Kriegsrad Erquickt, belehrt, gesalbt Sie wußten ja nicht, daß der Feind (ich) mitten unter ihnen war. So ließ sich einer zu der laut gedachten Idee hinreißen: «Die Fußgänger sollten kleine Kampftrupps bilden und sie einfach runterschmeißen.» Gemeint waren, natürlich, die Radfahrer. Mir stak eine empörte, ans Humanitäre appellierende Entgegnung im Hals, doch der Selbsterhaltungstrieb mahnte zur Vorsicht: Die Idee fand ungeteilten Beifall. Was tun, sprach Lenin. Sich in einem solchermaßen verhetzten Kreis für die Radfahrer aussprechen? Wer konnte vorhersagen, wozu diese Fanatiker fähig waren! Ich blieb ruhig und beherrscht. Um die Stimmungslage der Nation zu testen, erzählte ich den Vorfall meinen Freunden Mike und Eva, beide sanfte, zivilisierte Mitmenschen. Sie radelt sogar hin und wieder. Ihre Augen leuchteten auf. «Genau», stimmte Eva dem Vorschlag mit den militanten Fußgängern zu, «du machst dir keine Vorstellung, wie sehr die Radfahrer den Verkehr gefährden. Die achten auf keine Ampel, fahren Einbahnstraßen in der falschen Richtung, erschrecken Fußgänger zu Tode, weil sie bei Kopfsteinpflaster grundsätzlich auf dem Gehsteig fahren, schlängeln sich an der Kreuzung zwischen den Autos durch, sind zu tretfaul, um nachts den Dynamo anzuschnappen. Runter vom Rad, kann ich da nur sagen.» Es klang wie ‹Kopf ab›. Sie hatte sich in Eifer geredet. Mit ihren geröteten Wangen sah sie allerliebst aus. Mike nickte zustimmend und sog an seiner Marlboro. Die Lage war noch nie so ernst, soviel konnte ich mir zusammenreimen. Wozu hatte ich Ches Tagebücher gelesen, damals im Urlaub, während der Mistral den Sand an die Zeltbahn trieb und Marianne ohne Bikini in der Sonne lag? Die Lektion blieb immer die gleiche: In der Not braucht man Freunde. Und: Wenn die Zeitgenossen versagen, hole dir Rat bei den Unsterblichen. Schlag nach! Die erste Stelle gab mir Mut, erschien aber alles andere als geeignet, eine Massenbewegung auszulösen. Es klang zu versponnen, viel zu akademisch, aber schön: «Man muß seine Räder, seine Felgen lieben, muß den Stahl und seine Formen in einer Glaubwürdigkeit lieben, die begeistert. Das muß die Literatur sein, so wie Jarry sie verstand. Er sagte: Diese metallische Verlängerung unseres Skeletts ...» Halt, um Himmels willen, das klingt ja wie Bhagwan im Sattel. Viel zuviel Muß. Dieses französische Pathos! Welch ein Überschwang. Doch lassen wir den Herrn, Charles Albert Cingria, zu Ende sprechen: «Der integrale Mensch», so weiß er, «ist Radfahrer. Er hat sich in dieser Verlängerung, welche die seine war und die ihm der Stahl zurückgibt, von seinem Schaden erholt, denn nun wird es ihm erlaubt, zu rollen, was viel mehr in unserer Art liegt (die sich am Anfang geflügelt oder kriechend fortbewegte) als das Marschieren.» So kann man sich verrennen! Die Vokabel ‹rollen› erlaubt es, ohne viel Exegese von der Gegenpartei reklamiert zu werden. Aber lassen wir das. Möge der Wahlspruch genügen: Tod allen Fanatikern. Von der Literatur enttäuscht, bemühte ich mich, Gleichgesinnte zu finden, in der Wirklichkeit (vgl. dazu den Beitrag über die Realitätstheorie von Hannes Kreisler, Laubacher Feuilleton 12.1994). Auch damit erlebte ich ein Fiasko. Radfahrer organisatorisch zu erfassen, ich meine, für eine revolutionäre Sache wie den Klassenkrieg zu gewinnen — unmöglich! Die Radler sind schneller im Gewühl verschwunden, als man «Wacht auf, Verdammte dieser Erde» sagen kann. Mir blieb nichts übrig, als selbst nachzudenken und die Situation analytisch zu erfassen. Lage: Zwei Parteien stehen einander gegenüber. Gut organisierte Autofahrer, die in ihrer Sucht nach Ölverbrennung von Staats wegen gefördert und um des Kommerzes willen Killermaschinen besteigen, die weitaus mehr Todesopfer fordern als die Droge Heroin. Ihnen steht der Radfahrer gegenüber, Singular, da meist Einzelkämpfer. Der Mensch am Steuer haßt den Menschen am Lenker. Das muß so sein, verkörpert der Pedaltreter doch alles, was der Verbrenner verabscheut. In Deutschland kommt dazu noch die historische Belastung, denn über lange Jahrzehnte hinweg galt die Bezeichnung ‹Radfahrer› als schlimmes Schimpfwort bei einem Volk, das den Gehorsam zur hohen Tugend erhoben, erfolgreich Gehorsame aber seit eh und je mit Neid und Spott verunglimpft hat. Wie weit der Krieg schon aus dem Vorstadium herausgetreten ist, merkt jeder Radfahrer am eigenen Stahlrahmen. Da wird die Luftpumpe geklaut, das Werkzeug, die Wasserflasche, das Vorderrad oder die ganze Maschine insgesamt. Da findet man die Reifen platt. Da versperrt ein grob gesetzwidrig geparktes Auto den Radweg und zwingt zum Absteigen. Da biegt wieder ein BMW genau vor dem Vorderrad nach rechts ab. Da öffnet sich wieder eine Opel-Tür, genau in dem Augenblick, wenn der Radler auf fast gleicher Höhe ist und sich nur durch einen waghalsigen Schlenker zur Straßenmitte retten kann — es sei denn, er fährt vor ein nachkommendes Fahrzeug. Mord, häufig ungesühnt. So sieht's aus. Versöhnung kann man im jetzigen Stadium nicht mehr predigen. Verstehen Sie mich recht: Ich bin nicht Gandhi. Die ideologischen Gräben sind zu tief. Schließlich fordert der Radfahrer bedingungslos seinen Spaß, und so was muß man ernst nehmen, bei Valentin. Denn die Verzückung, die der von Kette und Freilauf Beflügelte erfährt, muß ihn unnachgiebig auf seinem Recht zum Glück beharren lassen. So kommt er denn zu Wort: «Das Wetter war herrlich, fast schön. Leise Winde durchhuschten die Speichen meiner Überlandmaschine. Ein kühner Sprung auf das Stahlroß, noch ein Rückblick auf die Heimat, und mein Vehikel durchschnitt die Atmosphäre.» Wer könnte es schöner beschreiben? Henry Miller vielleicht: «Wenn ich radfuhr, wurde ich erquickt, belehrt und gesalbt. Vive le vélo! C'est un ami de l'homme comme le cheval.» Oder Maurice de Vlaminck, Radrennprofi, bevor er fauvistischer Maler wurde: «Die Entstehung der Welt fing für mich in dem Augenblick an, wo ich ein Fahrrad mein eigen nannte.» Toll, nicht? Auch für die Leser von Suhrkamp-Taschenbüchern wurde ich fündig. Sprach Ivan Illich: «Das Fahrrad und das Motorfahrzeug sind von derselben Generation erfunden worden, aber sie sind die Symbole für zwei gegensätzliche Anwendungen modernen Fortschritts. Das Fahrrad erlaubt es jedem, den Gebrauch seiner metabolischen Energie zu kontrollieren, das Motorfahrzeug rivalisiert mit dieser Energie.» Ganz klar, die metabolische Energie! Ich schämte mich etwas, nicht selbst draufgekommen zu sein. Auch das mit den Symbolen leuchtet ja wohl jedem ein. Da wird Versöhnung unmöglich, da treffen die elementaren Gegensätze der Sozietät aufeinander, da wird Krieg unvermeidlich, hie Radfahrer, dort Autolenker, Fußgänger entweder dazwischen oder je nach Temperament und Zweitpräferenz diesen oder jenen zugeneigt. Für mich gibt's nur eines: handeln. Che grüßt aus Bolivien. Erst die Terroristen zurückrufen, die jetzt schon mit Nägeln am Auto vorbeifahren und den Lack verkratzen. So was schadet bei dem Versuch, eine Massenbasis zu schaffen. Dann die Sorglosen aufklären und warnen. Und dann ... So blöd, meine Pläne zu verraten, bin ich auch wieder nicht. Aber hüten Sie Ihre Zunge bei der nächsten Party. Ich höre. Hans Pfitzinger Laubacher Feuilleton 15.1995, S. 4; Wiederabdruck aus TransAtlantik, Nr. 8/1983, S. 7. Der Autor legt wert auf die Feststellung, daß hier nicht vom sogenannten Mountainbike die Rede war. Das sei wieder etwas ganz anderes (siehe: Unbesteigbar).
