Verdauungsbeschwerden Über Kunst, Essen und Trinken Wie entsteht Kunst? Natürlich jedesmal verschieden, sonst wären ja durchwegs ähnliche Ergebnisse zu betrachten. Wer ist heutzutage ein Künstler? Vielleicht der, der in den meisten Ausstellungen vorkommt? Oder der, der öfter als andere in Zeitungen und Zeitschriften erwähnt und besprochen wird? Die Kuratoren sind meist dieselben, die Autoren sind meist dieselben, und da ist es logisch, daß auch die Künstler meist dieselben sind. Die Ausstellungen schauen ziemlich gleich aus, die Artikel lesen sich ermüdend ähnlich. Die Parallele zum Jahrmarkt oder zum Zirkus ist evident: Die Achterbahn oder Geisterbahn, je nachdem, ist immer dieselbe, geht aber auf Tournee. Niemand allerdings käme auf die Idee, einer Geisterbahn hinterherzureisen, man weiß ja, sie kommt jedes Jahr wieder zur selben Zeit und am selben Ort, man weiß, wie sie aussieht, man gruselt sich auch bald nicht mehr. Deklarierte man aber die Geisterbahn zu Kunst, ein ganzer Strom gläubiger Jünger zöge hinter ihr her, voller Bewunderung, ab und zu in Anbetung innehaltend. Der Unterschied zum Gruseln ist zu vernachlässigen. In Ehrfurcht jedenfalls steht man da, das Wort «Künstler» ist mit der nötigen Tiefe und sehr bedeutungsschwanger auszusprechen, eine Aura hat sich einzustellen, eine Gloriole schwebt im Raum, darüber ein kleines, goldenes Krönchen. Mehr als der gläubige Bewunderer zählt jedoch der Besitzer, das ist nicht erst heute so, aber heute besonders. Animistische kannibalistische Vorstellungen stecken dahinter: Kaufen ist wie aufessen. Esse ich das Hirn meines getöteten Feindes, dann nehme ich seine Intelligenz und was sonst sich noch da drin befinden mag, in mich auf. Kaufe ich ein Bild — ja, was dann? Dann kann das passieren, was Yasmina Reza mit viel Witz in ihrem Stück Kunst geschildert hat: Abgründe tun sich auf, menschliche Katastrophen spielen sich ab, und alles nur deshalb, weil ein Dermatologe — nichts gegen Dermatologen! — ein modernes Bild gekauft hat, in weiß, für eine horrende Summe, und weil einer seiner besten Freunde dieses als «weiße Scheiße» bezeichnet hat. Wer den Bereich der Ästhetik ghettoisiert, in einer abgehobenen Sphäre ansiedelt, der kann leicht auf der Nase landen. Was Henning Ritter in der FAZ über den akademischen Betrieb äußerte, das gilt für die Kunst schon lange: «Das globale akademische Milieu ist umfangreich genug geworden, um als Adressat und Publikum seiner selbst zu taugen.» Diskreditiert wird — wieder einmal — die banale Realität: Man flüchtet sich in höhere Sphären, die Kunst hat sich als Religionsersatz schon im 19. Jahrhundert bewährt. Es gibt Menschen, deren höchstes Glück besteht darin, echten Künstlern zu begegnen und beispielsweise mit ihnen zu Tisch zu sitzen. Vielleicht färbt ja was ab vom Genie, wer weiß? Man denkt dabei an den Film Der diskrete Charme der Bourgeoisie vom alten Anarchisten Luis Buñuel, in dem er die Verhältnisse umdreht: Eine Abendgesellschaft sitzt auf Kloschüsseln um einen Tisch herum — die Herren mit heruntergelassenen Hosen, die Damen mit hochgezogenen Röcken —, und man macht Small Talk. Ab und zu steht eine Person auf, erkundigt sich diskret nach einem Örtchen, zieht sich in einen kleinen Verschlag zurück und schlingt dort ziemlich unappetitlich irgendetwas zum Essen in sich hinein. Würden Sie einen Künstler aufs Klo begleiten? Um festzustellen, daß sich die Verdauung eines Künstlers nicht so sehr von der Ihrigen unterscheidet? Außer er hat Durchfall und Sie nicht? Es gibt ja tatsächlich Künstler, die haben sowas wie Schaffensdurchfall, die sondern ununterbrochen irgendwelches Zeug ab, das die, die dem Entstehungsprozeß nicht beiwohnen, dann in eben den erwähnten Ausstellungen darbieten, die wiederum in den ebenfalls erwähnten Zeitungen und Zeitschriften rezensiert werden. Aus dem Altpapier wird dann Toilettenpapier hergestellt, mit dem wiederum die Künstler … Usw. usf. Man nennt das Recycling. (Das Äquivalent zum künstlerischen Schaffensdurchfall heißt bei Kunsthistorikern und Kritikern Logorrhöe, Wortdurchfall.) Die