Aphrodite — Venus Meine Damen und Herren! In wenigen Tagen sind wir in Delphi. Wir werden vor einer Menge von steinernen Überresten stehen, die alle ihren Bezug auf Apollon haben. Auf dem blanken Burgberg von Athen ist fast jeder Stein Verkündigung der großen Göttin Athene. Die Trümmer in Delos sind wiederum Zeugnisse Apollons, die in Olympia des Götterkönigs Zeus. Es ist unmöglich, all dieses noch Sichtbare in einem tieferen Sinne zu verstehen, wenn man nicht weiß, was diese Götter bedeutet haben. Eine Griechenland-Reisende, Paula Philippson, schreibt: «Auf Wanderungen und Fahrten zu griechischen Kultstätten überkommt uns immer wieder das Empfinden: nicht der Tempel an sich, nicht der aus der Landschaft für den Gott herausgeschnittene Bezirk allein stellt die Heiligkeit der Stätte dar, sondern die ganze Landschaft ist gotterfüllt, und zwar erfüllt von dem Gott, dessen Heiligtum in ihr errichtet ist.» Es ist also wohl eine Notwendigkeit für diese Reise, von den griechischen Göttern etwas mehr zu wissen, als in den Reisehandbüchern steht. Erlauben Sie mir deshalb, daß ich Ihnen in dieser Stunde berichte, was wir heute nach jahrzehntelanger eingehender Mythenforschung über die griechischen Götter wissen, und daß ich versuche, begreiflich zu machen, was das ist, ein griechischer Gott. Aus einen Vortrag von Friedrich Schuh, gehalten an Bord des Schiffes Adriatiki anläßlich einer Studienreise nach Griechenland, Ostern 1959. Die einzelnen Götter werden hier wiederbelebt, einfach göttlich. Wir beginnen mit Aphrodite, der Göttin der Liebe. Sie hat den gewagtesten Namen. Aphrodite heißt die Schaumgeborene, die aus dem Meeresschaum Aufgetauchte. Als nämlich Uranos, der Gott des Himmels, sich über die dunkje Gaia, die Erde, beugt, um sie zu umfangen, schnitt ihm Kronos mit einem Sichelschwert das Zeugungsglied ab und warf es hinaus ins Meer. Dort schwebte es lange auf den Wellen umher, bis aus dem göttlichen Samen eine wunderbare Jungfrau erwuchs, Aphrodite, die Schaumgeborene. Wunderbar hat die Sage ausgeschmückt, wie sie nun auf der Insel Kypros landet: wo ihr Fuß auftritt, entsprießen Blumen und Gräser, die Lüfte um sie wehen, werden leicht und lind, und überall erwacht das Liebesverlangen, wo sie erscheint. Rilke in seinem großen Gedicht Geburt der Venus hat es so schön gesagt: «Hinter ihr, die rasch dahinschritt durch die jungen Ufer, erhoben sich den ganzen Vormittag die Blumen und die Halme, warm, verwirrt wie aus Umarmung.» Die Liebe und mit ihr alles Leben stammt also aus dem Meer. Später hat Thales von Milet über diesen Urgedanken eine Philosophie gemacht, nach der alles organische Leben aus dem Wasser entstanden ist. Unsere heutige Entstehungslehre der Erde weiß es nicht besser. In Millionen von Jahren hat sich dieser Planet Erde aus ungeheuren Hitzegraden abgekühlt und ist zu Urgestein und Erde geworden, die wiederum erst durch das Wasser des Meeres fähig wurde, lebendige Gebilde zu erzeugen. Siegmund Freud hat das Meer einmal die Urwiege des Lebens, den Mutterschoß, genannt, zu dem wir alle uns zurücksehnen. So ist also Aphrodite die Allesbeherscherin, die Göttin des mächtigsten und tiefsten Triebes, dem kein Lebendiger sich entziehen kann. Mit allen Reizen und Schönheiten hat sie der griechische Mythos ausgestattet. Die liebeslustigsten Vögel, Tauben und Sperlinge, oder die munteren Delphine begleiten sie, Myrthen und Rosen, die bräutlichen Blumen, schmücken ihr Haar und Gewand; der Apfel ist ihr beigegeben, das uralte Symbol weiblicher Verführung, oft auch der Mohn, denn im Genuß der Liebe ruht völliges Vergessen. Die Chariten sind ihre anmutigen Gespielinnen, Eros, später Amor mit dem gefährlichen Pfeil spielt zu ihren Füßen, immer ihres Winks