersten Zeit dieser Mode. Die Geschwindigkeit drückt sich nun in minder aggressiven, minder sportlichen Zeichen aus, als ob sie von einer heroischen Form zu einer klassischen Form übergegangen wäre. Diese Vergeistigung erkennt man an der Bedeutung und der Materie der sorgfältig verglasten Flächen. Die ‹Déesse› ist deutlich sichtbar eine Preisung der Scheiben, das Blech liefert dafür nur die Partitur. Die Scheiben sind hier keine Fenster mehr, keine Öffnungen, die in die dunkle Karosserie gebrochen sind, sie sind große Flächen der Luft und der Leere und haben die gleitende Wölbung von Seifenblasen, die harte Dünnheit einer Substanz, die eher insektenhaft als mineralisch ist. Es handelt sich also um eine humanisierte Kunst, und es ist möglich, daß die ‹Déesse› einen Wendepunkt in der Mythologie des Automobils bezeichnet. Bisher erinnerte das superlativische Auto eher an das Bestiarium der Kraft. Jetzt wird es zugleich vergeistigter und objektiver, und trotz manchen neuerungssüchtigen Selbstgefälligkeiten (das leere Lenkrad) ist es haushälterischer und jener Sublimation der Gerätschaften, die wir bei unseren zeitgenössischen Haushaltsgeräten finden, angemessener. Das Instrumentenbrett erinnert eher an die Schalterblende eines modernen Herdes als an die in einer Fabrikzentrale: die kleinen Klappen aus mattem, gewelltem Blech, die kleinen Schalter mit den weißen Knöpfen, die sehr einfachen Anzeiger, selbst die diskrete Verwendung des Nickels, all das bedeutet eine Art Kontrolle, unter der die Bewegung steht, die mehr als Komfort denn als Leistung aufgefaßt wird. Offensichtlich tritt an die Stelle der Alchimie der Geschwindigkeit ein anderes Prinzip: Fahren wird ausgekostet. Es scheint, daß das Publikum die Neuigkeit der Themen, die man ihm anbietet, auf großartige Weise begriffen hat. Zunächst einmal empfindlich für den Neologismus (eine Pressekampagne hielt es seit Jahren in neugieriger Erwartung), ist es bemüht, sich sehr rasch ein Anpassungs- und Geräteverhalten zu eigen zu machen («Man muß sich daran gewöhnen»). In den Hallen wird der Ausstellungswagen mit liebevollem, intensivem Eifer besichtigt. Es ist die große Phase der tastenden Entdeckung, der Augenblick, da das wunderbare Visuelle den prüfenden Ansturm des Tastsinns erleidet (denn der Tastsinn ist unter allen Sinnen der am stärksten entmystifizierende, im Gegensatz zum Gesichtssinn, der der magischste ist); das Blech, die Verbindungsstellen werden berührt, die Polster befühlt, die Sitze ausprobiert, die Türen werden gestreichelt, die Lehnen beklopft. Das Objekt wird vollkommen prostituiert und in Besitz genommen; hervorgegangen aus dem Hirnmel von Metropolls, wird die ‹Déesse› binnen einer Viertelstunde mediatisiert und vollzieht in dieser Bannung die Bewegung der kleinbürgerlichen Beförderung. Roland Barthes * Anm. des Übersetzers: Die Buchstabenbezeichnung D. S. ergibt beim Aussprechen: Déesse, die Göttin, eine Bezeichnung, die im übrigen durch den Umstand möglich wird, daß das Auto im Französischen weiblichen Geschlechts ist. Laubacher Feuilleton 16.1995, S. 14; mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlages Aus: Roland Barthes: Mythen des Alltags, Edition Suhrkamp 92, Frankfurt am Main 1976 [erschienen: 1964], Seiten 76 – 78; aus dem Französischen von Helmut Scheffel
Apollon (Apollo) Alles, was Athene, so haben wir gesagt, zur Vollendung fehlt, was nach griechischer Sicht das Maß eines höchsten weiblichen Geistes überschreitet, das bedeutet Apollon. Wir werden nächstens in Delphi stehen, bei seinem Heiligtum und Orakel am Fuße des Parnassos; später sehen wir Delos, wo er zusammen mit Artemis geboren wurde. Aber weder Delphi noch Delos sind seine bleibenden Stätten. Einen Teil des Jahres, so glaubten die Griechen, ist der Gott in eine geheimnisvolle Ferne verzogen, ins Land der Hyperboreer, also in den äußersten Norden. Von dort kommt er jedes Jahr mit seinen heiligen Schwänen zurück. Was es damit auf sich hat, wissen wir nicht. Homer kennt die Hyperboreer nicht. Erst spätere berichten, dort sei ein heiliges Volk, ein seliges Lichtland, «des Phoibos alter Garten». Phoibos, der Klare, Helle, ist der Beiname Apollons. Wie verspüren also, daß von vorneherein etwas Geheimnisvolles hinter ihm steht, das ihn völlig vom Wesen der Athene trennt. Vielleicht denken wir, um seine Art nahe zu kommen, an den Ritter des Grals, der «vom fernen Land, unnahbar euren Schritten», auf dem Schwanenwagen gezogen kommt. Er ist also ein ferner Gott. Wenn er auftritt, ist er immer in einer seltsamen Weise überlegen. Als in der Illias die Götter selbst für Troja oder die Griechen miteinander kämpfen und Poseidon ihn zum Zweikampf fordert, lehnt es Apollon mit großer Überlegenheit ab: «nicht wohlbehaltenen Geistes Schien ich, wofern mit dir, der Sterblichen wegen, ich kämpfte, Die hinfällig und elend, wie grünes Laub in den Wäldern, Jetzo in Kraft auftreten, die Frucht der Erde gießend, Jetzo wieder entseelt dahinfliehn ...» Es ist aufschlußreich, daß also Homer den erhabenen Apollon sich unmöglich für die elenden Menschen einsetzen lassen kann. Diese Strenge und Ferne teilt er mit seiner Schwester Artemis. Aber Apollon ist noch ferner, er ist fern der griechischen Erde, er ist entrückt. Immer ist er in großer und vornehmer Distanz von den