Monte Carlo

Geschichte der Spielbank (Teil 2) [Teil 1]

Gründung und Organisation der ‹Société des Bains de Mer et du Cercle des Étrangers.›

Im Oktober 1883 schloß Graf Bertora als Bevollmächtigter mit Charles III. einen Vertrag, kraft dessen die Konzession der Spielbank, auf weitere 30 Jahre prolongiert, vergeben wurde. Das bis dahin Blanc'sche Unternehmen wurde im März 1883 in eine Aktien=Gesellschaft unter dem Namen ‹Société des Bains de Mer et du Cercle des Etrangers› umgewandelt, und die Statuten der neuen Gesellschaft von Charles III. unterm 15. März genehmigt. Das Stamm=Kapital wurde auf 30 Millionen, eingeteilt in 60 000 Aktien à 500 Frks., fixiert. Die Aktien genießen eine feste 5% Verzinsung und partizipieren außerdem an der alljährlich zu verteilenden Superdividende, deren Höhe einzig und allein von den Direktoren festgesetzt wird. Das Geschäftsjahr läuft vom 1. April des Jahres bis 31. März des folgenden. Innerhalb der ersten vier Monate nach Ablauf eines jeden ‹Spieljahres› hat der ‹Conseil d´Administration› die nach kaufmännischen Grundsätzen aufzustellende Inventur und Bilanz sowie das Gewinn= und Verlust=Konto der ‹General=Versammlung› vorzulegen.

Die Teilnahme an diesen ‹General=Versammlungen› ist jedoch laut § 30 der Statuten nur denjenigen Aktionären gestattet, die mindestens über 100 Aktien = 50 000 Frks. nominell, verfügen! Man kann sich darnach wohl ungefähr vorstellen, wie diese ordentlichen ‹General=Versammlungen› frequentiert sind und wer die Beschlüsse zu Wege bringt. Das ‹Einladungsschreiben› zu einer solchen ‹Generalversammlung› hat folgenden Wortlaut: SOCIETE ANONYME DES BAINS DE MER ET DU CERCLE DES ETRANGERS DE MONACO. Messieurs les actionnaires sont convoqués en Assemblée générale ordinaire le samedi vingt-huit avril prochain, à deux heures de revelée, au siège social à Monaco.
L´Assemblée se compose de tous les porteurs de cent actions ayant déposé leurs titres au siège social au moins huit jours avant la réunion de l´Assemblée.
Nul ne peut se faire représenter à l´Assemblée que par un mandataire, membre de l´Assemblée.

Bei Gründung dieser lukrativen Aktiengesellschaft verfuhr man, wie folgt: 5000 Aktien erhielt der Fürst von Monaco; 4200 Edmond Blanc; 4000 Camille Blanc; 4000 Prinz Roland Bonaparte; 4800 Fürst Radziwill; 2000 Graf Bertora; 2000 Henri Wagatha; der Schwager der Madame Blanc. Ferner erhielten die ‹Société Immobiliare de Nice›, welche bei der Kapitalisierung des Unternehmens hervorragend engagiert war, mehrere Banquiers und Journalisten, der Maire de Nice, Mr. Boniglione, und einige einflußreiche Deputierte für ihre ‹Mühewaltung› eine Anzahl Aktien, sodaß im Ganzen etwa die Hälfte untergebracht war. Der noch verbleibende Rest von 30 000 Stück wurde dem Publikum angeboten und schnell gezeichnet. Das eigentliche Betriebskapital beträgt somit nicht 30, sondern nur 15 Millionen Frks. und blieb es bis zum Jahre 1897. Im November 1897 schloß die ‹Société des Bains de Mer› einen neuen 50jährigen vertrag ab, kraft dessen die Konzession bis 1948 währt. Dieser Vertrag, der den alten, nur bis 1913 laufenden annuliert, machte die Ausgaben neuer Aktien à 300 Frks. nötig, um den neu übernommenen Verpflichtungen nachkommen zu können. Die ‹Generalversammlung› genehmigte daher, weitere 100 000 Aktien auszugeben und übertrug alles Weitere dem Präsidenten Mr. Camille Blanc. Der ‹Neue Vertrag› legt der ‹Gesellschaft der Meerbäder› außer den alten Lasten noch folgende besondere Abgaben, resp. Verpflichtungen ob:

1. an die fürstliche Kasse im Laufe des Jahres 1898 zu zahlen 10 Mill.
2. im Laufe des Jahres 1914 weitere 15 Mill.
3. für moderne Hafenbauten, Kanalisation etc. 5 Mill.
4. für ein neues Theater (Opernhaus) 5 Mill.