gewärtig, und die Künstler des Altertums sind nicht müde geworden, sie meist in ganzer Lebensgröße und in voller marmorner Nacktheit nachzubilden. Sie ist die elementare geschlechtliche Lust, mit der die Tiere auf der Erde und die Vögel in der Luft sich paaren, die geheimnisvolle Kraft, die aus Blütenstaub und Fruchtknoten neue Pflanzen erzeugt, und ihr Zauber spielt noch in den balsamischen Düften, mit der die Luft die stumme Erde umschmeichelt. Wehe, wer sich dem Urtrieb der Liebe widersetzt! Ihn kann Aphrodite fürchterlich bestrafen. Hippolytos wird von seiner Stiefmutter Phädra in unerlaubter Liebe umworben, doch der reine, der keuschen Artemis ergebene Jüngling weigert sich. Erbarmungslos läßt ihn die beleidigte Aphrodite durch einen Sturz aus dem Wagen von seinen Rossen zertreten. Sie ist nicht die Göttin der ehelichen Liebe, sondem des Liebreizes und des Liebesvedangens schlechthin. Das Meer, aus dem sie stammt, ist nicht nur das Abbild ihrer zauberhaften Schönheit, sondem Sinnbild der treulos zerfließenden Unbeständigkeit. Die Römer kannten den Ausdruck ‹Venuswurf›. Das ist der Wurf mit der höchsten Zahl auf allen Würfeln, das höchste Glück im Spiel, aber nur ein Geschenk des flüchtigsten Zufalls. Auch Aphrodite ist die flüchtige Lockung und Verführung. Es gibt bei Homer eine Szene, die wir als frivol empfinden, aber sie ist von höchster griechischer Heiterkeit. In diesem verwegenen, aber geistreichen Stückchen der Odyssee ist die Göttin verheiratet — im Grunde eine Unmöglichkeit, denn es ist schlechterdings unausdenkbar, welcher griechische Gott hier in Betracht käme, abgesehen von der Unglaubhaftigkeit, ihr eine treue eheliche Liebe zuzumuten. So gibt ihr der griechische Mythos in seinem großartigen Sinn für tiefe Komik den Hephaistos als Gemahl, den hinkenden, häßlichen Schmiedegott Vulkan. Helios der Sonnengott, der alles sieht, weiß nun und verrät es dem Hephaistos, daß seine Frau ihn demnächst mit dem schönen, schnellen und starken Kriegsgott Ares (Mars) betrügen wird. Da schmiedet der Gott in seinem bitteren Schmerz starke, unauflösliche, aber spinnwebenfeine und kaum zu sehende Ketten, kommt aus seinem rußigen Reich herauf zu seinem und seiner Gattin Palast und hängt dieses Maschennetz um die Pfosten des Bettes bis hinauf zur Decke des Gemachs. Dann begibt er sich weithinweg zur Insel Lemnos, und es kommt, wie Helios es vorausgesagt: auf dem Bett des Vulkans pflegen Aphrodite und Ares der Liebe. Da kehrt Hephaistos zurück, zieht das Netz über dem zappelnden Liebespaar zusammen und ruft die Götter herbei, um ihnen die Schande zu zeigen. Und es kommen in der Tat die Götter, in ihrem müßigen Leben immer auf Kurzweil bedacht, Poseidon, Hermes, Apollon — «Aber die Göttinnen blieben vor Scham in ihren Gemächern. jetzo standen die Götter, die Geber des Guten, im Vorsaal; Und ein langes Gelächter erscholl bei den seligen Göttern, Als sie die Künste sahn des klugen Erfinders Hephaistos. Und man wendete sich zu seinem Nachbar und sagte: Böses gedeihet doch nicht; der Langsame haschet den Schnellen! Also ertappt Hephaistos, der Langsame, jetzo den Ares. welcher am hurtigsten ist von den Göttern des hohen Olympos, er, der Lahme, durch Kunst.» (Sie haben sicherlich bemerkt, wie am Schluß deutlich wird, daß die Geschichte nicht nur ein Erotikon ist, sondem um des feinen Widerspruchs wegen erzählt ist: der Lahme übelistet den Schnellen.) So ist Aphrodite die verführerische Liebe, die Göttin des unwiderstehlichen Liebeszaubers. Auf die eben erzählte Szene folgt bei Homer ein Zwiegespräch, gleichsam ein diskretes Gespräch unter Männern. Apollon fragt den Hermes: «Hermes, Zeus' Gesandter und Sohn, du Geber des Guten, hättest du auch wohl Lust, von so starken