Menschen, auf die doch sein ganzes Wirken zielt, aber von weiten herzielt. Fast immer heißt er der Fernhintreffende, der von Ferne her Treffende. Er trägt den Köcher mit den Pfeilen und die Leier. Das sind nicht Gegensätze wie etwa das Kriegerische und Musische. Es ist eines und dasselbe. Der Pfeil wird von der sirrenden Bogensehne entsandt, der Ton entspringt der tierischen Sehne der Leier. Beide, Pfeil und Töne, zielen. Beide treffen, der Pfeil den Leib, die Töne mitten ins Herz. Mit seinen Pfeilen tötet er zu Delphi den Schlangendrachen Phyton. Die Schlange weist immer auf eine vorgriechische Erd- und Höhlengöttin hin. Durch Apollon, den Lichtgott, wird also nun der finstere Dämon gestürzt. Sankt Michael und Sankt Georg sind von seiner Art. Lichtbringen heißt Ordnung bringen. Das geht nicht ab ohne Gewalt. So steht er im Giebel des Zeustempel von Olympia, groß, aufrecht, mit befehlend ausgestrecktem Arm, und gebietet den Kentauren Einhalt, die Menschenfrauen vergewaltigen wollen. Wo er auftritt, steht das Recht hinter ihm, und sein Erscheinen ist der Aufruf zur Gesittung in der Welt. In Athen vertreibt er die Erynnien, das heißt den alten Brauch der Blutrache, und stiftet das ordentliche Gericht auf dem Hügel des Areopags. Wie mit seinen Pfeilen den Dämonen der Gewalt tötet, trifft er mit der Leier das menschliche Herz. Mit seiner sittigenden Kraft überwältigt er die Seele. Er bringt den frommen Preisgesang, den Hymnus, die Dichtung, denn er, nicht Athene, ist der Führer der Musen, der Gott der Künste und Wissenschaften. Sein Wesen spiegelt der griechische Tempel in seiner strengen Ordnung, die ruhige Harmonie der griechischen Plastik, das genaue Maß des Verses, die heilende Kraft der Musik, der Staat als Werk der Gesetzlichkeit, die Welt als überschaubarer Kosmos, die Welt der Seele als ein Gefüge von Zucht und Ordnung. Nach den übermächtigen und erdrückenden Gebilden Asiens und Ägyptens bringt er das menschliche Maß in alles Leibliche, Seelische, Geistige. Diese große Wende ist die weltgeschichtliche Leistung der Greichen, und dies ist das Werk ihres höchsten Gottes Apollon. Als die Griechen in den Zeiten vor und nach Homer die Gestalt Apollons als das Spiegel- und Wunschbild ihres tiefsten Wesens in langsam reifender Vollendung gestalteten, haben sie mit der idealen Gottgestalt ihre höchste Möglichkeit auf ein Jahrtausend vorausgeahnt. Der Aufblick zu ihm ist eine beständige Mahnung zur Steigerung der menschlichen Möglichkeiten. «Erkenne dich selbst», lautet die Inschrift in seinen Tempeln zu Delphi. Das ist der Befehl des Gottes, der den Menschen kennt, seine Hinfälligkeit, aber auch die ihm mögliche Größe. Er hat einen fast christlichen Blick in die Seele des Menschen getan, deshalb weiß er um Vergangenheit und Zukunft und ist Wegweiser und Prophet, zu dessen Orakel die Menschen der gesamten griechischen Welt pilgern. Ernst Curtis sagt von ihm: «Er ist der Prophet des höchsten Zeus und sein Vermitteler dem Menschen gegenüber.» Wiederum, wie bei Artemis, welche Nähe zum Christlichen! In der Tat, noch eine Steigerung über Apollon hinaus, und es erscheint der Mittler Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. So können wir sein Wesen am Ende mit aller Deutlichkeit zusammenfassen. Er ist deshalb der größte Gott, weil er die Menschen durch Selbsterkenntnis ihres Wesens verändern kann. Lassen Sie mich das Gedicht lesen, das alles enthält, was noch über den Lichtgott zu sagen ist: Archaischer Torso Apollons (Rainer Maria Rilke) «Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfell; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.» Ein Gedicht, namentlich ein solch unausschöpfbares, muß man schon zweimal lesen. Darf ich es noch einmal hersagen und mit einigen Deutungen versehen, da Sie ja das Nebeneinander der Worte nicht optisch vor sich haben. «Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augäpfel reiften.» Es handelt sich also um eine Statue ohne Kopf, dessen Augäpfel, die Rilke durch eine leise Erweiterung zu Augäpfeln noch bildhafter macht und denen er ein Reifen zuspricht, wir nicht mehr sehen können. Und nun ist der ganze Sinn dieses Gedichts die großartige Aussage, daß dieser Torso uns doch noch sieht, da der Glanz des verlorenen Blickes in allen Teilen des Marmors noch weiterstrahlt. «Aber sein Torso ist noch wie ein Kandelaber» — das Wort ist ganz wörtlich zu nehmen: Lichthalter —, «in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt». Beachten Sie nun im folgenden die Worte, meist hellvokalige, und Wendungen, meist Reime und Binnenreime, mit denen das Glänzen immerzu ausgesagt wird, denn das Gedicht überzeugt eben gerade dadurch und wird erst zu dem buchstäblich ‹blendenden› Gedicht, weil es selbst über und über glänzt. «Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug.» «Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz» — die drei scharfen st und das kurze Versende bringen für einen Augenblick den nur vorgestellten Mißklang — «Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schulter durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfell» — das ist wie ein deutliches Crescendo, und nun nach dem Hindeuten auf den Glanz der Brust, das lichte Lächeln, das von den Lenden abwärts rieselt, die durchsichtigen Schultern, das marmorne Flimmern allüberall, erfolgt die zusammenschauende, schallende Kadenz: «Und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern» — Nach dieser Endaussage über den sichtbaren Eindruck, (denn mehr kann nicht gesagt werden, als daß der Torso ein einziger Stern ist), folgt nun die verhaltene, fast drohende Wendung zum Betrachter: «Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht» Und zum Schluß der apollinische Befehl, gleichsam der Pfeilschuß des Gottes: «Du mußt dein Leben ändern.» Friedrich Schuh Laubacher Feuilleton 12.1994, S. 14