Ferner ist vorgesehen, daß, wenn der jährliche Reingewinn 25 Millionen übersteigen sollte, der Ueberfluß mit 5% zu versteuern ist! Wem schwindelt da nicht bei diesen gewaltigen Zahlen, Ziffern, die hinreichten, einigen Tausenden fleißiger Menschen eine Existenz zu schaffen. —

Nun noch einige Worte über die Organisation dieser ‹behördlich protokollierten Spielbank auf Aktien›. An der Spitze des Unternehmens steht der ‹Conseil d'administration›, der Verwaltungsrat, der sich aus vier Mitgliedern, von welchen jedes über 400 Aktien = 200 000 Frks. nominell verfügen muß, und dem ein Präsident, (z. B. Camille Blanc) vorsteht. Dieser Verwaltungsrat wird auf 6 Jahre gewählt, doch muß sich die ‹Hälfte› seiner Mitglieder alle 3 Jahre einer Neuwahl unterziehen. Es ist dies der oberste und der ‹einzigste Rat›, und von seinen Dekretierungen, gegen die es keinen Rekurs giebt, hängt Wohl und Wehe des gesamten Unternehmens ab. Selbst der der Gesellschaft beigeordnete fürstliche Kommissar, der die Rolle eines ‹Ministre du jeu public› mit ziemlich viel Würde vertritt, hat keinen Einfluß auf die Verfügungen dieses allmächtigen Rates, denn es ist eine ‹Conditio sine qua non›, wonach die Spielbank bei allen Beratungen immer ein ‹noli me tangere› bleibt! Jede Woche tritt dieser ‹Rat› zu einer ‹Sitzung›, bei der gewöhnlich zwei Drittel der Mitglieder durch Nichterscheinen glänzen, zusammen, um sich in Verwaltungssachen zu beratschlagen. Mitglied dieses ‹Rates der Viere› zu sein, ist aber nicht nur ein hohes Ehrenamt, sondern auch ein höchst lukratives, indem dieselben außer ihren Diäten noch 2% als Tantieme vom Reingewinn, ungefähr ca. 50 000 Frks. à Person beziehen. Wahrlich ein beneidenswertes Einkommen. Alle höheren Chargen können nur mit Zustimmung dieses Rates ernannt werden. Der ‹Conseil d´administration› ernennt den ‹Generaldirektor›, der die laufenden Geschäfte zu erledigen hat, die beiden ‹Direktoren›, den ‹General=Adminitrator›, die verschiedenen ‹Administratoren› etc. Den Posten eines General=Direktors bekleidet z. Zt. Mr. George Bornier, der vom Roteau an sich zu dieser hohen Stellung emporgeschwungen hat. ‹Generaladministrator› ist z.B. Mr. Frédéric Wicht, ein geb. Friedrichsdorfer (Taunus), der diesen fetten Posten seit Jahren bekleidet. Die niederen Aemter werden durch den General=Direktor nach eigenem Ermessen besetzt.

Ueber die ‹Administration des Spiels› und ueber Gewinn und Verlust der Spielbank werden wir noch an anderer Stelle Gelegenheit haben, ausführlich zu referieren.

Nun noch ein Wort ueber den Stand der Aktien dieses Unternehmens. Bereits gleich nach der Emission (1883) machte sich eine langanhaltende Hausse geltend, und der Kurs stand 1894 bereits auf 2500. Dann fielen die Papiere 1895 infolge der ‹ungünstigen Konjunktur› auf 1800, doch erholten sie sich sehr schnell und standen bereits im März 1897 wieder auf 2340. Heute — 17. Dezemder 1898 — stehen sie sogar offiziell laut Kurszettel auf 4400, ein einzig in den Annalen der ‹Société des Bains de Mer› dastehender Fall!

Man sieht, es fehlt dem Unternehmen an nichts. Wie unter Francois Blanc´s väterlicher Leitung nie eine Stagnation im Betiebe eintrat, so hat auch das neue Regime noch keinen finanziellen Mißerfolg zu verzeichnen gehabt. Wenn auf allen wirtschaftlichen Gebieten von Jahr zu Jahr eine immer größere Depression um sich greift, die weitere Kreise in Mitleidenschaft zieht, so kann man dies von der Bank nicht behaupten. Im Gegenteil, Monte Carlo und seine ‹Aktiengesellschaft für Ausbeutung der Spielwut› prosperiert von Jahr zu Jahr mehr!