Ungarische Frauentypen Ein französischer Schriftsteller — nach Einigen rührt der Ausspruch von Diderot, nach Anderen von Beaumarchais her – lehrt: Wer sich anschickt, über Frauen zu schreiben, sollte eigentlich nicht die Feder zur Hand nehmen, um sie in Tinte zu tauchen und seine Gedanken gemeinem Papiere anzuvertrauen; mit Blumenstielen und frischem Morgentau sollte er seine Empfindungen auf Rosenblätter schreiben, sollte die Schrift mit Blütenstaub bestreuen und zum Postboten den bunten, tosenden Falter erküren. Der Rathschlag klingt so süßlich und unbeholfen, daß ich fast geneigt bin, ihn für apokryph zu halten, zumal wenn er Beaumarchais zugeschrieben werden will, der die Frauen liebte und bewunderte, dessen Art es aber durchaus nicht war, derlei gewundene Komplimente zu drechseln, als wäre er der Berichterstatter über einen damaligen Eliteball gewesen, — vorausgesetzt, daß es zu seiner Zeit bei den Franzosen Frauenvereins= und «Elite»=Bälle gegeben hätte. Auch wer von Frauen schreibt, mag nur immerhin seinen Kiel in das schwarze Tintenfaß tauchen und seine Blätter mit schwarzen Buchstaben besäen; — seine Feder wird gleichwohl glänzen, wenn sie nur ihres Gegenstandes würdig ist; sein herbes Alizarin wird lieblich duften, wenn der Dichter seines Herzens Liebe hineingeträufelt und der Ruhm des Gedichtes wird auf Adlerschwingen durch die Zeit rauschen, wenn es wahr empfunden ist. Ich möchte zunächst nur dem Fremden, der bei uns nach Schönheiten des ungarischen Frauentypus forscht, in einigen Worten Weg und Richtung zeigen; und weiters möchte ich einer späteren Generation das Abbild einzelner besonderer Frauengestalten bewahren, bevor die Zeit sie ganz und gar ihrer Originalität entleidet und die charakteristischen Züge ihrer Eigenart von dem sogenannten Europäerthum verwischt werden. Ich habe das Gefühl, als stände ich an der Grenzmarke eines Zeitalters, wo die bekannte gute alte Zeit ab und zu mit vereinzelten Ranken und Zweigen sich noch herüberspinnt in den Bereich des Modernen, wo sie aber nicht mehr zu gedeihen vermag und allmählig dahinstirbt, während die Neuzeit die gierigen Wurzeln immer unwiderstehlicher in den Boden senkt und was sie an nährenden, lebenskräftigen Elementen vorfindet, aussaugt, sich assimilirt und in neuer Färbung und Gestaltung wieder zu Tage fördert. Unsere neueren ungarischen Historiker haben bereits mehr als einmal aus verstaubten, dumpfigen Aktenbündeln eine und die andere vergilbte Urkunde zu prachtvollem Blüthenleben erweckt, die uns ungarische Frauengestalten längst entschwundener Jahrhunderte in anziehendem, oft zauberischen Lichte zeigen. Die ruhmvollen Beherrlicher der ruhmvollen Vergangenheit Ungarns: Börösmarti, Arany, Jótai — welchen Zauberschein haben sie nicht über die ungarische Frauenwelt der Vorzeit ausgegossen! Wer kennt nicht die hochsinnige und hochgelehrte Fürstenmutter Susanna Lóranssy, des ritterlichen Dobozys heldenmüthiges Ehegemahl, das züchtige, herrliche Weib, das sich den Tod durch die Hand ihres Gatten erbat, um nicht Opfer des Tartaren zu werden; wer kennt sie nicht, die holde Jungfrau, die flehend und versöhnend dem hartherzigen Vater an die gepanzerte Brust sinkt und Gnade für den jungen Heiden erfleht, die geistvolle, tapfere Wittwe Franz Ràtóczys. [ ... ] Der weibliche Politiker lebt heute noch im Lande, aber diese politische Frau ist nicht mehr dieselbe, die sie ehedem war. Heute wendet sie die Eloquenz ihres Auges, ihre bezwingende Schmeichelei an die alltägliche Wahlagitation. Sie schreitet nicht mehr ihrem Gatten vorauf, sie steht hinter ihm. Im Kriege entwirft sie nicht mehr strategische Pläne, sondern plant kleine taktische Kniffe. Sie ruft nicht mehr durch die Posaune zum Streite, aber sie wirkt durch Einflüsterungen. Sie schmettert nicht, sondern souffliert. A. Àgay Laubacher Feuilleton 6.1993, S. 14; Agay, Dr. A.: Ungarische Frauen, aus: Das moderne Ungarn, Essays und Skizzen, hrsg. von Dr. Ambros Neményi, Berlin 1883, S. 313–315, 319 Die Photographie stammt von josefnovak22 unter CC.
Du Bastard! «Ein deutscher Anthropologe soll ausrechnen, wie der genormte Euro-Mensch aussieht.» (Der Spiegel, Nr. 1/47. Jahrgang, 4. Januar 1993). Identische Konfektionsmaße für Klamotten, Autositze und Klodeckel — vom Nordkap bis Gibraltar, von der Maas bis an die Memel. Eine einig Euro-Industrie-Norm soll es sein. Es geht aber nicht: Der hohe Norden, der tiefe Süden. Mindestens eine Nord- und eine Südproduktion seien unabdingbar. Erleichterung! Die Vielfalt ist gesichert — mindestens so lange, wie die Genforschung mit ihren Klonereien noch einige Schwierigkeiten hat. Bis dahin aber könnte doch vielleicht die Bastardisierung ... Es dauert zwar auch lange, hätte aber den Vorteil der natürlichen Methode. Widerstände der fortschrittsfeindlichen Kräfte wären nicht zu erwarten. Für die Industrie ist diese Idee doch der Knüller: Im Einklang mit der Natur (seit 1. 1. 1993 ist der grenzüberschreitende Verkehr zumindest in Europa angeblich komplikationslos) das farbenfrohe Spiel der Werbung nachahmen (Umsätze!) — und dabei im Kontext langfristiger Planung fest damit rechnen können, daß sich Höhe und Tiefe, Breite und Dicke nicht nur als Euro-Norm, sondern mit ein wenig Geduld auch als Welt-Norm menschlicher Formen herausmendeln werden (Einsparung: lean produktion mit äußerst geringer Fertigungstiefe). Der Gedanke sollte doch wohl ein gut dotiertes Sponsoring wert sein. (Redaktionsadresse im Impressum auf Seite 2 — ich teile gerne.) Auch politisch in einem sehr engen Sinne ist diese Vorstellung bestechend: ‹Vorkommnisse› kämen nicht mehr vor. Haß auf Ausländer, Andersfarbige, Menschen anderer Religion wäre nicht nur obsolet, sondern könnte nicht einmal mehr gedacht werden. Und auch die gegenläufigen Zeitverschwender wären von selbst erledigt: Lichterketten, Resolutionen, ‹Runde Tische› — wozu sollten die noch gut sein. Die Wohlmeinenden allerdings hätten einen Tranquilizer weniger. Dafür aber könnte sich eine neue Linke entwickeln. «Rassen aller Länder vermischt euch!» Das wäre doch die zeitgemäße Variante der ähnlich klingenden Aufforderung (vielleicht dasselbe meinende: «vereinigt euch» — tragisches Mißverständnis?), die zur Beruhigung aller Wohlhabenden zur Zeit weltweit keine Konjunktur hat. Überflüssig würde auch die hübsche ‹menschliche› Attitüde der Toleranz, dieser Duldsamkeit, die ja nur dann zum Zuge kommen kann, wenn jemand seinem Gegenüber erst mal massive Vorbehalte entgegenhält, ihn aber deshalb nicht gleich umbringt. Der Neger, Jude, Behinderte ist auch ein Mensch. Sorge bereiten mir bei diesem fabelhaften Konzept unter meinen Freunden nur die Grünen. Die aus einer «Mischung zweier Rassen hervorgehenden Kinder, die Bastarde oder Hybriden, müssen alle beiden Anlagen enthalten» (Strasburger, Lehrbuch der Botanik für Hochschulen). Geht das nicht gegen den Regionalismus der Stämme und Rassen, gegen einen — natürlich — wohlverstandenen Ethnozentrismus? Wird der Hinweis reichen, daß Farbtupfer dem Leben die Würze geben und die Lebensfreude vermehren? Rot/Gelb hat ja schon in den Fußballstadien Akzeptanz gefunden — zumindest bei der nichtbetroffenen Mannschaft und ihren Anhängern. Immerhin! Ganz zu schweigen von den heiß geliebten dribbelnden schwarzen Perlen. Und Grün: als ob nicht alle wüßten, daß diese Farbe nur eine Mischung zwischen Gelb und Blau ist. Das Gelb der F.D.P. (oder der chinesischen Fundamentalisten) und blauäugige Pfarrerstöchter. Einen Einwand allerdings konnte ich bislang nicht ausräumen, und vielleicht lasse ich an ihm die ganze schöne Idee scheitern: «Der wirkliche Charakter der Bastarde kann [...] oft erst klar erkannt werden, wenn man nun weiter die Kinder dieser Generation, also die Enkel der Elternpflanzen betrachtet» (Lehrbuch der Botanik für Hochschulen). Ich kann mich nicht damit trösten, daß es sich hier um Pflänzchen handelt. Die Menschen mendeln genauso. Diese Enkel. Nein, wirklich nicht. Manfred Jander Laubacher Feuilleton 5.1993, S. 1