Dionysos — Bacchius Die Götter der Griechen Er ist der sinnlichste unter den Göttern und in unserer Ordnung der Aphrodite gegenüberzustellen, mit der wir begonnen haben. Spät erfolgt sein Kult in den griechischen Ländern, und sein Einzug kommt einer Erschütterung, ja Katastrophe gleich. Schon der Mythos seiner Geburt enthält außerordentliche Ereignisse. Semele wird von Zeus geliebt, aber aus Zweifel, ob er es wirklich sei, fordert sie von ihm einen Eid, ihr einen Wunsch zu erfüllen. Zeus sagt zu und wird nun von der liebenden Frau gebeten, in seiner eigentlichen Gestalt zu erscheinen. Er muß sich nun in Gestalt des Blitzes offenbaren, und von seinem flammenden Feuer verbrennt Semele zu Asche. So steht ein die Ordnung zerreißender Vorgang schon vor seiner Geburt: das Einhalten des Eids, des letzten Prinzips der Ordnung, bringt hier die Auflösung, den Tod. Und dies geschieht dem Gott des Eides selbst. Aber der Mythos geht weiter. Semele trägt ein Kind im Mutterlaib. Zeus entreißt es der brennenden Mutter, birgt es in seinem Schenkel und bringt es zur rechten Zeit auf die Welt. Wieder eine Zeusgeburt, aber wie anders als bei Athene! Von Hermes wird nun das mutterlose Knäblein zu den Nymphen gebracht und dort erzogen. Und nun erfindet der junge Gott den Weinstock und zieht durch die Lande mit einem Gefolge von ausgelassenen Geistern, von Satyrn und Silenen, von Nymphen und Mänaden, auf einem mit Tigern oder Panthern bespannten Wagen, nur mit einem Tiefell bekleidet, die Binde um das Haar, den Thyrsostab schwingend und mit Weinreben und Efeuranken geziert. Wo er auftritt, verfallen ihm die Menscen, besonders die Frauen verlassen ihre Webstühle, stürmen ins Freie, wenn sie die Evoe-Rufe hören, und geben sich seinem Gefolge und seinem ausgelassenen Treiben hin. Ohne Zweifel ist dieser Dionysoszug ein Abbild des Einzugs des Weinbaus mit seinen Folgen. Er erfolgt spät. Homer kennt Dionysos, er nennt ihn den Rasenden, erwähnt ihn, der ganz zuletzt in die Reihe der olympischen Götter aufgenommen wird, mit seltener und äußerster Zurückhaltung, denn sein ganzes Wesen ist den hohen homerischen Geistgöttern fremd. So geht durch den ganzen Mythos seines rauschenden Treibens auch immer der Widerstand gegen ihn, aber er ist vergeblich. Wir spüren, daß hier einfache, ländliche griechische Menschentum, völlig ungewohnt dieser neuen, den Menschen plötzlich verändernden Gabe des Weins, sich gegen ihn wehrt, aber der Verführung erliegt. Im Mythos widersetzt sich Agaue, die Mutter des Königs Pentheus, dem eindringenden Dionysoszug, aber sie wird vom Gott zur Raserei gebracht, so daß sie ihren Sohn für ein Tier ansieht und ihn mit ihren Frauen in Stücke zerreißt. So grenzt das Erscheinen des Weingotts und des Weins zunächst an eine Katastrophe. Aber je mehr der Grieche Maß und Sinn der göttlichen Gabe erkennt, mildert sich der Mythos und auch Dionysos Gestalt wird in einem großen Sinn bedeutend. Der Wein, der Sorgenbrecher, ist eine edle Gabe. Er beschwingt und befeuert den Geist, er verändert den Menschen. Er veräandert den Menschen. Das haben wir auch von Apollon gehört und nichts bringt uns das eigentliche Wesen des göttlichen Dionysos näher als sein Gegensatz zu ihm, der Gegensatz zwischen dem geistigsten und dem sinnlichsten Gott. Apollon fordert die fortgesetzte Selbsterkenntnis, Dionysos bringt die augenblickliche Selbstbetäubung. Apollon verkörpert das höchste Selbtbewußtsein, Dionysos hebt das Bewußtsein auf. Apollon der Weissagende kennt die Vergangenheit und die Zukunft, Dionysos kennt nur die Hingabe an die Gegenwart, den Genuß des schönen Augenblicks.Das rauschartige und ekstatische höchster Schaffenaugenblicke, die auch von Ewigkeitswert sind — das ist Dionysos. In Stefan Georges Siebenten Ring steht ein Vierzeiler gegen die unbeschwingten Bürger im Geiste: «Zwar nehmt ihr jedes ziel mit sicherm trott Und, zuckt der strahl, so klärt auch euch das schöne. Doch steht euch rausch nicht an, wer den verpöne Ward nicht geeinigt mit dem höchsten gott.» Dieser Gott ist sicher nicht Apollon, aber er ist auch der höchste Gott genannt. So trägt Dionysos nicht selten den Lorbeer wie Apollon und gilt wie er als der Gott der seligen Begeisterung. Es ist freilich schwer, den geistigen Bereich des Griechentums in einen apollinischen und dioynysischen zu scheiden — Sie wissen, die These stammt aus Nietzsches Schrift Die Geburt der Tragödie —, so kann man doch wohl sagen: das Epos, der Hymnos, die Elegie entstammen dem apollinischen Bezirk, wer eine solche Dichtung beginnt, ruft Apollon oder die Muse an. Von Dionysos aber, dem späten Gott, stammt die bei allen Völkern späteste Dichtungsgattung, das Drama. Um dies zu verstehen, muß man das Element des Außersichseins, in das