Fritz von der Elbe
Über den Autor sind uns keine Einzelheiten bekannt.


Laubacher Feuilleton 14.1995, S. 15


Aus: Monte Carlo, Indiskretionen und Erlebnisse aus einer Spielhölle, Druck und Verlag von Wilhelm Köhler, Minden i. W., circa 1900, Seiten 13-18; wird fortgesetzt

 
Mi, 23.03.2011 |  link | (1823) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Historisches



Der Töter

Eine Erzählung von Veijo Meri

Er lag im Morast am Flußufer, unbeweglich, vom Morgengrauen bis zum Abend; wenn es dämmrig wurde, verschwand er. Eine Woche hindurch war er da, ohne sich entdecken zu lassen.
Er trug eine aus einer riesigen Stoffmenge gearbeitete Montur, mit Streifen und Fransen; darin war er wie ein raschelnder Erlenbusch, der den Wind öffnet und schließt, ohne den Blick hindurchzulassen.
Seine Augen suchten unablässig das gegenüberliegende Flußufer ab, den dreißig Meter hohen Sandrücken, im Fernrohr, und ohne Glas. Vor allem an dieser an- und absteigenden Grenzlinie war er interessiert, die über ihm den klaren Himmel vom trüben Land trennte. Von Zeit zu Zeit ließ er, um sich Abwechslung zu verschaffen, seinen kreisrunden Blick den Abhang hinabgleiten: zu den verschiedenen großen grauen Steinhaufen und den grauen Flecken Sand. Bis die im Fluß angestaute Floßholzmenge sich plötzlich über ihn zu neigen schien. Er richtete den runden, sehr wenig einfangenden, sich aber dafür umso weiter erstreckenden Blick langsam wieder nach oben, dorthin, wo das Land aufhörte und sich der Himmel öffnete. Er hob seine Waffe, die in Streifen und Fransen gekleidet war wie ihr Herr, so langsam an, daß nichts auf eine Bewegung hindeutete.
Damit der Körper nicht einschlafe, brachte er ihn von Zeit zu Zeit in Bewegung: er zog die Knie an und krümmte dabei den Rücken, dann streckte er sich, indem er die Beine spreizte, aber so langsam, das nichts die Bewegung verriet. Damit konnte er eine halbe Stunde zubringen, um danach zwei drei Stunden dazuliegen, ohne sich zu rühren.
Um den Donner des Artilleriefeuers kümmerte er sich nicht, die Schußziele lagen weit ab, vor und hinter ihm. Man hatte versucht, ihn mit Granatwerfern zu vernichten am dritten Tag, indem man das Fichtenwäldchen am Flußufer unter massiven Beschuß nahm. Der Gegner feuerte mit hochexplosiven Geschossen, die in der Luft zerplatzten, aber er hatte das vorausgesehen und sich aufs offene Moor abgesetzt. Er hatte seinen Tarnanzug umgekrempelt und lag dort einen Tag über als gelbblau gefleckte Moorlache, ehe er wieder an seinen Platz zurückkehrte.
Der Frontabschnitt war ruhig, zu ruhig. Immer wieder kam es dazu, daß er durchs Zielfernrohr einem Gegner direkt in die Augen starrte, die durch ihn hindurchzublicken schienen, wissentlich, aber sein Finger rührte sich nicht am Abzug. Aufgrund des Schusses hätte man ihn lokalisieren können.
Sie versuchten ihn dazu zu bringen, daß er schoß. Man arrangierte für ihn Scheinziele: ein Helm bewegte sich wie eine Schildkröte die Randlinie des Abhanges entlang. Wenn sich ein Mensch bewegt, hebt und senkt sich der Kopf immer ein wenig. Wenn seine Füße sich voneinender entfernt haben, ist er kleiner als in dem Moment, indem sie sich einander genähert haben. Derlei Grundregeln schienen die Fallensteller nie zu lernen. Man hatte ihn auf alle nur möglichen Täuschungsmanöver trainiert. Davon abgesehen schoß er nie auf einen Helm; immer nur ins Gesicht, ins Zentrum des Gesichts. Zielmarke war der Schnittpunkt der über Auge und Nase verlaufenden Achsen, ihr Nullpunkt. Auf einen seitwärts gedrehten Kopf schoß er nur im Ausnahmefall, weil das Ziel uneinheitlich und es ziemlich schwierig war, so schnell, in einer Zehntelsekunde, einen Fixpunkt zu finden. Die einzig mögliche Stelle war das Ohr, aber damit man einen effektiven Treffer erzielte, mußte der Einschlag dicht dahinter liegen. Und zudem war die Zielfläche schmal. Außerdem hatte der Helm einen langen Nackenschutz. Wenn ein Mann einen Helm aufhatte, schoß er auf ihn weder von der Seite, noch von hinten, außer aus allerkürzester Entfernung. Wegen der schiefen Bauform hatte man den Helm praktisch immer im Anschlagwinkel.