Banden gefesselt, in dem Bette zu ruhn bei der goldenen Aphrodite?» Ihm erwiderte drauf der geschäftige Argosbesieger: «0, geschehe doch das, ferntreffender Herrscher Apollon! Fesselten mich auch dreimal so viel unendliche Bande, und ihr Götter sähet es an und die Göttinnen alle, siehe, so schlief ich doch bei der goldenen Aphrodite!» So ist die goldenen Aphrodite sicherlich die große Versucherin, aber keine, die dem raschen Griff eines Unwürdigen folgt. Sie ist immer die Liebenswerte, die Liebenswürdige. lmmer wo höchste Anmut und überwältigende Schönheit herrschen, wird die Welt der Aphrodite gefühlt. Sie erobert nicht der Plumpe, sondern nur, wer der Liebe würdig ist. So ist sie nicht nur die Göttin der Lust sondem der Schönheit schlechthin. In dem Urteil des Paris erkennt der trojanische Hirte unter Hera, Athene und Aphrodite dieser allein den Preis der Schönheit zu. Zum Dank verhilft sie ihm zur schönsten griechischen Frau, Helena. Man weiß, daß der griechische Mythos unbedenklich alle Qualen und Leiden eines zehnjährigen Krieges für nicht unbillig befand, obwohl sie lediglich dieses schönen Weibes wegen, des vollkommenen Abbilds der Aphrodite, von Griechen und Trojanern bestanden werden mußten. Einmal kommt die Ernüchterung über die trojanischen Männer. Sie sind bereit, sie an die Griechen auszuliefern und sich fortab die Mühsal des Krieges zu sparen. Als sie aber dann selbst erscheint in ihrer ganzen aphroditischen Schönheit, müssen sie sich doch wieder sagen: «Tadelt nicht die Troer und hellumschienten Achaier, Die um ein solches Weib so lang ausharren in Elend! Einer unsterblichen Göttin fürwahr gleicht jene von Ansehn.» Wir sind dem Wesen eines griechischen Gottes nun schon nähergekommen. Der Grieche fühlt und weiß, daß es eine unbezwingbare Macht der Liebe gibt. Wenn sie eine unbezwingbare Macht ist, ist sie eine göttliche Macht, eine Gottheit. Die Gottheit aber ist ihm immer eine lebendige Gestalt. Ein Gott ist jeweils eine mögliche, mächtige Grundwesenheit des Menschlichen, gesteigert und überhöht und in möglichster Ausschließlichkeit als Gestalt gesehen. Es gehört zur Großartigkeit der griechischen Seele, daß sie die tiefe Macht der Schönheit und der Liebe nicht nur kennt, sondern anerkennt. Aus diesem freimütig-naturhaften Gefühl schuf der griechische Glaube die Gestalt der goldenen Aphrodite. Friedrich Schuh Laubacher Feuilleton 6.1993, S. 15 Illustrierend dazu Mars und Venus von Jacob Matham aus dem Los Angeles County Museum of Art.
Strip-Poker der Götter Spiel und Erotik Wie alle Universalia der Kulturgeschichte provoziert das Phänomen Spiel zu kontroverser Theoriendiskussion. Unabhängig davon, welcher theoretischen Richtung man zuneigt und welche der zahllosen Definitionen man bevorzugt, gilt es festzuhalten: Spiele gibt es in allen menschlichen Gesellschaften, und Spiele muß man emstnehmen. Als Quelle der kulturhistorischen Forschung lassen sie Rückschlüsse zu auf Weltbild, Gesellschaftsordnung und viele andere Bereiche einer untersuchten Gesellschaft. Ohne weiter auf ihre Systematik und Typologie einzugehen, möge ein Aspekt aus dem gesamten Komplex herausgegriffen und in aller Kürze exemplarisch dargestellt werden: der Zusammenhang von Spiel und Religion. Wir wählen aus der verruchten Schublade der Spielkiste das Glücksspiel, gepaart mit der erotischen Komponente der Nacktheit. Die naheliegende Herleitung des Glücksspiels aus der Divination mag hier nur kurz referiert werden, um den sakralen Kontext zu umreißen, Alleingültigkeitsanspruch besteht nicht, zumal da neben dem Zufallsprinzip beim Glücksspiel ja auch spezifische Spielereigenschaften der Teilnehmer sich auswirken wie Geschicklichkeit, Geduld, Risikobereitschaft et