Dionysos versetzt, in seiner zweifachen Natur genauer betrachten. Es bedeutet zunächst die augenblicksweise Entäußerung des Selbst in der Ekstase, im Außersichsein. Er ist nicht recht bei sich, sagt in diesem Falle der Unbeschwingte, genauso wie er den Entrückten für einen Verrückten hält. Das zweite Element des Außersichseins bedeutet nach außen gehen, in die Geselligkeit, in die Gemeinschaft. Von Anfang an haftet dem Dionysos auch dieses Moment an. Apollo ist immer allein, ja fern im Hyperboreerland. Dionysos ist nicht nur nahe, er ist der Gott der Geselligkeit, des Festes, er ist immer ein ganzer Festzug. Dionysos, von den Römern Bacchus genannt, bedeutet immer ein Bacchanal. So ist er der Gott der Gemeinschaft. Sehen wir noch tiefer: Apollo ist der Gott der Ordnung und damit der Zeit, denn alle Ordnung ist zeitlich bedingt, die Ordnung von Tag und Nacht, von Arbeit, Schlaf und Essen, auf der der bürgerliche Alltag und damit der Staat und die Tradition beruht. Die Tradition ist der Regelgang aus der Vergangenheit in die Zukunft. Es ist immer eine hohe apollinische Leistung, die Vergangenheit über die Gegenwart hinweg zu sichern und zu konservieren. Aber Dionysos vernichtet Vergangenheit und Zukunft, er ist der Gott der Hingabe an die Gegenwart, er vertilgt die Zeit in der Hingabe an den berauschten Augenblick, er vertreibt die Zeit mit dem Zeitvertreib seiner Feste. Es gab in Athen alle vier Jahre das Fest der Panathenäen, die hochfeierliche Prozession zum Parthenon, wo der Athene ein neues Festgewand geschenkt wurde — ein durchaus apollinische Fest. Aber es gab auch die Dionysien, ein ungeheures Volksfest, zu dem ganz Attika nach Athen strömte, ein Fest mit gewaltigen Umzügen, Maskentreiben und Mummenschanz, wo der Bürger einmal außer sich sein durfte uns sich von der Regel des Alltags befreite. Wir wissen, daß diese Feste von den Römern als Saturnalien übernommen wurden, daß sie trotz des Widerstands der christlichen Kirche durch das ganze Mittelalter als Narren-Laufen, Schönbartspiele, Fastnachttreiben gehen und im heutigen Karneval sich einen Rang und Anspruch erobert haben, dem von seiten einer Obrigkeit zu widerstehen, einen Widerstand gegen Dionysos bedeutete, der wohl immer noch gefährlich wäre. Aus diesem geselligen Treiben, aus Umzügen, Tänzen und Sprechchören, aus Reden und Wechselreden bei dem Dionysosfest ist das attische Theater entstanden, die Dichtung der Wechselrede, entstanden aus dem Geist des Festes und der beschwingten Befreiung von der Regel der Zeit. Dies ist des Dionysos Gabe an die Menschheit. Vom Südabhang der Akropolis werden wir auf die Geburtsstätte des abendländischen Dramas, das Dionysostheater hinabsehen, wo nach athenischem Brauch der erste Sitzplatz nur dem höchsten Dionysospriester zustand. Friedrich Schuh Laubacher Feuilleton 11.1994, S. 15 José de Ribera Dionysos, Prado, Madrid Wikipedia
Demeter — Ceres Die Götter der Griechen Demeter ist die göttliche Mutter. Auch sie hat die Liebe erfahren, aber ihr ganzes Wesen ist Mutterschaft, ist im Gegensatz zu Aphrodite die mütterliche Liebe. Wir kennen die ergreifende Sage, wie ihr die Tochter Persephoneia von Hades, dem Gott der Unterwelt, geraubt wird, und sie nun Tage und Nächte lang mit brennenden Fackeln die ganze bewohnte Erde durchstreift, die jammervoll klagende Mutter, bis auf Zeus' Befehl die Unterwelt die Tochter wieder herausgibt, aber nur für die eine Hälfte des Jahres, die andere muß sie im Hause der Toten verweilen. In diesem Bild sah der Grieche bekanntlich die Zeit der aufsprießenden und reifenden Kornsaat und die der Brache und Unfruchtbarkeit des Ackers; denn Demeter war ursprünglich eine Fruchtbarkeitsgöttin, Göttin des Erdschoßes. Aber der Grieche gab ihr bald den humanen Bezug, und dieser wunderbare Wandel von der Erdschoß- zur Mutterschoßgöttin, von der Kornmutter zur Kindsmutter, ist wiederum eines der vielen Zeugnisse der tiefen griechischen Menschlichkeit. Auch hier liegt also der doppelte Bezug zugrunde. Der kosmische: wie Aphrodite die Göttin des Meeres ist, erscheint Demeter die der Erde und des Ackerbaus — und die rein menschliche Beziehung: Aphrodite die Göttin der geschlechtlichen, Demeter die der mütterlichen Liebe. Der Bereich der Demeter ist enger und ihre Erscheinung ist nicht glanzvoll wie die der Aphrodite. Freilich ist sie schön, wie alle griechischen Götter von makelloser Schönheit sind, aber sie besitzt nicht den verführerischen Zauber der Liebesgöttin. So umgibt sie nicht der Glanz einer Aphrodite, aber ohne Zweifel ist sie die edlere Göttin. Aufschlußreich ist auch hier wieder die künstlerische Fixierung auf einen entscheidenden und elementaren Zug, eben das Muttertum. Wohl gibt ihr die Sage, die um alle Götter die buntesten Fabeln dichtet, gelegentlich einen Gatten, so einmal den König der Kreter, aber, so fügt Kalypso hinzu, die es dem Odysseus erzählt, ihr Hochzeitsbett war das dreimal gepflügte Brachfeld. Ihr Gattentum wird also kosmisch empfunden, in der menschlichen Sphäre ist sie nur die Mutter, die Muttersorge, der Mutterschmerz. Manchmal ist sie auch die Göttin des Todes, denn der Tote geht wieder in den Mutterschoß der Erde ein, und die Mutter, die Gebärende, ist dem Tode immer näher als der Mann. So erklären sich auch Mysterien von Eleusis, einem Ort