Man betrachtet seinesgleichen als für seinen Beruf geeignet, wenn er sich in der Lage zeigt, auf eine Figur von der Größe eines Kopfes aus einer Entfernung von sechshundert Metern mit hundertprozentiger Treffsicherheit zu schießen. Aber das genügt nicht. Man kann einem Menschen das Gesicht unter den Augen wegschießen, und das Ganze ist nichts als Pulververschwendung. Es gibt Stellen im Kopf, an denen ein Einschuß nicht tötet. Aber er kannte alle Finessen seines Fachs, den Bau des menschlichen Schädels aus dem Effeff. Wenn eine Kugel nicht schlagartig tötete, hatte er versagt, und der Tag war verdorben. Der fortwährende Schmerzensschrei war für ihn beschämend. Nichts weiter wurde von ihm verlangt als die vollkommene Leistung. Einem Mann Glieder und Organe außer Betrieb zu setzen, kann jeder Stümper. Der augenblicklich erfolgende absolute Tod kommt selten vor, so selten, daß viele glauben, so etwas gäbe es gar nicht. Jemand, der auf der Stelle tot ist, hat keine Gelegenheit mehr, einen Laut von sich zu geben, die Glieder versagen der angefangenen Bewegung den Dienst.
Die letzten fünf Tage hatte er niemand erwischt. Dermaßen vorsichtig war der Gegner geworden. Seine Scharfschützentätigkeit auf diesem Frontabschnitt war beendet. Die Verlegung an einen anderen Abschnitt stand ihm bevor. Länger als eine Woche hielt er sich selten in einer Gegend auf. Er hatte ein Betätigungsfeld, das sich über zwanzig, dreißig Kilometer erstrecken konnte, je nachdem, wie begehrt er war.
Ohne auch nur einen Schuß abgegeben zu haben, zog er sich bei Anbruch der Nacht vom Moor zurück. Aus dem Fluß stieg Nebel auf, wie aus einer tiefen Kluft, und wälzte sich über die Moorblöße zum Wald hin. Wie ein bläulicher Rauchflecken inmitten weißen Strohfeuerrauchs bewegte er sich in der Richtung fort, ebenso langsam wie der Nebel.
Die in ihren Unterständen eingemieteten Landser sahen, wie er vorüberging. Sie trauten sich nicht, ihm mit Fragen zu kommen, und die Unterhaltung brach ab, als hätte ihnen jemand einen Reißnagel in den Gaumen gedrückt. Nur ein Unterleutnant der Infanterie schloß sich ihm auf dem Pfad an, um ihm eine Zigarette anzubieten, aber er war kein Raucher. Der Unterleutnant fing an, ihm vom MG-Nest zu erzählen, aus dem sie Seitenfeuer bekommen hätten und das ihm große Verluste gebracht hätte. Er wiederholte jeden Satz und redete ununterbrochen. Der Feind läge auf der Anhöhe gegenüber, hoch über dem Flußufer. Seine Männer lägen unten auf dem flachen Moor. Alle Flußufer auf der Westseite wären hoch wie Berge, und überall auf der Ostseite gäbe es Moor. Gott hätte sich gedacht, daß hier ein Reich verkehrt herum entstehen solle...
Sie kamen zur Schneise. Der Streifen Tageslicht brachte das weiße Gesicht des Unterleutnants und seine flatternden Augen zum Vorschein. Sein Mund und seine Augen kamen nicht zur Ruhe. Er erklärte, daß er mit sieben Jahren auf dem Eis eingebrochen sei. Seitdem habe er das dauernde Augenzucken. Er wisse nicht genau, worauf das zurückzuführen sei, aber er glaube, das eisige Wasser habe ihm die Augen verdorben. Er sei nachtblind, sehe nichts...