cetera. Grundlegend beim Spiel mit dem Zufall, dem von den numinosen Kräften gesteuerten Unabwägbaren, war der Wunsch des Menschen, Kenntnis über die Zukunft zu erlangen, über das Schicksal, den Willen der Götter. Das zu diesem Behufe verwendete kulturelle Inventar hat sich zum Teil, wie Würfel, Lose oder Spielkarten, bis heute sowohl in der Mantik als auch im Glücksspiel erhalten. Auch das Prinzip des Roulettes läßt sich so auf Divinationsinstrumente wie Kreiselnüsse in Ozeanien oder Kreiselwürfel in China zurückverfolgen. Glücksspiel ist also eine Art von säkularisierter Divination. Zur Belebung des Spiels brachten die Beteiligten irgendetwas aus ihrem Besitzstand als Einsatz. Unter religiösen Gesichtspunkten nun war das Spiel mit dem Zufall als Ritus, als regelgenauer Vollzug mythischer Vorgaben eine ernste Angelegenheit. Die ersten Spieler waren die Götter. Die Symbolisierung der kosmischen Weltordnung durch den Spielverlauf, dessen Nachvollzug die kosmische Ordnung garantiert, ist bei vielen Glücksspielen signifikant. Jedes Spiel kreiert einen Mikrokosmos, die Spieler inbegriffen. Sie haften für ihren Einsatz mit ihrem Ansehen, ihrem sozialen Status. Glücksspiel ist eine affair d'honneur. Spielen um den Einsatz der eigenen Freiheit ist die ultimative Form. Ein anderes suggestives Bild für den totalen Einsatz im sakralen Spiel ist das Entkleiden. Es zeigt sich hier, daß Statusverlust mehr bedeutet als nur den Verlust des Gesichtes. Die sakrale Korrelation zwischen Giücksspiel und Entkleiden, der bemerkenswerte kulturhistorische Zählebigkeit zugesprochen werden kann, läßt ein weites Feld von Gründen und Motiven erkennen, das von tiefer Demütigung bis zur Erotik reicht. Demütigung und Leid , wie sie im Verlosen der Kleidung des sakralen Opfers augenscheinlich wird, vergegenwärtigen etwa die einschlägigen Passagen der Passion (Jah. 19:23 – 24; Mk. 15:16 – 20; 24; Mt. 27:28 – 29; 36) «Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los, was jeder bekommen sollte.» Mit der vollständigen Entkleidung stürzt die kosmische Ordnung, die Periode des Chaos' tritt an ihre Stelle. Auch in der altindischen Mythologie ist die Korrelation evident. Im großen Epos Mahabharata verlieren die Pandava-Brüder im Spiel all ihre Habe, selbst ihre Freiheit und ihre gemeinsame Gattin Draupadi. Höhepunkt der Katastrophe ist der Versuch der Kaurevas, die gewannen, die Heldin vor den Augen der Ehemänner und der gesamten Versammlung zu entkleiden. Da Draupadi eine lnkarnation der Göttin ist, verhindert Krsnas wunderbare Intervention ihre Entkleidung. Ihre Nacktheit würde zur unzeitgemäßen Auflösung des Universums führen, da die Handlung in einer Periodezwischen den Zeitaltern (yugas) angesiedelt ist. In den klassischen Mythen spielt Siva, der Gott der Spieler, mit Parvati, seiner Gattin. Beim Würfelsspiel der Götter heißen die Würfel nach den vier Zeitaltern (yugas), die alle viertausendmal rollen innerhalb der größeren Zeiteinheit des kalpa. Das Spiel des göttlichen Paares determiniert Kontinuität und Zäsur des Universums. Die Einsätze, um die Siva und Parvati spielen, sind ihre Kleider und Schmuckstücke. Wenn Siva sein Lendentuch verliert, wird er zornig, verläßt nackt das Spiel oder weigert sich, die Spielschuld zu begleichen. Parvati weist darauf hin, daß sie niemals gewinnt, außer durch Betrug. Indes kommt es niemals dazu, daß beide gleichzeitig völlig nackt sind, was ihre Verschmelzung miteinander zur Folge hätte — als Siva und Sakti, als Purusa und Pakrti am Ende aller Zeiten. Offensichtlich handelt es sich beim Strip-Poker um eine säkulare Variante des erotischen Spiels. Bertram Turner Laubacher Feuilleton 13.95, S. 2 f.
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