bei Athen, den wir von ferne sehen werden. Es waren die geheimnisvollen, der Sage nach von Demeter gestifteten Weihen, denen sich die gläubigen Griechen unterzogen und über die niemals gesprochen werden durfte, so daß reichliches Dunkel über jenen Bräuchen liegt. Ohne Zweifel aber war es die Stätte, wo anknüpfend an das sterbende und wieder auferstehende Getreide, der Glaube an ein zukünftiges Leben, sonst dem daseinsfrohen Griechen völlig fremd, in tiefer Frömmigkeit gepflegt wurde. Im Athener Nationalmuseum werden wir der Demeter von Eleusis wieder begegnen. In einem der besterhaltenden und schönsten attischen Flachreliefs ist sie dargestellt, zu Erinnerung an die Stiftung der Mysterien, aufrecht und hoheitsvoll auf ihr Szepter gestützt, aber mit einer sanften und mütterlichen Neigung zu dem Knaben Triptolemos, dem sie das erste Getreidekorn in die erhobene Hand gibt. Sie bringt einen Kult, sie überreicht eine Aufgabe. Die dritte Göttin ist von noch größerer Bedeutsamkeit. Friedrich Schuh Laubacher Feuilleton 20.1996
Hera — Juno Hera ist die Gemahlin des Zeus, des höchsten Gottes. Die Römer nannten sie Juno. Unter einer junonischen Erscheinung verstehen wir eine hohe, herrscherliche Frauengestalt. Wir denken an den großartigen Kopf der Juno Ludovisi, zum Einsetzen in eine Kolossalstatue bestimmt, den Goethe so sehr verehrte. Wenn Aphrodite den weiblichen Liebreiz schlechthin, Demeter das Muttertum verkörpert, so ist Hera die herrschende Frau, die eifersüchtig ihre Rechte gegenüber dem Gatten wahrt. Sie ist die Matrone, deren Reiz Verwelkt und deren Mutterschaft erloschen ist. Was ihr im Alter bleibt, ist das Pochen auf ihre Stellung, das Erheischen von Achtung von seiten des Gatten Zeus, der sich so oft mit sterblichen Frauen einläßt. Es ist bekannt, wie sie in ihrer beleidigten Würde die uneheliche Brut des Ungetreuen verfolgt. Dem Herakles schickt sie schon an die Wiege zwei Schlangen, die ihn töten sollen, und bürdet ihm ein Leben lang furchtbare Mühen und Leiden auf, die ihn allerdings zum berühmtesten aller Halbgötter machen sollten. Herakles heißt ja wörtlich «der durch Hera Berühmte». Als Leto, eine andere Geliebte des Zeus, gebären will, jagt Hera sie von Insel zu Insel und verweigert ihr den Ort der Geburt, bis sich Poseidon erbarmt und das schwimmende Eiland Delos mit vier Säulen auf dem Meeresboden festmacht, so daß Leto die Zwillinge Apollon und Artemis zur Welt bringen kann. Die schöne Io, die die Aufmerksamkeit des Zeus erregt, verwandelt Hera in eine Kuh, treibt sie mit einer Stechbremse durch die Lande und schlägt sie mit Wahnsinn. Ihr Leben mit dem Gatten Zeus bedeutet also fast tägliche Händel, und da sie meist vor den versammelten Göttern ausgetragen werden, ist die höchste Göttin fast immer in Gefahr, Heiterkeit zu erregen. Man möchte sagen, auch von ihr gelte der Satz, daß vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt sei. Um Aphrodite flattern Tauben und Sperlinge, neben Hera steht der Pfau, der stolze Vogel mit der schrillen Stimme. Aber man muß ihr gerecht werden: erst durch die Frivolität des Gatten, Ausdruck der unbekümmerten Männerpolygamie der griechischen Adelszeit, wird sie ja zur Verteidigung und Widerspruch gezwungen, sie wird zur politischen Frau, wenn man darunter die Verstrickung in die Sphäre der Macht versteht, die oft unweiblich macht und für das echte Frauentum fast immer gefährlich ist. So scheint sie menschlich gegenüber Aphrodite und Demeter vermindert, aber auch hier herrscht wieder ein wunderbarer Ausgleich. Wenn Demeter der Aphrodite überlegen ist, denn eine Mutter ist mehr als eine Geliebte, so erscheint die Matrone Hera in ihrem Rangwert höher als beide durch das, was sie vertritt, die Institution der Ehe, ohne die selbst das Muttertum gefährdet ist. Ein Blick auf die hilflos irrende Demeter, die überall nach Beistand sucht, um ihr Kind zu erhalten, überzeugt, wie gebrechlich das Muttertum ohne den festen Bestand der Einehe ist. Ihre hohe Patronin ist Hera, und dies ist ihre sittliche Größe. Mit dem unerbittlichen Anspruch auf die Heiligkeit der Ehe wird sie zur Personifikation einer Kulturwende. Mit dem Ackerbau, den Demeter lehrte, beginnt die Zivilisation, mit der Einehe, von der Hera verteidigt, beginnt der Staat. Das Recht des einen Bettes, des einen Herdes, die klare Unterscheidung zwischen den legitimen und illegitimen Nachkommen festigt die griechische Familie gegen den orientalischen Harem und damit den Staat, der auf Ehe und Erbrecht aufgebaut ist. Selbst Perikles gelang es nicht mehr, nach dem Tod seiner rechtmäßigen Söhne die beiden Bastarde, die er von der Aspasia hatte, zu legitimen Erben erklären zu lassen. Das war, durch die Zeiten hindurch bis zum ausgereiften athenischen Staat, das Werk der Hera. Sie vertritt nicht das Mutterrecht gegen das Vaterrecht (das würde bedeuten, daß die Mutter über dem Vater stünde, dies ist längst vorbei), sondern die gleiche Partnerschaft in der vaterrechtlichen Ehe, die Achtung vor der ehelichen Frau. So steht hinter der oft so zänkischen Göttin Hera eine tragische Gestalt. Sie ist die Verkörperung des ewigen biologischen Kampfes zwischen dem männlichen und weiblichen Prinzip. In dieser Bürde und Würde steht sie vor uns, und so ist sie mit Recht die gleichberechtigte Gemahlin des Königs der Götter. Friedrich Schuh Laubacher Feuilleton 9.1994, S. 15; Fortsetzung folgt