Tod allen Nichtrauchern! Endgültig unten durch: Der aktive Aktiv-Raucher (1993) Sie waren zu dritt. Ich konnte zwar meinen Fuß noch auf das Beweismittel stellen, aber der Anführer des Trios zerrte mich schon aus dem dunklen Hauseingang, während sich einer der anderen bückte und dann triumphierend die Hand hochhob: «Na, was haben wir denn da?» Ich wußte, was jetzt kommen würde — zwei von ihnen halten dich fest, während der dritte Boxtraining am lebenden Punchingball durchführt. Nein, nicht schon wieder, dachte ich. Doch dann hörte ich, wie ein Messer aufschnappte, und einer der Typen — er sah aus wie Roman Polanski in Chinatown — beugte sich vor: «Du weißt ja, was wir mit Wiederholungstätern machen?» Ich schüttelte verzweifelt den Kopf und wich zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Haustür stand. Polanskis Gesicht war schon ganz nahe, als er seine Frage selbst beantwortete: «Wir schlitzen ihnen die Nase auf.» Ich versuchte zu schreien. «Nein, bitte nicht, ich werde auch bestimmt nie wieder rauchen!» Doch ich brachte keinen Ton heraus, während sie in dreistimmiges, gellendes Hohngelächter ausbrachen. Nein, schrie ich, nein! Nein!! Nein!!! Jemand rüttelte mich am Arm, und ich hörte eine weibliche Stimme: «Was hast du denn? Träumst du schlecht oder was?» Schweißgebadet wachte ich auf. Mein Gott, das war gerade nochmal gutgegangen. Nur ein Traum, dachte ich erleichtert, alles nur ein Traum. Noch gibt es keine Rollkommandos, die Raucher verprügeln und ihnen im Wiederholungsfall die Nasen aufschlitzen. Doch möglicherweise sind wir nicht mehr weit davon entfernt. Es wäre lediglich ein Rückfall ins 17. Jahrhundert, als schon einmal Monarchen und Päpste den Freunden des Rauchgenusses an den Kragen gingen. Und wenn ich die Zeichen aus dem In- und Ausland richtig deute, wird's wieder eng für den Tabakliebhaber. Falls jemand glaubt, mein Alptraum sei Ausgeburt einer überhitzten Phantasie, dann empfehle ich den Blick über die Südgrenze nach Österreich: Dort forderte der Gesundheitsminister bereits Rauchverbot für Schwangere, mit Zwangstherapie und Geldstrafen im Falle eines Verstoßes. Auch sonst schlägt dem Raucher allerorten Verbot, soziale Ächtung und Ausgrenzung entgegen. Der Raucher ist der letzte Dreck, der Abschaum der Gesellschaft, die einzige Minderheit, über die andere ungestraft und von schlechtem Gewissen unbehindert herfallen dürfen. Dabei ist noch nicht einmal von Hanfdampf die Rede. Der verändert ja bekanntlich die Wahrnehmung und sorgt für asoziales Verhalten — die Kiffer sind weniger aggressiv als die Alkoholiker und neigen zum süßen Nichtstun. Daß so etwas vom Gesetzgeber verfolgt werden muß, leuchtet ohne weiteres ein. Aber die Hanfraucher sind eine klitzekleine, nicht-radikale Minderheit, die im Verborgenen ihrem frevelhaften Laster nachgeht. Die Nikotiniker dagegen machen rund ein Drittel der Bevölkerung aus, und sie stehen öffentlich zu ihrer Sucht. Aber, und das erklärt die Aggression ihrer Mitbürger, sie sind eben nicht die demokratische Mehrheit. Der hat man sich nun mal unterzuordnen — die Diktatur der Abstimmung verlangt das so. Weil die Raucher darauf bestehen, zu tun, was ihnen Spaß macht, fühlt sich die Mehrheit geradezu herausgefordert. Warum das so ist? Das kann man historisch und global schwer beantworten, deshalb versuchen wir eine zeitgenössisch-deutsche Erklärung. Wir gehören einer Nation von potentiellen Oberlehrern an, die an allem herumerziehen, was nicht in ihr genormtes Weltbild paßt. Wir lieben Zwangsmaßnahmen gegen alles, was von der Norm abweicht. Uns fehlt die Tradition der Toleranz gegenüber Minderheiten — Andersdenkenden, Anderslebenden, Andersgläubigen. Unterschwellig faschistisch? Das haben Sie gesagt. Zum anderen wurde uns aber seit 1945 — eher theoretisch als praktisch — Toleranz gepredigt, am geschichtlichen Beispiel aufgezeigt, wohin es führt, wenn Menschen diskriminiert werden, weil sie anders denken, leben, glauben. Diese neue Toleranz wiederum hat zur Folge, daß es kaum noch Möglichkeiten gibt, jemanden auf Grund seiner Gruppenzugehörigkeit mit Verachtung zu begegnen. Denn im Laufe der letzten zwei, drei Jahrzehnte haben wir so einiges an Fortschritt erzielt. Wer würde es, als aufgeklärter und zivilisierter Mensch, heute noch wagen, Vorurteile und Diskriminierung abzuladen auf (um nur einige Beispiele zu nennen) ledige Mütter, unverheiratete Paare, Schwule und Lesben, Porschefahrer, farbentragende Studenten, Feministinnen, Rosen- und Waffenverkäufer, Unternehmer, Dackelbesitzer, Farbige, Ausländer, Dicke, Langhaarige, Glatzköpfe (es sei denn, sie werfen Mollies auf Asylantenheime)? Na? Klar doch, es käme keinem aufgeklärten Mitteleuropäer in den Sinn, diese Leute zu diskriminieren. Aber der deutsche Mensch braucht dringend jemanden, an dem er seine Moralvorstellungen deutlich machen und zeigen kann: Ich bin heiliger als du. Und da kamen die Raucherin und der Raucher gerade recht. Diese Süchtlinge kann man ganz ungeniert — und im missionarischen Eifer auch noch durch das medizinische Argument «Nur zu deinem Besten!» unterstützt — von oben herab wie unmündige Kinder behandeln, die nicht fähig sind, ihr Tun und Lassen selbst zu bestimmen. Doch die Geschichte des 19. Jahrhunderts zeigt, daß es gerade die Minderheit der bürgerlichen Revolutionäre war, die dem Rauchverbot zuwiderhandelte und, der anregenden Wirkung des Nikotins sei dank, schließlich den Adel stürzte und die Macht im Staat übernahm. Vielleicht sollten die Eiferer unter den Nichtrauchern rasch innehalten und die Geschichte studieren, ehe es zu spät ist. Manch einer, der sich unter dem alten Regime ganz sicher fühlte, endete nach der Revolution vor den Läufen des Erschießungskommandos. Die deutsche Losung für eine solche Lösung wäre naheliegend: Tod allen Nichtrauchern! Hans Pfitzinger Laubacher Feuilleton 5.1993, S. 2