Der Unterleutnant bot, als sie am Ziel waren, wo der Kradfahrer wartete, Schokolade an, aber der Scharfschütze schwang sich, ihm den Rücken kehrend, auf den Soziussitz und setzte den Büchsenkolben auf die Fußraste. An der Büchse gab es keinen Riemen. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß ein Riemen nur hinderlich ist, obgleich die Gewehrschützen auf Riemen und stramme Lederjacken als Rückhalt beim Visieren schwören. Aber das war mehr etwas für Federwildjäger, für stehend freihändiges Schießen. Die Büchse war nicht auf dem Rücken zu tragen, er mußte sie in der Hand behalten. Als der Fahrer auf den Kickstarter trat, knatterten im Wald hundert Maschinen gleichzeitig los. Die fuhren da im Gestrüpp neben ihnen her, wie eine riesige Eskorte.
Der Scharfschütze war in einem fünfzehn Kilometer weit im rückwärtigen Gebiet gelegenen Dorf untergebracht. Jeden Morgen, ehe es hell wurde, wurde er von einem Kradfahrer in die vorderste Linie gebracht und dort jeden Abend, wenn es dunkel wurde, wieder abgeholt. Er hatte ein eigenes Zimmer im Kasinogebäude neben dem vom Regimentsstab belegten Räumen. Dort lag er nachts in einem richtigen Bett, und dort nahm er sein Essen ein, das ihm der Chauffeur aufs Zimmer brachte. Er erhielt Offiziersverpflegung mit einer Extrazulage.
Als er sich beim Bataillon zum täglichen Rapport meldete, den er telephonisch durchgab, kam der Kommandeur auf das MG-Nest zu sprechen, das dem Bataillon große Verluste gebracht habe. Es sei kein Befehl, aber er bitte darum, das MG außer Gefecht zu setzen oder es in Schach zu halten.
Der Scharfschütze sagte, er habe das MG bemerkt, und er wisse schon. Das MG hatte sich dicht an der Mündung des von Osten herkommenden kleinen Nebenflusses eingenistet, und wahrscheinlich mit dem Auftrag, im versumpften Flußgelände eine seitliche Truppenverschiebung zu verhindern. Es gab dort auch etwas weiter entfernt eine Brücke, aber die war nicht passierbar, noch nicht einmal nachts, weil sie sich deutlich gegen das Wasser abzeichnete und weil das MG dort freies Schußfeld hatte, die Brücke unter Beschuß nehmen konnte auch bei völliger Dunkelheit. Das MG-Nest war von der gegenüberliegenden Seite des Flusses her nicht zu beschatten, der Sumpf war bodenlos und nicht begehbar. Davon abgesehen war es nicht gut möglich, ein MG mit einer einfachen Büchse außer Gefecht zu setzen. Und sich mit einer Panzerbüchse ins vorgeschobene Gelände zu begeben, lohnte sich ebensowenig.
Er ging in sein Zimmer, nahm sein Essen ein und reinigte sorgfältig sein Gewehr, obgleich er nicht damit geschossen hatte. Er füllte die Patronentaschen mit neuen Patronen. Er hatte Spezialpatronen, deren Pulverkörner genau abgezählt waren. Auf dem Moor könnten die Patronen und das Gewehr Wasser angezogen haben. Ebenso sorgfältig wie für seine Waffe sorgte er für sich selbst. Er achtete darauf, daß die Zusammensetzung der Nahrung zweckentsprechend sei. Wenn er sich morgens gründlich entleert hatte, war er wieder für einen ganzen Tag fit, ohne an die Befriedigung seiner Befriedigung oder die Verrichtung seiner Notdurft denken zu müssen.
Als ihn die Wache am frühen Morgen weckte, stieg er in seinen Tarnanzug und bekleidete sein Gewehr. Er war entschlossen, sich mit dem MG-Nest zu befassen. Die Sache schien ohne weiteres klar zu sein, als hätte sein Gehirn nachts im Schlaf die Entscheidung getroffen, wie die Aufgabe durchzuführen sei, obgleich es sich um eine schwierige Gleichung handelte, in der es verschiedene Unbekannte gab. Er dachte schon nicht mehr an seine Verlegung, die beschlossen und bereits mit ihm abgesprochen war, an den Einsatz auf dem anderen Abschnitt, wo man ihn sehnlich erwartete. Es gab ja für ihn auch hier noch eine sauber umrissene Aufgabe, und er war sich völlig im Klaren über deren Durchführung.
Er zog die Generalstabskarte aus der am Nagel hängenden Kartentasche und vergewisserte sich, daß es da wirklich einen Weg gab, auf dem man auf der anderen Seite des Nebenflusses in den Abschnitt des II. Regiments gelangen konnte. Er hatte nicht gewußt, daß es solch einen Weg gab, ihn aber als bekannte Größe für seine Berechnung eingesetzt.
