Die wahren Werte

«Der Lorbeer krönt den glücklichen Erwählten, der den Nihilismus überwindet, ohne je diesen hartnäckigen Gegner gering zu achten oder zu unterschätzen. Er ist ein Sieger, der den Preis des größten, weitreichendsten und radikalsten Zweifels zählt.»

Ja, jetzt verbiege ich André Glucksmann. Aber es geht schließlich um Weltbewegendes. Und mir ist auch nicht bekannt, ob sich der vor ein paar Jahren wegen der Tatsache Gescholtene, Nietzsche über den Klappentext hinaus gelesen zu haben, für Fußball erwärmen kann. Aber er, der le sentiment der Grande Nation kennt wie Ex-Adidas-Olympic-Marseille-Präsident Bernard Tapie en taule, dürfte das ja — seit dem Sturm auf das Stade-de-France von 1998 (der überdies die Front National von Le Pen, dieser französischen Version eines österreichischen Rassenfanatikers, einige Verluste gebracht hat).

Also weiter in der Ver-Biegung: Nietzsche meinte: «Was bedeutet Nihilismus? Daß die oberen Werte sich entwerten.» Und Glucksmann fragt: «Was sind diese so hoch plazierten Werte? Es sind die, die dem menschlichen Wesen in der Welt einen Platz zuweisen.»

Aber sicher doch: Unsere Individuen Super-Mario in der Bodega des madrilenischen Finanzathleten Gil y Gil oder Lohdar aufm Soccerplatz in the middle of no-where, im Abseits das Töchterlein von Müller-Lüdenscheid, die, wäre sie eine mittelmeerliche Nymphe, gut für die Griechenland-Werbung im Leo-Fernsehen posieren könnte: »Menschen, die nach wahren Werten suchen.» Aber sie ist nunmal blond und blauäugig. Und Lohdar kann nicht Griechisch. Deshalb geben wir die drei, Weißbier-Mario, sie und ihren intellektuellen Stuka-Piloten, weiter ins Fernsehstudio nach Berlin-Mitte und letzterem das Wort:

«Heude, zum zu Ende gehenden zwanzigsden Jahrhundert, inmidden der Legissladurperiode, haben wir doch endlich alles: Jeder kann sich ein auf ihn zugeschniddenes Dier zulegen (und leisden). Dafür haben wir in unseren hervorragend geschniddenen 30 Quadradmedern mit Balkonedde doch immer noch ein Blätzschen. Nadur? Schaun Sie sich um. Der ganze Spreewald hat Blatz für uns auf unsern Moundenbeigs, niemand bedrängt uns, wenn wir sonntags fulldrässd und auf unsern Inlinesgäids ins südbayrische Hinderland umsiedeln. Wer von diesen Malochern aus der sozialdemogradischen Steinzeid konnte denn, nach ein bißschen Ständ bei, mal eben zwischen zwei Schbielen — oder auch, als Studdi, zwei Semesdern — zum Sörfen auf die Bahamas düsen, zwischendrin sisch auf'm Dadenhaiwäi ne Hodlain Blaind Däids reinziehn und nebenher an der Börse noch'n bißschen zoggen? Damals, diese Dauben- oder Kaninchenzüchder. Mit ihrn Barzellschen vorm Backschdeinhäuschen. Diese Malocher mit ihrm Ehrgefühl, mid ihrm ‹Glassenbewußdsein›. Wir sind die Glasse. Wir sind die wahren Werte. (Ganzler, sprischd man des mit oder ohne h?).» Mario: «Mit K, Du Bocksbeudel.»

Ach, so lange ist es noch nicht her, als Ralph Köhnen im Laubacher Feuilleton kreiselte: »Fußball ist kommentarbedürftig wie abstrakte Kunst«, und er charakterisierte, melancholisch-retrospektiv, das kompositorische Phänomen vergangener Zeiten, quasi in einem Ehrenbezeugungs-Suffix gegenüber dem Intellektuellen unter den deutschen Ballzauberern (jenem Conférencier, dessen TV-Suaden mittlerweile nicht minder kommentarbedürftig sind): «blitzschneller Flirt des Auges mit der Tiefe des Raumes».

Ja, unsere Jungakademiker durften wieder, nachdem der 68er den Fußball ins Abseits gebolzt und Ober-Rhetor Walter Jens ihn mit seiner fahnenschwingenden Apologie zum 150jährigen des DFB («... Versöhnung mitten im Streit») von 1975 wieder aufs Geviert gepredigt hatte. Und solches hatte er bewirkt: «Eine Textkultur des interpretatorischen Risikos ist gefordert: nicht sparsam zum Ziel zu kommen, sondern die Verschwendung, die Lust und den Plural zu riskieren als einen Umweg: als ein Abenteuer, das Leser und Text gleichermaßen zustößt», so der Jung-Rhetor 1991 in seinem Laubacher Feuilleton-Leit-Artikel der Nummer 1, Günter Netzer oder der Diagonalpaß auch als Textkultur. Der Germanist und Kunsthistoriker war es auch, der mit sich Unbesteigbar. Kultisches Gerät: das Mountain-Bike oder Sport-Sprech oder: Der Wontorra in uns allen sich um die Moderation bemühte.

Nein, dies hier läutet keinen Abgesang auf Doctor Köhnens Sportkritik ein (befaßt er sich doch im folgenden mit einer weiteren olympischen Disziplin: den Biographien unserer Literaten). Es kündigt ein Hosiannah an: Karl Ruhrberg (von dem sich die Mär hartnäckig hält, wegen eines Fußballspiels seines FC auch schon mal eine Ausstellungseröffnungslaudatio in seinem Kölner Ludwig-Museum an die Gattin delegiert zu haben) belegt, was uns bewegt: die Sportler und deren Ausflüge auf den Gipfel der Musen.

Allerdings: Den Lorbeer des Geistigen kennen wir. Er liegt täglich in unserer Gen-Suppe des Negierens (nicht von Eliten!). Wem aber der Kranz des Physischen geflochten wird, nach dem sehnen wir uns. Diesen Erwählten himmeln wir an. Und mag er noch so schlecht gewonnen haben vergangenen Sonnabend.

Apropos Kranz. Ein weiterer sei noch hier in der Vorrede geflochten. Corona Camporum pseudonymisierte vor einiger Zeit ein humanistisch (hoch-)gebildeter (weiterer) Jungakademiker seinen Namen, als es darum ging, die Interpretationsfähigkeiten unserer Brüder und Schwestern westlich der Großen Mauer Atlantik zu charakterisieren: errare americanum est. Eine heftige Synapsnverschlingung bekam Ivo Kranzfelder ob deren Verständnis von Historie, nicht nur der der Kunst. Auch jetzt ist er wieder um das Innenleben von Eingeweiden besorgt. Geweidet hat er sich an der Tischarithmetik von nachvernissageähnlichen Tafeleien, und seine Zwischenbilanz — Würden Sie einen Künstler aufs Klo begleiten? — führt mehr oder minder zwangsläufig zur Endproblematik, dem der Ausscheidung. In welcher Form auch immer.

Unter Schaffensdurchfall, hat dieser Doctor fazitativ diagnostiziert, leiden letztendlich dann auch andere glücklich Auserwählte — unter Logorrhoe:

dbm


Vorwort zu Kurzschrift 2.1999, S. 7 – 9
 
Mi, 03.06.2009 |  link | (1620) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Sportliches






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