Sonntag Theologen, denen kein Wort der Heiligen Schrift zu heilig ist, um nicht daran herumzudeuteln, haben herausgefunden, daß das Sechstagewerk der Genesis in Wirklichkeit sieben Tage lang gedauert habe. Böse Zungen behaupten, sie wollten damit den Politikern katholischer Länder die Konzession zur Sonntagsarbeit erleichtern, ohne die der Industriestandort der gelben Gefahr bekanntlich nicht mehr gewachsen ist. Weit gefehlt. «[...] und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebten Tag und heiligte ihn.» Es muß schon mal gesagt werden, daß man sich diese Ruhe nicht wie im Urlaubsprospekt vorstellen darf. Es handelt sich um den Tag nach Abschluß der Handarbeit, die im Fall Mensch sogar mit Dreck zu tun hatte. Der geheiligte Tag ist mit befriedigter Rückschau auf das vollbrachte Werk gefüllt, die im Kopf stattfindet. So war es für Hegel sogar eine große Anstrengung, im Einvernehmen mit dem Weltgeist den Gang der Geschichte zu gliedern und deren Ende der aufgeklärten Vernunft nahe zu bringen. Die wohlgefällige Erinnerung der Produktionswoche bedeutet selbst eine, wenn auch neue und gesegnete Arbeit, was jeder Historiograph oder Hofchronist bestätigen wird, der im Auftrag eines Potentaten die Vergangenheit erfolgreich bewältigt hatte. Daraus erklären sich nicht nur der oberste Rang absolutistischer Historienmalerei, sondern auch die heroischen Bilanzen amtierender Regierungen und Konzernvorstände, die dem Verwaltungspersonal erst den Arbeitsplatz verschaffen, der oft sogar wieder in heillosen Streß mündet. Die moderne Bilanzierung unterscheidet sich vom Fürstenlob allenfalls dadurch, daß die Mißerfolge, die nicht mehr unterdrückt oder schöngefärbt werden können, als Herausforderung in die Zukunft verschoben werden. Deshalb gibt es keine Jubiläumsrede, bei der diese Wendung fehlt. Wir halten also fest: Rückblick muß geleistet werden, selbst oder gerade wenn er der Entlastung von geleisteter Arbeit entspringt. Nur die puritanische Moral und die Steuerbehörde erkennen keine Leistungen an, die aus der Muße der Freizeit hervorgehen. So darf man weniger die Erschaffung des Menschen am Ende des sechsten Tages als die des Jubiläums am siebten als Krone der Schöpfung betrachten. Vorspann zu einer beliebigen Publikation zu einem beliebigen politischen oder kommerziellen Jubiläum. Thomas Zacharias Laubacher Feuilleton 20.1996, S. 12 Die Photographie Paris dimanche rue-07d stammt von Julie70 und steht unter CC.
Die Realitätstheorie ... und was an ihr wirklich dran ist. Seit Anbeginn der Zeiten hat sich die Wissenschaft vor allem mit einer Frage auseinandergesetzt: Gibt es die Wirklichkeit? Oder, um es moderner auszudrücken: Kommt der Realität tatsächlich Echtheitscharakter zu? Die Frage zu beantworten, scheint einfach. Dadurch, daß Sie diese Zeitung hier in der Hand halten, werden Sie sagen, ist doch der Beweis erbracht: die Wirklichkeit gibt es. Doch Vorsicht! Unser Ressortleiter ‹Kunst und Wissenschaft› hat einleuchtende Argumente gegen die Realität zusammengetragen. Hier die Ergebnisse seiner Nichtfeldstudie. Wer sind sie? Natürlich gibt es viele Helfer und Helfershelfer der Realitätsfanatiker, und manche von ihnen darf man getrost als nützliche Idioten bezeichnen. Andere wiederum sind zwar objektiv gutwillig und aufrecht, doch von jahrzehntelanger Gehirnwäsche schwer geschädigt. Aber, ob gutgläubige Mitläufer oder gerissene Opportunisten, sie sind alle nur Knechte von ihnen. Doch wer, so werden Sie fragen, sind sie? Die Antwort: Sie — das sind alle, die von der Vorstellung einer wirklichen Welt profitieren: Die großen Konzerne, die Fluggesellschaften, die Bundesbahn, die Versicherungen, die Telekom (Papp-Mail und E-Mail), die Politiker und die Reisebüros. Lachhaft: Der Zusammenhang zwischen Steak und Wirklichkeit Und, selbstverständlich an vorderster Front, alle Zuträger im sogenannten Überbau, der kulturellen Lügenorganisation, die sich mit solch verniedlichenden Begriffen wie ‹Unterhaltungskunst› oder ‹Showbusiness› tarnt. Beispiel: Der ‹Witz› von Woody Allen, man könne die Realität durchaus anzweifeln, doch sei sie seines Wissens der einzige Platz, an dem man ein anständiges Steak bekommt. Darüber sollten Sie mal nachdenken! Auf die Perfidie dieses Ausspruchs kommen wir später noch zurück. Aber: Erst die Fakten. Natürlich erinnern Sie sich an den Geographieunterricht in der Schule und daran, wie oft Sie die Umrisse Europas auf der Karte verfolgt haben: Skandinavien ganz oben, wie ein Tiger, der zum Sprung ansetzt, die britische Hauptinsel, wie eine Flamenco-Tänzerin mit wallendem Kleid, Frankreich und Spanien als gehorsam Männchen machender Bär, verkehrt herum natürlich, der italienische Stiefel, die dreifingrige Hand Griechenlands ... Doch genug, Sie wissen natürlich, daß diese Europa-Karte Teil der Verschwörung ist und nur zur Gehirnwäsche beiträgt. Denn die Wahrheit sieht anders aus: Europa gibt es gar nicht. Auch die EU gehört zur Gehirnwäsche Nun, Sie werden jetzt einwenden, daß alles gegen unsere These spricht: Das Europaparlament zum Beispiel, die Eurocity-Züge, die Europäische Gemeinschaft, der Euro-Scheck, der UEFA-Cup, die Eurovision ... Halt, es reicht. Merken Sie es jetzt? All das findet, mit Ausnahme der Eurocity-Züge, im Fernsehstudio statt. Denn seien Sie doch mal ehrlich: Woher kennen Sie die angeführten Einrichtungen mit dem Prädikat ‹Europa›? Eben, aus der Glotze. Und ich kann Ihnen versichern, was ich bereits 1969 bei der ersten Mondlandung offen ausgesprochen habe: Es ist alles gefälscht. So wie damals Neil Armstrong sein «ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer für die Menschheit» in einem Fernsehstudio in New Jersey geprobt und ausgeführt hat, so stammt alles, was wir über Europa wissen, aus einem vierstöckigen, unscheinbaren Gebäude in München-Unterföhring, gleich hinter dem Kirch. (Sie werden jetzt sagen, das müßte ‹hinter der Kirch› heißen auf bayrisch, aber darauf kommen wir gleich zurück.) Dort jedenfalls, soviel sei gesagt, sitzt das Zentrum der europäischen Verschwörung. Dort wird alles, was Sie über Europa wissen, zusammengestellt und aufeinander abgestimmt. Das ‹wahre›, das ‹wirkliche› Europa dagegen liegt 190 Kilometer von der nordamerikanischen Küste entfernt und ist von Nord nach Süd genau 240 Kilometer lang. Wäre es länger, würde es von seinem eigenen Gewicht in den sumpfigen Untergrund gedrückt, der an dieser Stelle vorherrscht — also schon aus rein physikalischen Gründen kann es gar nicht größer sein. Nur wenn man sich eine Bahn- oder Flugkarte kauft, werden die zurückgelegten Kilometer mit denen auf der Landkarte im Geographieunterricht identisch — logisch, je mehr zurückgelegte Kilometer, um so höher der Fahr- oder Flugpreis. Und mit raffinierter Rückpro-Technik wird im Zug auch die Illusion der wechselnden Landschaft erzeugt, eine Illusion, die wiederum zentral von Unterföhring gesteuert wird (im Flugzeug fällt der Betrug nicht so auf, weil man auch beim Kreisfliegen immer wieder an anderen Wolken vorbeikommt). Und damit sind wir wieder bei Herrn Kirch, Vorname Leo. Seit der die Rechte an allen Landschaften Europas in einem geheimgehaltenen Deal mit den millionenschweren Hollywood-Moguln erworben hat, geht ohne ihn nichts mehr. Und wenn Sie im Fernsehen genau hingucken, werden Sie auch merken, wie häufig der Hintergrund, die angeblich ‹reale Welt›, sich gleicht. Ein unwiderlegbarer Beweis für die Kirch-Theorie. Die Mondlandung: Eine plumpe Fälschung Nun, ich habe schon damals, als ich die Mondlandung als Fälschung