Athene — Minerva Die Götter der Griechen Aphrodite; Artemis Und nun gehen wir mit dem Griechen aus dem Bergwald, wo er soeben die ferne Artemis in ihrer Einsamkeit gesehen hat, wieder zurück in seine Stadt, deren Bürger er ist, an diesen seinem Innersten gemäßen Wirkungsraum mit dem geschäftigen Handel und Wandel rühriger und aufgeweckter Menschen — und wir begegnen bei den Marktbuben und auf den Werften, auf dem Gerichtshügel, auf der Rednerbühne und überall, wo Menschen mit Menschen raten und werken, die Göttin der Stadt, der Nähe, die Beraterin und Lehrmeisterin, die Göttin Athene. Athene ist eine gesteigerte Artemis und wiederum ihr Gegenteil. Sie ist Jungfrau wie sie, aber alles Starre und Spröde, Ferne und Fremde ist weggeschmolzen von ihrer allseits freundlichen und aufmunternden Gegenwart. Sie ist die Göttin der Nähe, ja man kann fast sagen, sie liebt das Getümmel. Wo der Mensch mit Menschen zu tun hat, wo der Mensch aus Dingen etwas zu machen versucht, da ist sie da mit ihrem Wissen und Ihrer Klugheit. Artemis ist weder klug noch weise. Ihre Hilfe ist die des Naturinstinkts. Sie hilft aus einem fast scheuen, aber guten Herzen. Sie ist der Beistand vor allem im Leiblichen und Seelischen. Athene aber leitet an, sie lehrt, sie ist die Hilfe im Geistigen. Sie ist nicht die Freundin der Reinen und Unerfahrenen, ihre Freude ist mit dem Wagenden und Streitenden wie Achilles, mit dem Herumgetriebenen wie Odysseus, mit allen, die ihre Erdenlast groß und als Helden tragen, wie Herakles es tat. Im Museum zu Olympia werden wir die so zarte, kameradschaftliche Handbewegung sehen, mit der sie dem Herakles ein wenig nachhilft, daß die mächtige Himmelskugel, die er für einige Zeit zu tragen hat, ihn nicht zerdrückt. Aber auch hier ist es nicht die körperliche Hilfe allein. Atlas hat dem Herakles die Weltkugel auf die Schultern gelegt, um für ihn die Äpfel der Hesperiden zu holen, denkt aber gar nicht daran, sie wieder aufzunehmen, und ist froh, daß er einen Dummerjan gefunden hat. Herakles ist ja nicht immer sehr hell im Kopf. Genau in einem solchen Augenblick ist das Auftreten der Athene typisch. Mit einfachen Worten gesagt: im Grunde flüstert sie in den schwierigen Augenblicken, wo sie ihrem Helden beisteht, immer nur das eine zu: Laß dich nicht für dumm halten, Lieber, ich steh bei dir. Natürlich ist ihre Hilfe zunächst Waffenhilfe. Sie ist die Stadtgöttin, die Stadtbeschützerin, und war es vielleicht schon für die Burg Mykenä gewesen. Als Athene Promachos, als Vorkämpferin, stand sie in bronzener Kolossalfigur auf der Akropolis, und von weither sah man auf dem heimkehrenden Schiff ihre Lanzenspitze in der Sonne funkeln. In voller Rüstung war sie von Phidias in der Goldelfenbeinstatue im Parthenon gebildet, mit Helm, Lanze und Schild und dem Gorgonenhaupt auf der Brust, vor dem die Feinde erstarrten. Sie ist immer in Bereitschaft und zum Schlage fertig, aber auch schlagfertig im geistigen Sinn. Die rasche treffende Erwiderung ist ihre Sache, die plötzliche Lenkung der Menschen im Augenblick der Gefahr, darauf versteht sie sich. Agamemnon hat, nur zum Schein und um die Kampfstimmung zu erfahren, den Griechen vor Troja geraten, den Krieg aufzugeben, zu den Schiffen zu gehen und heimzusegeln. Und nun stürzen sich wider jegliches Erwarten, alle, Führer und Mannschaften, tatsächlich auf die Schiffe. Da steht Odysseus, tief erschrocken und ratlos, wie man die Massen zurückhalten könnte — und schon ist Athene bei ihm und lehrt ihn, wie es zu machen sei. Wenn Odysseus und Diomedes als nächtlicher Spähtrupp an das Lager der Trojaner anschleichen, beten sie gepreßten Herzens zu Athene, und sie hilft ihnen zu glücklicher Rückkehr. So steht sie dem Herakles in allen seinen Fährnissen, dem Achilles in seinem Streit mit Agamemnon bei, aber ihr geliebtester Held ist Odysseus, der schlaueste aller Griechen. Die beiden halten zusammen, sie wissen auch um ihre Zusammengehörigkeit und sie kennen den Grund dazu, ihrer beider hellen Verstand. In einer der hübschesten Stellen der Odyssee erfahren wir es aus dem eigenen Mund der Göttin. Odysseus ist mit wohlerhaltenen Schätzen schlafend in Ithaka gelandet, ohne zu wissen, wo er ist. Da naht sich ihm Athene in Gestalt eines jungen Hirten, fragt ihn nach seinem Woher und Wohin, und bekommt nun von ihm ein solches Lügenmärchen erzählt, daß es selbst der einfallsreichsten Göttin zu viel wird. Sie legt ihre Verkleidung ab und bedeutet ihm gewissermaßen, daß alles seine Grenzen habe. «Und sie redet' ihn an und sprach die geflügelten Worte: Geist erforderte das und Verschlagenheit, dich an Erfindung Jeglicher Art zu besiegen, und käm' auch einer der Götter ! Überlistiger Schalk voll unergründlicher Ränke, Also gebrauchst du noch selbst im Vaterlande Verstellung Und erdichtete Worte, die du als Knabe schon liebtest ? Aber laß uns hievon nicht weiter reden; wir kenne Beide die Kunst: du bist von allen Menschen der erste An Verstand und Reden, und ich bin unter den Göttern Hochgepriesen an Rat und Weisheit.» Sie sehen, so schelmisch und klug könnte Artemis niemals sprechen, so brüderlich-schwesterlich nahe könnte sie, trotz ihrer Schwesterlichkeit, niemals bei einem Manne sitzen. Artemis