Nebenbei ging ihm auf, daß der Unterleutnant ihn angelogen hatte mit dem, was er am Abend zuvor über die Gefährlichkeit des MGs erzählt hatte. Wenn das MG-Nest von der Gefechtslinie aus nicht zu beschießen war, wie konnte es dann umgekehrt möglich sein, von dort aus den Abschnitt unter wirksamen Beschuß zu nehmen? Aber irgendetwas brauchte der Unterleutnant ja wohl, um sich wegen der Verluste seiner Kompanie rechtfertigen zu können. Und der Bataillonskommandeur glaubte, was man ihm einzureden versuchte.
Sie mußten einen Umweg von vierzig Kilometern machen, ehe sie ans Ziel kamen. Er schickte den Kradfahrer zurück und befahl ihm, ihn abends am selben Platz wieder abzuholen. Er robbte am Fluß entlang und arbeitete sich zur Flußmündung vor, bis ihm das MG-Nest auf der anderen Seite des Flusses genau gegenüber lag. Das Flußufer war leichter begehbar als das auf der feindlichen Seite. Der Unterleutnant hatte zum Schluß von diesen unheilvollen Ufern geredet, am Abend.
Er richtete sein Gewehr auf das Nest und starrte durchs Glas. Im ersten Tageslicht tauchte in der schwarzen Öffnung der Umriß eines MGs auf, ein Modell mit Wasserkühlung. Gegen die Waffe selbst war er machtlos, aber deren Bedienungsmannschaft konnte er außer Gefecht setzen, dem Gegner sogar an dieser Stelle einen solchen Schlag versetzen, daß ihm für längere Zeit die Puste ausgehen würde. Vereinzelte Gewehrkugeln zischten pfeifend durch die Luft.
Alles schien auf einen sehr ruhigen Tag hinzudeuten. Nur von fern hörte man im Norden das dumpfe Grollen der Artillerie.
Als im rückwärtigen Flußgelände wildes Geschrei losbrach, begleitet von spärlichem, zaghaften Gewehrfeuer, das sich schließlich zu ohrenbetäubender Knallerei steigerte, wie bei einem Zusammenstoß mit einem feindlichen Stoßtrupp, kümmerte er sich nicht darum. Er bemerkte den im Fluß tauchenden Mann erst, als die Strömung ihn bereits dicht an seine Schußlinie herangetragen hatte. Die Gewehrkugeln peitschten das Wasser, prallten am Wasser ab und schlugen in der Böschung am gegenüberliegenden Ufer ein; sie schlugen dicht vor ihm weiße Stempelmarken in die schwarzen Flußhölzer. Er sah einen um einen Stamm geschlungenen Arm, aber der Arm war im selben Augenblick wieder verschwunden.
Die Strömung war stärker und rascher, als die im Fluß treibenden Stämme erkennen ließen. Der Unterleutnant war am nördlichen Geländeabschnitt seiner Kompanie ins Wasser gesprungen, und die Strömung hatte ihn bereits dicht unter das MG-Nest abgetrieben. Unglaublich, wie schnell und weit ihn der Fluß nach jedem Untertauchen mit sich fortriß. Zwischendurch ruhte er sich, nur den Kopf über Wasser haltend, hinter einem der Flußhölzer aus. Die Hand, mit der er sich festklammerte, verriet ihn, aber sobald ihm die Kugeln um die Ohren zu pfeifen begannen, tauchte er wieder unter. Obgleich es Tag war, waren die Flugbahnen der Leuchtspurgeschosse deutlich zu erkennen. Die aus den tiefergelegenen Stellungen abgefeuerten Geschosse hatten zu wenig Durchschlagskraft, sie sprangen an der Wasseroberfläche auf, zurück in die Luft.
Erst als der Schwimmer am gegenüberliegenden Ufer auftauchte und an Land stürzte, erkannte ihn der Scharfschütze an der blonden, langen Mähne _ denn der gewöhnliche Landser war kahlgeschoren _ und irgendwie auf Grund eines Gesamteindrucks; der Mann war nackt. Er tauchte dermaßen schnell wieder im hohen Ufergras unter, daß es unmöglich war, sich die Stelle zu merken, wo er verschwunden war. Die in der Böschung einschlagenden Gewehrkugeln wirbelten hier und da vom Blick kaum einzufangende Staubwölkchen auf.