entlarvt habe, um mein Leben zittern müssen. Monatelang wurde ich verfolgt, und nach meinen öffentlichen Zweifeln, die ich zur selben Zeit in der Fachzeitschrift Populärer Anti-Materialismus anmeldete, wurde die ‹Mond›-Landung nur immer häufiger über den Äther geschickt. Ohne meine aufklärerische Enthüllungsarbeit hätte man sich, wie bei den meisten Inszenierungen, mit einer einmaligen Wiederholung begnügt. Doch der Spitzel, der auf mich angesetzt war, mußte bald die Waffen strecken, als ich ihn eines Abends in meiner Stammkneipe, in die er mir gefolgt war, zur Rede stellte. Unter der Beweislast seiner Nichtexistenz brach er förmlich zusammen. Seither werde ich nicht mehr belästigt, außer von einem Herrn, der sich als Beauftragter der Bundespost ausgibt und behauptet, ich sei ein notorischer Schwarzseher. Doch auch ihn habe ich erst einmal nach Unterföhring geschickt. Ich bin neugierig, was er mir bei seinem nächsten Besuch für Wirklichkeits-Legenden auftischen wird. Nun werden Sie sagen: Na gut, Europa in der Form, wie es uns dauernd vorgegaukelt wird, gibt es gar nicht, eine Vermutung, die noch näherliegt, wenn man sich mit (Land-)Wirtschaft und der sogenannten EU befaßt. Doch lassen Sie uns nur ein Beispiel herausnehmen: Die Kuh. Zuerst wollte uns das Essenskartell (die Vereinigung aller mit der Herstellung und dem Vertrieb von Essen befaßter Institutionen) einreden, Essen wachse auf Bäumen oder Pflanzen. Ein absurder Gedanke, der, millionenfach wiederholt, einfach als Realität für bare Münze genommen wird. Wie schwierig diese ‹Baum-Theorie› zu halten ist, sehen Sie schon bei einem Blick aus dem Fenster. Haben Sie je einen Baum gesehen, auf dem ein ‹Mars›-Riegel oder eine Packung Kaugummi wächst, von Ritter-Sportschokolade oder BigMäcs ganz zu schweigen? Nach der gescheiterten Baumtheorie: Das Märchen von der Kuh Also: Mit der lächerlichen Baum-Theorie müssen wir uns erst gar nicht weiter herumplagen. Bleibt die Kuh. Was soll nicht alles von ihr stammen! Eine Aufzählung führt die Vorstellungskraft in schwindelerregende Bereiche: Milch, Butter, Käse, Fleisch, Gürtel, Sofabezüge, Jacken, Boxhandschuhe, Schuhe, ja, sogar die Ochsenschwanzsuppe — all das soll von der Kuh kommen! Nun könnte man angesichts solch absurder Theorien einfach eine Kuh lila anstreichen und über den Rest herzhaft lachen, wenn diese Theorie nicht in den letzten Jahrzehnten immer mehr verwirrte Anhänger gefunden hätte (meist Leute, die auch glauben, Pullover kämen vom Schaf, obwohl noch niemand ein Haar an einem dieser Tiere gesehen hat, das länger als zwölf Zentimeter war!). Sicher werden Sie jetzt auch wissen wollen, wer in einem solch gigantischen Betrug seine Finger im Spiel hat. Sie haben es erraten: Die Regierung, natürlich, die gleichen Leute, die von der Europa-Theorie profitieren, haben auch ein korruptes Interesse an der Aufrechterhaltung des Kuh-Theorems. Dabei weiß jede Kakerlake, woher das Essen wirklich kommt: aus dem Müll. Die Anzeichen sprechen alle dafür. Weshalb sonst würde jede Gemeinde in unserem Land eine solch riesige Armee von Müllmännern beschäftigen? Richtig, weil der Profit dabei alles übersteigt, was sonst je an subventioniertem Unfug aus Steuergeldern finanziert wurde, die gesamte Atomindustrie und die Gaunerei mit dem Grünen Punkt eingeschlossen. Und die Nachfrage in diesem Geschäft bleibt stetig zunehmend — das behaupten jedenfalls die Verfechter der ‹Zuwachs-Theorie›, jene verantwortungslosen, vom Kapital gekauften ‹Experten›, die uns einreden wollen, daß die Weltbevölkerung ständig weiter zunimmt (Ein Unfug, der leicht zu widerlegen ist: Wie könnte denn eine Menschheit ständig zunehmen, wenn jeder Einzelne sterblich ist? Denken Sie mal darüber nach, bevor Sie wieder die Theorie von der Bevölkerungsexplosion nachplappern!) Doch verschwand die Müllüberwachung schnell wieder aus den Schlagzeilen — man wandte sich dem Genuß des wieder vorhandenen Essens zu, ohne zu fragen, woher es kommt. Doch ich will Ihnen nichts einreden. Versuchen Sie es selbst: Legen Sie einen Haufen Abfall in die Mitte Ihres Wohnzimmers, und Sie werden sehen, daß er sich nach einer Woche in etwa so verändert, daß er genauso aussieht wie Essen, das eine Woche nicht im Kühlschrank lag. Die Augenfälligkeit wird auch Sie überzeugen! In diesem Licht gesehen, erhält natürlich auch der Ausspruch von Woody Allen seine ganze perfide Bedeutung: Denn wenn es keine ‹Wirklichkeit› (gemeint ist die der Kuh-Theoretiker) gäbe, dann könnte Woody Allen in der Tat nicht behaupten, daß sie der einzige Platz sei, an der er sein Steak essen kann. Die nur vordergründige Absurdität des Statements entlarvt den Regisseur und Schauspieler als das, was er ist: Anhänger des unbedingten Wirklichkeitsgedankens, nur vordergründig humorvoll, tatsächlich aber ein gerissener Agent der Kuh-Theoretiker. Was ist zu tun? Zunächst: Schreiben Sie an Ihren Abgeordneten und machen Sie ganz deutlich, was Sie nicht länger hinnehmen wollen: Die Perpetuierung und Proliferation (= Weiterverfolgung, Weiterverbreitung) des Wirklichkeitsgedankens. Statt dessen: Aufklärung über die wahre Lage Europas, die tatsächliche Natur des fiktiven Müllkomplotts und die Nichthaltbarkeit jeglicher Theorien mit Wirklichkeitsanspruch. Nur so — ich wiederhole: nur so —, also durch totale Ablehnung jeglichen wirklichen Gedankenguts, können die dringendsten Probleme der nächsten Zukunft aus der Welt geschafft werden. Denn nur in der Wirklichkeit gibt es Umweltschäden und Bevölkerungsexplosion. Helfen Sie mit — lehnen Sie die Wirklichkeit ab! Geben Sie schon bei der nächsten Wahl Ihre Stimme der NEP — der Nicht-Existenten Partei! Und verfolgen Sie weiterhin die Berichterstattung im Laubacher Feuilleton — der einzigen Zeitung, die es gar nicht gibt. (Vgl. dazu den Beitrag von Herrn Wiegenstein in der Frankfurter Rundschau: «Eine Zeitung, die im Impressum einen Chefkoch aufführt — das gibt's doch gar nicht!») Hannes Kreisler Laubacher Feuilleton 12.1994, S. 2
Tacheles Zur gängigen Gebäudemetapher promoviert, gehört das «gemeinsame Haus Europa» zum Standardglossar eifriger Architekten, die vom Atlantik bis zum Ural alles überdachen wollen, auf daß kein Grashalm friere. Nimmt man dieselbe Bildfügung und glaubt man also olympia- und hauptstadt-besessenem Politdiskurs, gibt Berlin dafür die ‹Drehscheibe› ab, dessen Zentrum hier mit nebenstehender Photographie markiert werden soll (Berlin-Freunde werden verstehen, daß wir den Q-Damm nie dazu gezählt haben und auch mit dem Alexanderplatz Probleme hätten, statt dessen): Oranienburger Straße, nunmehr 10178 Berlin, Kulturzentrum Tacheles. Ein Hauskonvolut steht da, dessen Rückwand samt noch vorhandener Innenseiten von früher dort angrenzenden Hausteilen nahtlos in die Poesie irgendwelcher Gestelle übergeht, die an die Rückwand montiert sind oder die sich in dem Hinterhof, einem offenen Feld, wie fallengelassen herumlümmeln — seien dies nun riesige Masken, ausrangierte Planwagen oder ein im Schlamm halb versinkender Autokorso. Hält man die Nase ins Gemäuer, stinkt es nach Abortröhren, Stromleitungen hängen herum, zähes Leben ist hier