bleibt immer die Spröde, die mädchenhaft Spröde. Athene ist, wie es oft einem Mädchen geht, das nur mit Brüdern aufgewachsen ist, ein halber Junge, wenn das Wort erlaubt ist. In diesen Zusammenhang gehört vielleicht die Tatsache, daß man den Marmorkopf der Athene in Bologna lange Zeit für einen männlichen gehalten hat, und wir werden gleich sehen, daß auch der Mythos dies ausdrückt, denn Athene hat keine Mutter, sie ist ein echtes Vaterkind. Aber wir müssen für einen Augenblick noch auf das Gespräch in Ithaka zurückkommen. «Wir kennen beide die Kunst», hat sie gesagt. Freilich ist damit nicht «die Kunst» gemeint, obwohl wir wissen, daß Athene mit ihrem Symboltier der Eule zur Göttin der Künste und Wissenschaften geworden ist. Dies ist jedoch eine spätere Zutat unter dem Eindruck der überwältigenden Entwicklung der Kultur in der Glanzzeit Athens. Man muß Kunst und Wissenschaft völlig ausscheiden, wenn man Athenes eigentümliche Geistigkeit verstehen will. Sie hat nichts mit Kunst zu tun. Unmöglich sich vorzustellen, daß sie zum Beispiel tanzt. Eher tanzt Artemis ihren Reigen auf der stillen Berghöhe. Athene ist eine ganz unmusische Gestalt. Der Mythos bestätigt es. Sie soll zwar die Flöte erfunden, sie aber gleich weggeworfen haben. Halten Sie das genau fest: sie erfindet die Flöte, aber sie kann nicht damit spielen. Athene hat technischen Verstand, sie ist Erfinderin, aber nicht Künstlerin. Ihr Wesen ist ungemein wach und hell. Ihre Augen dachte man sich von schrecklichem Glanz. Es waren Eulenaugen. Die Eule hat große starre Augen, ihr Blick geht im Gegensatz zum seitwärts gewendeten Blick der meisten Vögel geradeaus, fast wie beim Menschen. Athene ist die Göttin der scharfen Beobachtung, der nach außen gewendeten Beobachtung der Natur, nicht der betrachtenden Versenkung. Sie ist als Athene Ergane, Athene des Wirkens und Schaffens, die Patronin der Handwerker um den athenischen Marktplatz geworden. Erfindung, das bedeutet zumeist, wenigstens im entscheidenden Augenblick, eine eindeutige Lösung, einen plötzlichen Einfall, einen neuen entscheidenden Griff. Dann ist etwas Neues da für alle Ewigkeit. Dann ruft man Heureka, ich hab's gefunden. Als Homer die Ilias und Platon das Symposion beendet hatten, riefen sie nicht Heureka. Hier handelt es sich um andere Dinge, die in tiefer Versenkung geboren werden und eines langen und langsamen Reifens bedürfen. Mit dem nur klaren und wachen Blick und dem nur schnellen Verstand ist hier nichts zu gewinnen. Homer soll blind gewesen sein. Wenn es den Sänger überfällt, greift er in die Harfe und drückt die Augen zu, um die bestürzenden Bilder der Eingebung von allem hellen Außen abzudunkeln. Diese Geistigkeit ist nicht die der Athene, das ist, um es vorwegzunehmen, das Reich des Sängers und Anführers der Musen, des weissagenden Gottes, des eigentlichen Gottes der Wissenschaften und Künste, des Gottes Apollon. Vielleicht verstehen wir Athene am besten, wenn wir zum Schlusse noch von ihrer Geburt hören. Sie erinnern sich noch an die Geburt der sinnlichsten Göttin, der Schaumgeborenen. So freilich konnte Athene, die geistigste, nicht geboren werden. Der Mythos erzählt: Metis die Klugheit, die Geliebte des Zeus, trägt ein Kind von ihm. Weil er aber von diesem Kinde der Klugheit fürchtet, es könnte ihn einmal vom Throne stürzen, verschlingt er die Metis. Zu gegebener Zeit schlägt nun Poseidon mit gewaltiger Axt auf die Stirn des Götterkönigs, und aus ihr springt in voller Waffenrüstung Pallas Athene, die nicht nur Jungfräuliche wie Artemis, die jungfräulich geborene, die Parthenogenos, die Vaterstochter. Es handelt sich also hier nicht um die Geburt des höchsten Geistes, sondern um die der Metis, der Klugheit. Athene ist die Tochter der Metis, aber vom Vater geboren. Immer wieder wird sie die Polymetis genannt, die Überauskluge, die Siebengescheite. Was aber, wenigstens nach griechischer Meinung, der weibliche praktische Verstand nicht mehr zu meistern vermag, die dichterische Gestaltung, die Kraft der hohen Abstraktion, das ist das Reich des größten griechischen Gottes, Apollon. Friedrich Schuh Laubacher Feuilleton 8.1993, S. 15; Fortsetzung folgt
Artemis — Diana Die Götter der Griechen Aphrodite Auf den ersten Blick erscheint es fast, als ob die Möglichkeit, das Wesen des Weibes durch Gestalten von ausschließlicher Eigenart wiederzugeben, mit diesen drei Göttinnen zu Ende sei. Aber noch bleibt die Frau, die mit dem Manne nichts zu schaffen hat, die Jungfrau, eine hohe weibliche Wesenheit, die ja im späteren Christentum als Nonne und somit Braut Christi über alle Frauen gestellt wurde. Es handelt sich also um die nicht geliebte oder nicht liebende Frau, der die naturhafte Erfüllung nicht zuteil wird und deren Unberührtheit einen Hauch von Spröde und Ferne trägt. Auch diese Wesensseite des Weibes ist elementar und gültig. Deshalb ist sie für den Griechen göttlich und wird ihm zur göttlichen Gestalt. Ihr Name ist Artemis, die Diana der Römer. Wie fast alle Gottheiten der Hellenen ist auch Artemis eine vorgriechische Göttin, und es ist dem indogermanischen Griechentum schwer geworden, diese ursprünglich blutdürstige Göttin in eine menschlich befriedigende Gestalt zu veredeln. Wie Aphrodite, die ursprünglich syrische Astarte, der ein Prostitutionskult gewidmet