Der Unterleutnant schien genau kalkuliert zu haben. Erst als der Scharfschütze nicht mehr auf seinem Geländeabschnitt erschienen war, hatte er sich getraut, und gleich so, als könnte ihm keiner mehr etwas.
Als sich der Überläufer am Abhang aufrichtete, war der Scharfschütze der einzige, der ihn bemerkte. Er lag knappe zweihundert Meter von ihm entfernt. Die nächste Infanterie-Stellung lag dreihundert, vierhundert Meter weiter zurück, abseits der Schußlinie. Der Unterleutnant bewegte sich in langen Sätzen wie ein Bergtier auf vier Beinen auf sein Ziel zu. Er war auf dem sandigen Abhang durch seine Hautfarbe so vollkommen getarnt, daß nur die immer wieder gleichbleibend schnell aufsteigende Staubspirale seinen Fluchtweg verriet. Der Scharfschütze reagierte blitzartig. Er richtete sein Zielfernrohr auf die Horizontlinie des Abhangs und wartete. Vor der Flinte im Glas drei feindliche Schützen und den MG-Stand. Eins der Gesichter mitten im Fadenkreuz. Alle drei Schützen vom Scheitel bis zum Koppelschloß direkt im Visier! Überall, auch weiter entfernt auf den Flanken, tauchten die Männer hinter ihren Verschanzungen auf, um den Ablauf des Geschehens zu verfolgen. Der Überläufer steigerte sich bei zunehmender Erschöpfung bis zur Raserei, sein rhythmisches Aufbrüllen klang gedämpft über den Fluß herüber. Als er oben am Hang zum Sprung ansetzte, um hinter der Kammlinie zu verschwinden, war für den Scharfschützen der Augenblick gekommen. Trotz seiner rasenden Geschwindigkeit schien der Überläufer für die Dauer eines meßbaren Augenblicks auf der Stelle zu erstarren, er zeichnete sich klar gegen den wolkigen Himmel ab.
Oben die Männer, wie vom Schlag gerührt, begannen automatisch nach der Stelle zu suchen, woher die Kugel gekommen war. Wer hatte den Überläufer zur Strecke gebracht? Etwa einer aus den eigenen Reihen? Dem Knall nach mußte die Kugel ganz aus der Nähe kommen. Ihr Verdacht richtete sich auf das vor ihnen liegende Moor in der Flußniederung, aber auf dem Moor war nichts zu entdecken. Es war ungerecht, daß einer, der sich so am hellichten Tag selber verraten und verkauft hatte, nicht mit dem Leben davonkommen sollte. Zehn Minuten hatte er gebraucht, um flußab zu paddeln und am Ufer herumzuspringen, und im letzten Augenblick, auf dem Sprung hinter den schützenden Wall, wo das Schützenloch ihn auffing, am Ziel...
Huttunen, einer der Männer auf dem Wall, sank, an der Stirn getroffen, rücklings ins Schützenloch. Die anderen starrten aufs Moor hin, woher der Schuß gekommen war. Der Knall schien sich weiter über den krummen Rücken der Moospolster zu halten. Hals über Kopf, so schnell sie konnten, ließen sie sich ins Loch zurückfallen; sie hatten begriffen: ein Scharfschütze! Aber Huttunen lebte noch.
Ich verrecke. Er lag, die Augen offen, regungslos da. _ Ich sterbe zum Verrecken nicht, klagte er und untersuchte seine Stirn.
Seht nach, Jungens, ob das Loch bis hinten durchgeht.
Auch ohne genauer hinzusehen sah jeder das Loch im Schädel.
Ich seh kein Loch, sagte jemand.
Huttunen richtete sich zum Sitzen auf. Huttunen erhob sich, kam auf die Beine.
Ich geh zum Verbandsplatz, sagte er leise, in zweifelndem Ton.
Huttunen ging zum Graben hinüber. Der neben ihm gestanden hatte, blickte ihm nach und sah, wie er hinter dem Grabenknick verschwand.
Der feindliche Scharfschütze lag im Sumpf am Flußufer ihnen direkt gegenüber, denn die Kugel war Huttunen durch Stirn und Hinterkopf gegangen.
Genau mittendurchgegangen!