hartnäckig bis widerlich eingegraben, und die teils offenen Etagen bilden eine Geheimschrift, eine écrypture (Derrida), die sich der schnellen Lesbarkeit verweigert. Am Tacheles wird die Wand selbst zur Allegorie des Hauses Europa. Risse gehen durch das Gebäude, gegen die Illusion eines denkbaren Ganzen werden Brüche vertieft und, typisch allegorisch, das Nichtmehraufgehen von Lektüren in Anspruch und Wirklichkeit demonstriert. Einzig bleibt dem Melancholiker, auf Reste wie auf Spiegelscherben in seiner Hand zu starren und über Spuren der Anarchitektur zu grübeln. Vielleicht nur einen Augenaufschlag lang macht diese Häuserwand die penetrant vorgetragene Positivität des Europa-Gedankens vergessen und zeigt die Kehrseite einer ursprünglich liberalen und toleranten Utopie, die nun sich immer unduldsamer allem Aushäusigen, Außereuropäischen gegenüber verriegelt. Die Hausmetapher Europas, durch ein paar dänische Stimmen gegen Maastricht choquant einiger Dachziegel beraubt, scheint in dieser Häuserwand noch einmal in Frage gestellt. Im ‹Tacheles›-Europa der zwei Geschwindigkeiten kommt die Rhetorenwendung der (in)kommunikativen Wohnlichkeit zum Stillstand, kaschiert sie ohnehin nur das Bausparkassenhirn auf sich selbst eingeschworener Europäer, die für sich bleiben wollen, allenfalls noch den mezzogiorno Deutschlands, die Ex-DDR, zähneknirschend in Kauf nehmend. Mittlerweile wird all das zum hygienischen Problem — allerdings für die anderen Kontinente, die mit Europa als «Popel aus einer Konfirmandennase» (Gottfried Benn), dieser teuersten Geld- und Müllfrage leben müssen. Aber, so prosten die Gewinner sich zu, das Haus wird nicht krachen, es schützt vor Stürmen, hält den Hintern warm und hat ein Atlantik-Schwimmbad als sicheren Hort; den Südwind aus der Dritten Welt werden wir aushalten: Wer sind die Kurden, Öl gibt's schließlich woanders (haben die Iraker für uns bezahlt ohne Pardon); Somalia etc. sind in behaglicher Entfernung, und sollte nach Abzug aller Kosten etwas übrigbleiben, wird das eben Entwicklungshilfe genannt. Ohne Nostalgie: vielleicht allegorisiert die Tacheles-Wand auch ein besseres Leben im widerspenstigen Fragment, eine nicht nur romantische Sehnsucht nach dem Brüchigen, das sich Ganzheiten beharrlich entgegenstellt — zumal solchen der Marktherrschaft, die schon innereuropäisch (so Heiner Müller) «das Gespenst des Kommunismus ablöst, den neuen Kunden seine kalte Schulter zeigt, den Befreiten das eiserne Gesicht seiner Freiheit». Oder wird vielleicht auch die Ruine schon zum Habitus, wird sie kultiviert goutabel auf postmoderne Weise, die schlimmste Krisenausdrücke zu beliebigen Modezeichen werden läßt? So zu sehen im benachbarten Kreuzberg, aus dessen Ruinen schicke Eigentumswohnungen mit komfortablen Abmessungen entstehen. Und binnen kurzem wird wohl auch die Oranienburger Straße planiert sein: mit Gebäuderiesen der Hochfinanz, oder als Museumsinsel, was wohl egal, weil im Effekt dasselbe. Mag es noch andere dritte Wege geben, im Moment gilt leider nur konstruktiver Defaitismus: tertium non datur im Leerraum Europas zwischen Allegorie und Utopie. Es geht nicht so, und es geht auch noch nicht anders. Ralph Köhnen Laubacher Feuilleton 6.1993, S. 1
Ankunft Köln Der etwas andere Arbeitstag kann beginnen. [...] Anschlußfahrt von München nach Köln. In der Domstadt um 21.59 Uhr steht der nunmehr vom Arbeitsalltag — entsprechendes technisches Gerät vorausgesetzt — Befreiten ein lustvoller Magen-Marathon bevor. Nach 80 gelaufenen und nicht gegangenen Metern – die Bude schließt um 22.00 Uhr! — drei Rievkoche (auf deutsch: Reibekuchen) — ohne Apfelmus! — bestellen, das dampfend-duftende Kartoffelgekröse in sich hineinstopfen und mit einem ersten Kölsch aus der Dose hinunterspülen. Anne Maier aus: Müsli-Rievkooche-Tofu, Laubacher Feuilleton 18.1996, S. 6 Arsch huh, Zäng ussenander Toleranz is en Frembwoot, für Toleranz jit et keen deutsches Woot. In Kölle verston se Toleranz ohne vill darüver zu kalle. Me is noch stolz drupp, dat dereenst de Römer, de Spanier, de Franzuse und de Belgier etc. irjendwann ihre Spure he hinterlasse han. Nur mit den Preussen gab's Verständigungsschwierigkeiten: «Wie künnt er dann scheeße, süht er nit, dat he Lück ston?» riefen die kölschen Stadtsoldaten, wie die Preußen zu scheeße anfinge. «Süht er nit, dat he Lück ston?» mööt jedem Blödmann an de Kopp jeworfe weede, der mit Molotowcocktails um sich wirf oder am Stammtisch palavert, die Hand zum Hitlergruß hev oder immer noch jläuvt, dat de Ausländer schuld dran sin, dat sing Firma ihn rusjeschmiße het. Jejen sovill Blödheit hilft nur «Arsch huh, Zäng ussenander!» Am 9. November 1992 war am Chlodwigplatz en Konzert, Rostock wor nid wig, de Hätze voll, de Wut wor jroß, de Chlodwigplatz schwatz vor Minsche. Schwatz-brung darf ohne Komplexe en Johr wigger üm de Ecke lure. Ene zum Präsidentenkandidaten ruffjedeutet Frettchen, dat och noch nach fünf Uhr brung Schohns zum schwatze Anzoch anhet, sprich ungeniert vom Ende der Verantwortung. Mir wisse jo «Deutsche Sprache, schwere Sprache.» Jitz ersching im Bund-Verlag Köln dat Buch zum Konzert. Verzällt wird wie et wor vom 14.10.92, als de Idee jebore wood, bis zum Dach vom Konzert. Im Vorwoot tät sich Anke Schweitzer janz besonders an de jung Lück richte: «Mit diesem Buch wollen wir Euch antifaschistisches Gedankengut nahebringen. ... Ich denke, daß dieses Buch anders ist als das oft sehr trockene und langweilige Lehrmaterial, mit dem ihr so oft konfrontiert seid. ... Schon immer gab die Musik den Menschen die Möglichkeit, sich auch politisch auszudrücken, und besonders in gesellschaftlich brisanten Zeit gibt sie uns die Möglichkeit, vielen Menschen kritisches Denken verständlich zu machen, Mut zu machen, zu den persönlichen Werten zu stehen. ... Ihr werdet jetzt vielleicht denken: die hat gut reden, in Zeiten, wo nur noch Leistung zählt. Aber ich denke, wir sollten nicht resignieren.» Dat klingg all wie vun annopief, ever sin mer nid schon längs uff em Wech zurück in de Zukunf? Bap, Bläck Fööss, Brings, Charly T., De Höhner, L.S.E., V. Nikitakis, The Piano has been drinking, Viva La Diva, B. Winterschladen, Zeltinger, Anke Schweitzer un Triviatas woren mit dabeei. Songs, Texte un Musik sin perfekt nohzolesse un auf de Jittar nohzuspille, wenn mer et will. Mit Fotos un Kommentaren is dat Buch dann quasi komplett. Ever irjendwat is nit drin: Beim Willy fellt der Text. Mir meine nid de Willy us em Leed vom Konstantin Wecker, sondern de kölsche Willy Millowitsch, wigg über 80 Johr. He het uf em Chlodwigplatz us Carl Zuckmayers Des Teufels General jelesse. Dat ham mir in dr Schul jeliert. We me de Pänz och immer vorwirf, die täten nid lese, warum tät me ihne denn de Text vorenthalte? «Wer en Sproch hät, muß sich wehre! Arsch huh un Zäng ussenander! We e Hätz hät, sich erkläre! Arsch huh un Zäng ussenander! Jäjen Jewalt un Nazidreck! Arsch huh un Zäng ussenander! Sonst sid ihr all als Nächste weg! Arsch huh un Zäng ussenander!» (Alle Zitate gemäß Publikation) Anne Maier.Hedy Markwald Laubacher Feuilleton 8.1993, S. 10 Arsch huh, Zäng ussenander! Autor: Bruno Zimmermann, Bund-Verlag (KiWi), Köln 1993