war, in die strahlende Liebesgöttin verwandelt, wie die vorgriechische Erdhöhlengöttin Da in die Erd- und Mutterschoßgöttin Da-mater, De-meter vergeistigt wird, wie die Hera, wahrscheinlich eine als heilige Kuh verehrte, ursprünglich kretische-mykenische Gottheit zur hohen Ehegöttin gesteigert wird, so wird nun auch die Schlächterin Artemis verwandelt. Die vorgriechische Artemis heißt die Herrin der Tiere. Sie ist abgebildet mit Schlangen und wilden Tieren. Sie liebt das Tieropfer, zu ihr betet man für das Gedeihen der Herde, für eine gute Geburt der Tiere, und so ist sie sogar zur Geburtshelferin der Menschen geworden. Sie hat mit Blut zu tun. Noch in der späten Sage erfährt man ihren Zorn, wenn einer, wie König Agamemnon, ihre Hirschkuh verletzt. Sie fordert zur Sühne die Opferung eines Menschenkinds, der Iphigenie. Aber langsam wandelt sich das Bild. Im reifen Mythos wird sie zur Jägerin. In hochgeschürztem Kleid, mit Bogen und Köcher ausgestattet, von der heiligen Hirschkuh begleitet, streift sie durch die einsamen Bergschluchten und Wälder. Aber jeder Jäger ist zugleich Heger des Walds und Pfleger des Wilds. Der Jäger ist der Mensch, der die Tiere immer noch am besten kennt und liebt. Mit diesem doppelten Wesen der Jägerin und Pflegerin ist die Gestalt der Artemis erfüllt. Sie ist die einsame ungesellige, die Junggesellin, der Liebe abhold und immer die Feindin der Aphrodite. Den Aktäon, der ihre nackte Gestalt im Bade erspäht hatte, läßt sie von seinen eigenen Hunden zerreißen. Aber wo ein Tier grausam verfolgt wird, ist sie zur Stelle, und wo ein Jüngling sich von der Liebe nicht verführen läßt, wie jener Hippolytos, der vor seiner buhlerischen Stiefmutter Phädra flieht, beschützt ihn Artemis. Sie ist die Bringerin der Geburtswehen, die sich die griechischen Frauen als von der Artemis abgeschossene Pfeile vorstellten, aber auch die Helferin bei den Geburten, zu der die Mütter in ihrer schweren Stunde beten. Bei Homer wird sie hagne, die Heilige, genannt, das heißt: die Reine und Keusche, die sich fern jeglicher Vermischung hält, aber gerade deshalb dem Unberührten, der reinen hilflosen Kreatur zu Hilfe kommt. Sie, die selbst keine Wehen erleidet, wird zur Wehmute. Der Vergleich, den ich nun ausspreche, klingt vielleicht banal, aber er hilft zum Verständnis, und wir müssen ja alles tun, um den uns oft so fremdem Mythos verständlich zu machen. Denken Sie an den Typus der Pflegeschwestern, jener entsagenden, dem öffentlichen Leben fernen, in der Stille wirkenden guten Geister, die den Müttern helfen, ohne selbst Mütter gewesen zu sein, und Kinder pflegen, die ihnen nicht gehören — so spüren sie für einen Augenblick sicherlich die Verwandtschaft mit dem Wesen Artemis. Auch Artemis ist keine Geliebte, keine Mutter, keine Gattin, aber sie ist eine Schwester. Damit geraten wir, nachdem wir soeben von der christlichen Erhöhung der Nonnen zur Braut Christi gesprochen haben, wiederum und merkwürdigerweise in den ganz unvermuteten christlichen Bezirk. Nehmen Sie noch dazu, daß Artemis tatsächlich und als einzige aller Göttinnen Schwester ist, nämlich Zwillingsschwester des größten und geistigsten Gottes Apollon. So verstehen Sie, wie wir mit dieser Göttin wiederum in der Rangstufe der Gottheiten eine weitere höhere Stufe erreicht haben, über Aphrodite, Demeter, Hera, die doch alle noch in der irdischen Liebe, im Sinnlich-Geschlechtlichen verhaftet sind. Vielleicht können wir die Göttin Artemis mit einem zwingenden Worte fassen: sie ist die unberührte Natur. Unberührt im menschlichen Bezug, als die keusche Jungfrau — und im Kosmischen gleichfalls der Ausdruck der unberührten Natur, der einsamen Landschaft, der geheimnisvollen Stille in Wald und Flur. Beachten Sie, mit welcher Scheu diese Stille in der griechischen Dichtung einmal ausgedrückt wird: «...auf unberührter Wiese, wo nie ein Hirt die Herde weiden darf, wo keine Sichel klingt, wo nur im Lenz die Biene durch die lichten Auen schwärmt; die Keuschheit waltet hier...» (Euripides, Hippolytos, v. 74ff). Das ist der Bereich der Artemis. Wenn der Grieche jenseits seiner Stadt den Zauber der unberührten Landschaft fühlte, die stille Alm auf den höchsten Bergen, das wunderbare Schweigen im Wald — nichts rührt sich, das gedämpfte Licht steht stille zwischen den Zweigen, und nur ein Blatt fällt leise und bebend zu Boden —, in solchem Augenblick schreitet Artemis durch die Natur, wie in einem von der gleichen Heimlichkeit durchzogenen Bild Böcklins, das Schweigen des Waldes genannt, eine Weibsgestalt auf dem weißen Einhorn durch die Stämme reitet. Hier, fühlen wir, ist der Grieche, in seine plastische Phantasie gebannt, an der Grenze seines Wesens. Mit dem Gefühl, aus dem er die Artemis als Wesenheit schuf, streift er an das, was nur noch durch die Musik, etwa der des Waldwebens im Siegfried zu sagen oder durch die Landschaftsmalerei zu geben ist, die dem Abendland erst durch das Christentum ermöglicht wurde, das die Seele des Menschen entdeckt und so erst die Voraussetzung der Beseelung der Natur geschaffen hat — womit wir ein drittes Mal bei der Göttin Artemis und sicher nicht ohne Grund an eine christliche Ahnung rühren. Friedrich Schuh Laubacher Feuilleton 7.1993, S. 15; Fortsetzung folgt
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