Mäenpää sah sich bereits feuern und das Biest unten mit dem MG vernichten. Im Handumdrehn, damit ihm die anderen nicht zuvorkämen, krallte er sich in den Griffen fest und feuerte eine Serie ins Moor ab. Das ging so blitzartig und ohne Überlegung _ die im Gefühl der Sicherheit eingelullte Angst kam nicht dazu, ihren Finger zu heben. Eine Kugel flatschte in seine Stirn und schlug durch, unbemerkt unter dem langen Haar im Nacken. Mäenpää richtete sich steil auf , als versuchte er nach oben zu fallen, und zog, während er weiterfeuerte, das MG mit sich empor. Das MG hackte seinen lose klappernden Ton eintönig stupide fort. Als Mäenpää Schluß machte, von oben herunterkam, bückte er sich, um den Schritt nicht zu verfehlen. Er brach zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben, ohne daß sich ein Finger an ihm krümmte.
Als sich die Männer schließlich wieder vorwagten, um die Lage hinter dem Fluß zu erkunden, war dort ein merkwürdig gekrümmter Haufen erschienen, den es da vorher nicht gegeben hatte.
Wann Mäenpää zu stöhnen begonnen hatte, war ihnen entgangen. Aber er war am Leben, und zwei von ihnen brachten ihn fort.
Ich werde niemals im Krieg sterben, sagte er. Das war sein Reden seit je und deswegen nicht weiter verwunderlich, aber gleichzeitig entwand er sich den Händen seiner Begleiter. Als er im Eingang des Sanitätszeltes den Kopf einzog, sank er ohnmächtig zusammen. Der diensttuende Sanitäter stellte fest, daß ihm eine Kugel durch den Kopf gegangen sei, und schleifte ihn fort, hinter das Zelt zu den Gefallenen. Dort lagen vier Männer, drei von ihnen mit Kopfschuß zwischen den Augen: zur Strecke gebrachte Opfer des Scharfschützen.
Der Arzt war unterdessen mit Huttunen beschäftigt; er hielt das Unmögliche nicht für möglich. Huttunen sollte sich auf den Tod gefaßt machen, da er nun einmal noch nicht gestorben sei. Der endgültige Tod könne jeden Moment eintreten, leise und unbemerkt. Mäenpää kroch ins Zelt zurück.
Was krauchen sie hier herum, fragte der Arzt.
Wenn ich den Kopf einziehe, sterbe ich, sagte Mäenpää, von seinen Ohnmachtsanfällen verwirrt. _ Und wenn ich ihn nicht einziehe, sterbe ich.
Der Arzt überließ Huttunen dem Sanitäter und befahl, ihm einen Verband zu machen. Er untersuchte Mäenpää. Er schüttelte den Kopf. Auch bei diesem Mann war nichts zu hoffen, jeden Augenblick konnte es soweit sein.
Es war bereits Nachmittag. Im Zelt gab es nur Huttunen und Mäenpää. Ein friedlicher Nachmittag, es konnte einem so vorkommen, als habe es auf der Welt immer nur diesen Nachmittag gegeben. Sie lagen nebeneinander auf Matratzen, durch die Zeltwände schien Gottes schöner Tag. Sie warteten. Huttunen begann ein leichtes Ziehen im Kopf zu spüren, er sagte es Mäenpää. Etwas später begann das Ziehen auch bei Mäenpää.
Erst nach einem Monat kamen Huttunen und Mäenpää zu ihrer Einheit zurück. Sie waren von einem klugen Doktor untersucht worden, der den Grund für ihre Unsterblichkeit wußte. Das habe es auch schon früher, im ersten Weltkrieg gegeben, daß ein Mann, dem es an der empfindlichsten Stelle im Kopf den Schädel durchgeschlagen habe, am Leben geblieben sei. Es mußte im Gehirn einen für Kugeln passierbaren Kanal geben, eine Zone, die gegen durchschlagende Kugeln immun war. So mußte es sein.
Ein übertrieben scharfer Schütze war das. Schießt dem Huttunen und dem Mäenpää durch den Kopf, haarscharf am Kopf vorbei.


Laubacher Feuilleton 11.1994, S. 12 und 13

Die Erzählung wurde von Manfred Peter Hein aus dem Finnischen übersetzt (Veijo Meri novellit, 1965)

Zitiert nach: Moderne Erzähler der Welt — Finnland, Horst Erdmann Verlag für internationalen Kulturaustausch, Tübingen und Basel 1974, Seiten 219–229, Die Rechte liegen beim Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, der diese und weitere Erzählungen 1967 in der Bibliothek Suhrkamp veröffentlichte. Ihm nochmals Dank für das immer freundliche Entgegenkommen bzw. die Nachdruckgenehmigung.

 
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