Telephonepidemie Zufällig schaue ich aus dem Fenster, und da steht schon wieder auf der Straße so einer (diesmal kein Kinderschänder), der sich ein sogenanntes Handy ans Ohr quetscht und aufgekratzt, mit irrem Blick, in dasselbe quasselt. Inzwischen sieht man ja auch immer mehr Leute, die das sogar beim Gehen tun — sie müssen sehr in Eile sein. Wenn ich Handy-Benutzer bloß sehe, steigt automatisch mein Adrenalinspiegel, und Haß würgt mich, den doch sonst so Milden, der ich zu Aggressionen doch sonst kaum fähig bin. Woran mag das liegen? Daran, daß ich noch aus einer Zeit stamme, als gerade das Schnurtelephon erfunden und der erste segensreiche Satz — «Das Pferd frißt keinen Gurkensalat» — per Draht gekrächzt wurde? Bin ich bereits vergreist und neidisch nur, der neuen Zeit, der großen Handy-Zeit, hinterherzuhinken? Nichts gegen das klassische Telephon, damit habe ich nicht die geringsten Probleme (außer mit der Rechnung). Und ich bin begeisterter Faxist. Warum aber wird ein Handy für mich niemals comme il fault sein? Die Gründe sind ästhetisch-ethischer Art! Leute, die auf der Straße am Handy hängen, sollten sich einmal auf Video betrachten: dämlich und lächerlich sehen sie dabei aus, wie die Verwirrten, die im Selbstgespräch vor sich hinbrabbeln. Als ich jedoch kürzlich einer jungen Schönen, ganz en passant, pädagogisch wertvoll zuraunte: «Wenn Sie sich so selbst sehen könnten, würden sie nie wieder auf der Straße telephonieren!», giftete die bloß keifend zurück: «Verpiß dich, alter Sack!» Nun zum Ethischen: Es zeugt nicht gerade von großer Rücksicht, seine Mitmenschen in Cafés, Restaurants, Theatern und Konzertsälen mit den Lockrufen eines Handys zu belästigen — zweifellos eine akustische Körperverletzung. Und dann wird man ja nicht nur — schlimm genug — Augenzeuge jener ästhetisch absurden, unzierlichen Handy-Handhabung, sondern auch noch Ohrenzeuge banalsten Geplappers. Was für Menschen mögen das sein, diese Handy-Führer? Ein mir bekannter TV-Moderator gehört auch dazu. Beim Restaurantessen liegt das Handy immer neben seinen Tellern. Aber es klingelt, bimmelt oder schnarrt nie. Inzwischen gibt es Agenturen, die auf Bestellung anrufen. Vielleicht sollte der mittlerweile zahnlose TV-Tiger dort abonnieren? Ende des Jahres wird es hierzulande fünf Millionen ‹Mobilfunk›-Anschlüsse geben. Es sind die VIP's der Republik: die Unentbehrlichen, unsere Leistungsträger, die immer erreichbar sein müssen, Tag und Nacht, an jedem Ort (Ja, sogar auf der Toilette! Und vielleicht beim ...?), die sich lustvoll an die (unsichtbare) Kette legen oder legen lassen. Und selbst auf die Gefahr hin, die ‹political correctness› zu sprengen: am beliebtesten ist das Handy anscheinend bei Türken. Nieder mit dem Handy! Es geht die Mär, Telephonieren via Handy verursache vielleicht ... eventuell ... Gehirntumore: Wie fabelhaft das wäre! Bekanntlich läßt sich der Teufel am besten mit dem Beelzebub austreiben. Niels Höpfner Laubacher Feuilleton 20.1996, S. 16
Nur ein zeitgeschichtliches Ereignis? 30 Jahre Club Voltaire in Frankfurt am Main Die ‹große Zeit› des Clubs, seine Entstehungsgeschichte liegt in den sechziger Jahren, in einer Zeit der Auseinandersetzung mit der konservativ-christdemokratischer Meinungsführerschaft der Adenauer-Epoche. Die sich entwickelnde Suche nach Offenheit und Toleranz, nach sozialer und humanistischer Emanzipation gaben damals dem Club Themen. Streitkultur wurde später zum Modewort, aber in den Jahren vor 1968 war das ein Novum. In der heutigen Theoriesprache ausgedrückt war die Gründung des Club Voltaire 1962 eine innovative und kreative Lösung: Mitten in der Stadt, in bester Lage, wird ein politisch-literarischer Verein aufgemacht, dem eine abendliche Gastronomie angegliedert ist. Alles was dort gemacht wurde, war revolutionär: Die Eigenständigkeit, die Öffentlichkeit, die Provokationslust. Man kann noch heute — nahezu unverändert — die spröde Modernität der Räume sehen. Einfach und robust sind Theke, Tische, Stühle, zweckmäßig, nicht schön sollten sie sein; preiswert, nicht teuer; offen, nicht elitär sollte es zugehen. Dies war die Idee eines Treffpunktes für Arbeiter und studentische Jugend, für Linke und kritische Intelligenz, für Unzufriedene und Neugierige. Die Nähe zum Jazzkeller war wichtig, ebenso zum Kabarett Die Maininger. Für die Zwecke des Club Voltaire, gedacht als linkes Oppositionszentrum gegen den Konservativismus von Politik und Kultur, gegen die Anpassungsbereitschaft von Sozialdemokratie und Gewerkschaften, kam es darauf an, einen Ort der Gegen-Kultur und Antipolitik zu schaffen. Interieur und Ambiente waren nicht wichtig, viele fanden die Inneneinrichtung abschreckend und schmuddelig, das Bier aus der Flasche reichlich proletarisch. Aber: man traf immer jemanden, mit dem man reden und streiten konnte. Wer heute den Club Voltaire betritt, von der Frankfurter Rundschau zum «historisch gewordenen intellektuellen Ort» erklärt, merkt sofort, daß man sich immer noch hartnäckig weigert, dem jetzt modernen oder doch nur modernisierten Frankfurt zu folgen. Mauerbau und Ostermarsch, Godesberger Programm und Antinotstandskampagne; Ingmar Bergmans Film Das Schweigen rüttelten die Republik; Intendanten brauchten viel Courage, Brecht zu spielen. Wolfgang Abendroth war die intellektuelle Integrationsfigur der Linken, Enzensbergers Einzelheiten ein Geheimtip, Sweezys Theorie der kapitalistischen Entwicklung eine Pflichtlektüre. In diesem Umfeld entstand der Club Voltaire. Sein Publikum erweiterte den sozial und politisch vergleichsweise homogenen Kreis der Gründer. Es waren vor allem die Filmemacher des Fernsehens, Texter und Zeichner von Pardon, Journalisten, Musiker, Schauspieler, die den Club mit Vitalität und Einfallsreichtum versorgten. Der Club Voltaire hatte eine Scharnierfunktion zwischen junger und alter, neuer und traditioneller, aufgeschlossener und verbliebener, organisierter und ungebundener, zwischen proletarischer und intellektueller Linken. Aber seitdem die Darstellung eines scheinbar «gezähmten Kapitalismus» das dynamische Zentrum auf die sogenannten Probleme einer Risikogesellschaft verlagert hat, fehlt der Partei- und Gewerkschaftslinken und vielen marxistisch orientierten Intellektuellen der Zugang zu einer Perspektive, die Grundlage für eine Politik für Gegenwart und Zukunft. Vor drei Dekaden waren die theoretischen Welten der Linksintellektuellen noch heil, die politischen Frontstellungen der oppositionellen Sozialisten noch eindeutig. Nichts war unübersichtlich, im Gegenteil: Ein rechtsdogmatischer Konservatismus in Politik und Kultur, erweitert um den «sozialen Unternehmer» sowie einer nur halbherzigen Opposition der etablierten Großverbände der Arbeiterbewegung, munitionierten die Linksopposition — sehr klein und sehr übersichtlich — wieder und wieder mit der Gewißheit, daß die leicht als Klassengesellschaft definierbaren Verhältnisse über sich hinausweisen und den Übergang zu einer höheren Form gesellschaftlichen Zusammenschlusses ankündigten. Spätkapitalismus — an seiner Transformation mitzustricken