Günter Netzer oder Der Diagonalpaß (auch) als Textkultur Samstag, der, subst. masc., Zeit der Rekreation für Erstligaprofis, die die Spielexegese des Trainers aushalten müssen, die Zeit der Experten, ihre mit dem Zeigefinger auf feuchte Biertische gemalten Spielzüge noch einmal zu besprechen, für Journalisten, über Nobilitierung oder Verdammnis eines Klubs zu befinden, Zeit auch für Walter Jens, über Sprachgebräuche und Denkweisen der Profis Gericht zu halten ... Zeit jedenfalls, viel Sprache über ein Spiel zu breiten, das doch vermeintlich vom reinen Sehen, der voluptas oculorum und auch ansonsten von überschäumender Entindividuation lebt. Nicht nur, aber besonders Wittgenstein, sieht hier über das Sehen hinaus: «Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‹Sprachspiel› nennen.» Sprache hat Teil an Lebensformen und Tätigkeiten mit fließenden Übergängen zu ihnen. Fußball ist kommentarbedürftig wie abstrakte Kunst und erzeugt auf diese Weise Texte, die mit ihm in einem komparativen Freundschaftsverhältnis stehen, der Sport wird narrativ: Geschichten können sich daranhängen, und die Metaphorik der Kommentatoren fällt nicht selten proliferierend aus. Spiele sind Regeln, die ihre Verletzungen definieren, Differenzierungen schaffen, eine Spielsyntax definieren, Erwartungen kreieren und Spielräume gewähren. Sie benötigen und evozieren das Wort, sind abgeleitete, imaginäre Wunscherfüllung, doch deswegen nicht weniger real in ihren Konsequenzen: den sich anschließenden Kommunikationen und dem, was man an zeitgenössischer gesellschaftlicher Philosophie dahinter erkennt. Günter Netzer und kongeniale Kollegen konnten mit dem, was seit ein paar Jahren unter «kontrollierter Offensive» (Otto Rehhagel) firmiert, nie etwas anfangen. Dem Diagonalpaß fehlt jede Langeweile, er ist äußerst riskant, eröffnet Räume, ist ein di-agon: blitzschneller Flirt des Auges mit der Tiefe des Raumes, abgesetzt gegen die öde Breite des Feldes, Beschleunigung, in der der Ball zum Signifikanten wird, ein «zwischen Fall und Flug noch unentschlossener», der, im Faszinosum des Flugs und der nie ganz sicheren Ankunft, «den Spielenden von oben / auf einmal eine neue Stelle zeigt, / sie ordnend wie zu einer Tanzfigur.» (Rilke, Der Ball) Der Diagonalpaß schafft überraschende Konstellationen. Er ist so schnell wie sensibel und formuliert einen Spielstil gegen unintelligente Kraftmeierei, gegen das Ermauern von Punkten unter dem Diktum, hinten dicht zu machen, auf das vorne der liebe Gott helfe, er ist gegen die Anspruchslosigkeit des Querpasses und die blanke Beleidigung, den Rückpaß, gegen schiere Bankkontenbewegung und verbissene Athletik, gegen die Merkantilorientierung von fußballernden Geschäftsleuten. Denen ist nämlich ebenso wie Ideologen die verschwenderische, jedenfalls riskante Bewegung suspekt. Der Diagonalpaß, schon spielimmanent ein Dialog der Ebenen, greift auf den Zuschauer über. Dieser begeht den gelebten Raum mit Texten, Kommentaren, er ist ein lesendes und sprechendes Auge — und hieran bemißt sich auch Netzers Leistung: welche Anschlußpotentiale haben seine Pässe, in welchen Gesprächsstand setzen sie den Betrachter, welche Denkhaltungen ermöglichen sie? Zum Beispiel: den Fußballspielern das Spielen (O, FC Bavaria, si tacuisses, was die Herrschaftsansprüche betrifft!), den Politikern die Politik und den Autoren ihre Schrift nicht einsam und kommentarlos zu überlassen. Nicht nur von Spielern, Politikern oder Autoren wird Interviewkompetenz gefordert. Zuschauer und Rezipienten sind Gesprächsmitgestalter, wenn sie die sonst getrennten Bereiche miteinander ins Spiel bringen. So appelliert der Diagonalpaß an die Politik, nicht zu mauern oder das Erreichte zu konservieren. Ebenso verdächtig ist ihm das Sichern von semantischen Besitztümern. Eine Textkultur des interpretatorischen Risikos ist gefordert: nicht sparsam zum Ziel zu kommen, sondern die Verschwendung, die Lust und den Plural zu riskieren als einen Umweg: als ein Abenteuer, das Leser und Text gleichermaßen zustößt. Ralph Köhnen Laubacher Feuilleton 1.1992, S. 1
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