Scheiße hat als Material und Thema bereits Eingang in die Kunst gefunden, Piero Manzoni hat sie in Konservendosen abgefüllt, Dieter Roth hat kleine Hasen daraus geformt, um nur zwei Beispiele zu geben. So falsch ist der Vergleich ja auch nicht. Noch einmal die Frage: Wie entsteht Kunst? Durch Aufnahme, Verdauung und Ausscheidung. Von nichts kommt nichts. Doch nun zur Frage: Was essen Künstler? Was trinken sie? Was empfehlen sie? Giorgio Vasari etwa berichtet von Piero di Cosimo, dieser habe so einfach gelebt, daß er sich darauf beschränkt habe, nur harte Eier zu essen. Wenn er Leim für seine Grundierungen kochte, sott er aus Gründen der Sparsamkeit die Eier gleich mit, und zwar nicht nur sechs oder acht, sondern gleich an die fünfzig. Er hob sie in einem Korb auf und verzehrte sie nach und nach. Gegen Ende seines Lebens soll Piero etwas seltsam und wunderlich geworden sein. Er schimpfte auf Ärzte, Apotheker und Krankenpfleger und warf ihnen vor, die Patienten verhungern zu lassen. Wahrscheinlich haben sie ihm verboten, harte Eier zu essen. Einer seiner Schüler war Jacopo da Pontormo, der sich ebenfalls zu einem Sonderling entwickelte — sowohl in seinen Arbeiten als auch in seinen Eßgewohnheiten. Seltsam mutete es damals an, wenn ein Künstler nur das machte, wozu er gerade Lust hatte und nur für den Auftraggeber arbeitete, der ihm paßte. Kein Künstler, so kommentierte Vasari, sei verpflichtet zu arbeiten, außer wann und für wen es ihm gut scheine; leide er dadurch, so sei es sein eigener Schaden. Trotz der Bewunderung für Pontormo hatte der Chronist vor allem eines auszusetzen: Pontormo ahme Dürer nach! Das war unerhört. Schließlich kämen ja, empörte er sich, die Deutschen und die Flamen nach Italien, um die italienische Manier nachzuahmen und nicht umgekehrt. Warum also wollte Pontormo gerade das loswerden, weswegen die Nordlichter in den Süden reisten? Gegen Ende seines Lebens, Anfang des Jahres 1554, begann Pontormo, einige Notizen in eine Kladde zu schreiben. Darin geht es zu einem großen Teil ums Essen und, damit untrennbar verbunden, um die Verdauung. Giorgio Manganelli nannte den Maler einen schwankenden Psychotiker, einen «borderline». Pontormos Aufzeichnungen sind wohl das eigenartigste autobiographische Dokument eines zu seiner Zeit hochberühmten Malers, das wir kennen. Was bewegt so einen Maler? Ein kurzer Ausschnitt. Wir schreiben das Jahr 1555: «Mittwoch, den 1. Mai, zu Abend 12 Unzen Brot, 1/2 Köpfchen, Käse und grüne Saubohnen. Donnerstag die andere Hälfte zum Abendessen. Freitag, zum Abendessen mit Piero einen Eierfisch, Salat und Dörrfeigen. — Fest der ‹Kreuzauffindung›. Samstag einen Eierfisch mit Rübenkrautsaft, Zucker und Rübenkrautsuppe und 10 Unzen Brot. Sonntag abend zwei Eier. Montag gebackene Lammleber. Dienstagabend ein Lammherz, gesottenen Schweinebauch und 10 Unzen Brot; und den Arm der Figur angefangen und zwar so: (Es folgt eine winzige Skizze) — Mittwoch der Tasso gestorben — und Donnerstag die Figur fertig gemacht, mit Daniello zum Abendessen gegangen: gebratenes Zicklein und Fisch. Freitagabend einen Eierfisch und Salat, 10 Unzen Brot, Wein weniger als einen Viertelkrug.» Und so weiter und so weiter. Hier hat ein Künster, der zu den ersten seiner Zeit zählte, etwas aufgeschrieben, und sein wichtigstes Thema ist die Verdauung. Von der Kunstgeschichte sind diese Aufzeichnungen bisher wenig beachtet worden. Vielleicht auch deshalb, weil man den Zusammenhang zwischen Kunst und Verdauung bisher unterschätzt hat. Ein Zeitgenosse Pontormos, der Bildhauer Benvenuto Cellini, hat ungefähr zur selben Zeit seine Autobiographie verfaßt. Er rühmt dort die eigenen Werke, verleumdet seine Konkurrenten, rechtfertigt seine Rauflust und seine Streitsucht, alles ganz normale Dinge — aber kaum ein Wort über seine Ernährung! Selbst wenn er darüber geschrieben hätte, Goethe hätte in seiner berühmten Übersetzung diese Stellen wahrscheinlich ausgelassen. Machen wir der Kürze halber einen Sprung ins 19. Jahrhundert. Im ersten Band des Kapitals stellte Karl Marx fest, daß beim