und antikapitalistische Strukturreformen im Sinne von André Gorz auf den Weg zu bringen, das waren klare Intentionen. Die Namenspatronen des Clubs hießen mit Bedacht nicht Marx oder Luxemburg. In dem französischen Freidenker und Aufklärer Voltaire wurde der erfolgreiche Vorkämpfer einer wahrhaft historischen Revolution gesehen. Die Auseinandersetzung mit dem europäischen Faschismus, insbesondere mit dem von den Alliierten besiegten und von den Deutschen nicht verarbeiteten Nationalsozialismus war ein thematischer Schwerpunkt; Alfred Kantorowicz sprach über den spanischen Bürgerkrieg; deutscher Literatur im Exil war eine ganze Veranstaltungsreihe gewidmet, Anna Seghers las. Eine herausragende Pionierleistung war im Frühjahr 1967 die repräsentative Ausstellung der Werke von John Heartfield, an deren Vorbereitung er selbst großen Anteil hatte. Dies war typisch für das Selbstverständnis des Club Voltaire. Dem Frankfurter Publikum wurde ein Stück revolutionärer, antibürgerlicher Kunst präsentiert; den DDR-Kultusbürokraten auf der Vernissage im Karmeliterkloster ein linker Schriftsteller besonderer Art zugemutet, ein Trommler zwar für die Anerkennung der DDR, aber ein Republikflüchtling: Gerhard Zwerenz. Nach allen Seiten hin eckte der Club an. Ein anderes Reizthema war, heute kaum vorstellbar, die DDR selbst. Der Club hatte über Jahre hinweg dafür gesorgt, daß sich die DDR von ihrer besten Seite zeigen konnte: Ihre Literaten kamen — von Christa Wolf, Volker Braun, Erik Neutsch bis Hermann Kant; ihre Wissenschaftler hielten Seminare, das Berliner Ensemble gab Gastvorstellungen. Seine Herkunft aus der undogmatischen Linken schützten den Club, zum unkritischen Forum für die DDR zu werden. Die Realität des zweiten deutschen Staates als Folge des von Nazi-Deutschland begonnenen Weltkrieges wollte man schon anerkannt wissen, es handelte sich um eine Stück vorweggenommener Ostpolitik. Weithin wurde von den Clubbesuchern — trotz aller Kritik — die DDR für zukunftsträchtig gehalten. Die volle Schockwirkung des Stalinismus kam dann mit der Niederwerfung des Prager Frühlings. Die Schriftsteller und Bürgerrechtler und Karikaturisten, die Gäste des Clubs waren, wurden mit Berufsverboten belegt, teils eingekerkert. Das wurde dann zum unwiderruflichen Bruch mit dem undemokratischen Realsozialismus. Ein anderer wesentlicher Programmbestandteil war die Auseinandersetzung mit linker Theorie, die Aneignung linker Literatur und die Aufarbeitung der Geschichte der Arbeiterbewegung. Ernst Fischer, Leo Kofler und Ernest Mandel kamen zu Vorträgen und Seminaren; wiederholt machten Künstler des Berliner Ensembles Songs und Gedichte von Brecht, Tucholsky, Villon u. a. populär; eine große Brecht-Ausstellung mit Arbeiten von Sandweg, Neher, Heckroth und anderen wurde eingerichtet. Walter Fabian, gewerkschaftlicher Intellektueller in der Weimarer Republik und später Vorsitzender der Humanistischen Union, sprach über historische Themen; Fritz Opel (IG-Metall) und Werner Vitt (IG-Chemie) referierten über aktuelle Probleme der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung. Hermann Flach, damals Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, erklärte die Freiburger Thesen der F.D.P. Hinzu kamen noch viele bunte Programmsplitter: Erhards Formierte Gesellschaft wurde mit Entrüstung aber großer intellektueller Lust zerpflückt. Günter Grass, von eben jenem Bundeskanzler als «Pinscher» niedergemacht, agierte im Club für die ES-PE-DE. Die Amsterdamer Provos kamen als frühe Vorboten zivilen Ungehorsams an den Main. Weitere Glanzlichter waren die Filmseminare des Clubs, die Jazzkonzerte alter Frankfurter Bands, viel Kleinkunst. Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Hannes Wader, Dieter Hüsch und andere hatten hier ihre frühen Auftritte. Ein abrupter Schwenk in die Themenwelt der heutigen Debattierclubs macht den Unterschied zwischen den beiden Polen politisch-literarischer Opposition früher und politischer Kultur heute vollends deutlich. Statt politischer Ökonomie, Theorie und Geschichte des Sozialismus stehen heute andere Themen im Vordergrund des Interesses: Es geht um eine neue Urbanität, um moderne und postmoderne Architektur oder um intelligente Strukturen; um Stadtkultur und Unternehmenskultur, um multikulturelles Zusammenleben und internationale Kooperation, um Gleichgewicht, Stabilität und Kompromiß, um Vielfalt und Differenz. Der Club Voltaire in seiner Rolle als Organisator von Antipolitik und Gegenkultur ist von der Toleranzwelle des heutigen Frankfurt überschwemmt worden. Es gibt keine laizistische Heilslehre mehr, keine fundamentalistische Doktrin, keinen archimedischen Punkt mehr, von dem aus sich die Welt erschließen ließe. Aber: Bedarf es nicht weiterhin (oder erneut) eines eingriffsfähigen linken Potentials hierzulande? Der nachstalinistische Kommunismus ist zusammengebrochen. Allerorts triumphiert jetzt zusammenhängender Weltkapitalismus, jedoch mit ständig steigenden Ausbeutungs- und Verelendungsquoten und enorm wachsender Umweltzerstörung (nicht nur wirksam in der Dritten Welt). Weite Teile der Ex-DDR sind unterwegs in das untere Drittel unserer Gesellschaft. Die Finanzmittel der Länder und Gemeinden werden, bei steigendem Bedarf, zur Befriedung enorm wachsender Sozialausgaben immer knapper. Für den beabsichtigten ökologisch-sozialen Umbau bleibt indessen fast nichts mehr übrig. Hat das keine, in den politischen Kärftefeldern und -konstellationen beruhende und darstellbare Gründe? Soziale Abstiegs- und Zukunftsängste wachsen und leiten Wasser auf die Mühlen rechter, nationalistischer und rassistischer Demagogen. Kann die deutsche und europäische Linke nicht mehr dagegen halten, hat sie nichts mehr zu bieten? Hat sie alle alternativen, sozialen und humanen Gesellschaftsentwürfe aufgegeben oder eingestellt, nur weil ein Gesellschaftssystem, das sich zwar Realsozialismus nannte, aber in Wirklichkeit ein totalitäres, inhumanes Herrschaftssystem war, sich aufgelöst hat? Also statt weiterer Ingebrauchnahme der Postulate der Aufklärung und zugreifender Gesellschaftskritik nur noch Resignation, Klagelieder oder Abtauchen in subjektive Interessenwahrnehmung? Mitmischen im gesellschaftlichen Catch-as-Catch-can? Marx, Marcuse, Reich, Adorno, Bloch, die gesamte konkrete Utopie passé, auch wenn die ganze Republik nach rechts zu kippen droht? Mag auch das Vertrauen in die große Solidarorganisationen aus nachvollziehbaren Gründen gemindert oder angeschlagen sein — aber muß deshalb die Linke sich mit all ihrer Erkenntnisfähigkeit, mit ihren gesellschaftlichen, auch aus der Geschichte ableitbaren und aufgetragenen Entwicklungsmöglichkeiten verabschieden? — Es ist also wieder ein gutes Umfeld für den alten Club entstanden. Es gibt ein zunehmendes Verlangen nach intellektuelle Schärfe, nach einer neuen Dialektik der Aufklärung. Die Suche nach dem Sinngehalt einer vielschichtig in Gang gekommenen sozialen und individuellen Emanzipation hat wieder begonnen. Alter Club — was nun? Heiner Halberstadt, Rita Seum Laubacher Feuilleton 4.1992, S. 4
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