Handel bestimmte Wilde oder Halbwilde das Angebotene zweimal ableckten, um ihre Zufriedenheit mit dem Geschäftsabschluß kundzutun. Im Norden sei die Zunge das Organ der Aneignung, im Süden gelte der Bauch als Organ des akkumulierten Eigentums: So schätze der Kaffer den Reichtum eines Mannes nach seinem Fettwanst. Karl Friedrich von Rumohr, Schriftsteller, Kunsttheoretiker — ein Dilettant im besten Sinne des Wortes — schrieb zu Beginn des 19. Jahrhunderts über den «Geist der Kochkunst». Mengenangaben und präzise Rezepte wird man darin vergeblich suchen. Rumohr legte Wert auf den nationalen Charakter einer Küche. Kochen war für ihn Kunst und Wissenschaft zugleich, Essen nicht nur Nahrungsaufnahme, sondern mit zahlreichen anderen Dingen verbunden: «Die im Anhange verbreiteten kleinen Wahrnehmungen über den Auftrag und die Anordnung der Speisen, über die moralischen Ursachen, welche den Genuß erhöhen oder vermindern, die Verdauung begünstigen oder aufhalten, wurden höchstwahrscheinlich hinter dem Stuhle aufgegriffen, von woher die meisten Kommensalen weniger beobachtet zu sein wähnen, als im Durchschnitt wohl der Fall ist.» Der bekannteste Maler des Biedermeier, Carl Spitzweg, ein gelernter Apotheker, hat eine gutbürgerlich-bayerische Rezeptsammlung hinterlassen. Henri de Toulouse-Lautrec, der sich bekanntermaßen gerne in Kneipen und anderen einschlägigen Etablissements herumtrieb, verfaßte ebenfalls ein Kochbuch. Im Gegensatz zu Spitzweg ist dieses international, es enthält sowohl eine Zubereitungsart für Heuschrecken als auch ein «Käsebrot zum Durstmachen». Letzteres wird verständlich, wenn man weiß, daß Toulouse-Lautrec einer der ersten war, die sich für Cocktails interessierten. Den Versuch, Küche und Ideologie zu verbinden, unternahmen in einem manifestartigen Kochbuch die italienischen Futuristen. Sehr spät verfaßt, zu einer Zeit, als sie mit dem Faschismus sympathisierten, war dieses Buch gegen die Pasta gerichtet: Die weichliche Nudel passe nicht zum neuen, starken Volk. Der bereits damals bekannte Grundsatz, Nudeln al dente zu kochen, wurde wohlweislich verschwiegen. Neues Nationalgericht sollte das stark machende Risotto werden, vorzugsweise mit Wein oder Bier zubereitet. Daß dieses Ziel — bis auf vielleicht die Gegend um Mailand, wo das Risotto von jeher Tradition hat — nicht erreicht wurde, ist bekannt. Noch ein kleiner Exkurs über die «Gegenständlichkeit in der Kunst», wie sie 1920 der Dadaist Raoul Hausmann beschrieben hat. Kunst, so meinte er, sei eine Sache der Nation. Und Nationalität sei «der Unterschied zwischen Polenta, Bouillabaisse, Powidl, Roastbeef, Pirogen und Kloßbrühe». Kunstgeschichte wird so plausibel: In Italien sei als Übergangskunst ein Realismus, nämlich der Futurismus, entstanden, während in Frankreich wegen des Suppeneinschlags der Kubismus in Erscheinung getreten sei. (Das ist natürlich vor der Hinwendung der Futuristen zum Faschismus geschrieben!) In Deutschland sieht es, das war zu ahnen, schlecht aus. Romanische Völker besäßen eine gute Verdauung, die Slawen könnten alles verdauen, der Deutsche aber leide an einem schmachvollen Wechsel von Verstopfung und Durchfall, der sich entweder in Kants Philosophie oder in Goethes zweitem Faust zeige. «Den Deutschen aber», so Hausmann weiter, «dürfte geraten sein, sich zuerst mit einer planmäßigen Trennung von Kloßbrühe in Klöße und Brühe zu befassen — andernfalls werden sie niemals über weibliche Würstelbeine, Weltbeherrschungspläne und Expressionismus, also die Kultur der verlogenen Dummheit, hinausgelangen.» Hausmann hat ein bemerkenswertes Geschichtsmodell entwickelt. Wir befinden uns heute, das ist evident, in einer anhaltenden Phase des Durchfalls. Es wird so viel produziert, da man es nicht mehr verdauen kann. Da das Produkt sich auf dem Weg durch die dementsprechenden Organe kaum verändert, kann es jederzeit wieder verwendet werden. Wird das Produkt an einem anderen Ort neu eingesetzt, spricht man von Globalisierung. Ivo Kranzfelder Kurzschrift 2.1999, S. 33–38
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