Kopfjagd

Wo sieht man die Ohrläppchen der Stars hautnah? Was verbindet den Bildjournalismus mit der Guillotine? Wie steht die Wachsfigur zur Französischen Revolution? Wo erscheinen greifbare Bilder nach dem Leben als Bilder nach dem Tod? Man muß wenigstens einmal bei Madame Tussaud's gewesen sein.

Die Party mit Hitchcock und Humphrey Bogart spielt im Wintergarten, die Beatles sind noch jung, und wir bewegen uns im Bühnenbild zur immerwährenden Oscar-Verleihung. «Ist der auch aus Wachs?» frägt ein Bub und zeigt auf den indischen Wärter. Der kennt das, rührt sich erst nicht, deutet dann auf mich und sagt: «So wenig wie dieser Gentleman.» Ich halte still und beobachte den Buben, der mich beobachtet. Sein prüfender Blick wandert zwischen mir, Agatha Christie und seiner Mama hin und her. Er reduziert mich für einen Augenblick auf die bloße Außenseite, und ich empfinde eine Art metaphysischen Schrecken.

Der Mensch aus Wachs ist ein Ding. Während die Elektronik die Körperwelt entmaterialisiert, verkörpert die Wachsfigur den Schein. Die namhafte Person steht leibhaftig im Raum, doch ihrer leblosen Gegenwart fehlt die Aura und der Abstand. Sie existiert in einem ontololischen Zwischenraum: weder ein Lebewesen noch dessen Leiche, weder eine Skulptur noch ein Produkt technischer Medien. Sie läßt den Voyeur an ihre Oberfläche heran: an die Falten, die Pickel, die Narben, die Poren mit den rasierten Barthaaren, die Haaransätze, Tränensäcke, Nasenflügel, Lippen, Handlinien und Fingernägel. Manchmal wurde die Wachsoberfläche weniger glatt gestrichen, dann sieht die Haut grindig aus. Diese Bloßstellung gilt für Picasso wie für Hitler, der abgesondert auf einem Treppenabsatz zwischen Nobel-Etage und Horror-Keller steht. Jeder Besucher, heißt es im Museumsführer, «hat die Freiheit, ohne Furcht oder Verlegenheit hinzuschauen und seine Bemerkungen zu machen».

Die Auserwählten sitzen für ihr Porträt meist gerne Modell, wozu die Wachsartisten in alle Welt reisen. Unter den Verweigerern wird nur Picasso genannt, denn auch Rembrandt habe nicht Modell gestanden und sei trotzdem ähnlich. Die kurzlebige Prominenz verschwindet wieder aus der Schau, die langlebige wird nachgebessert. Churchill brachte es auf dreizehn Porträts. Die Thatcher stand erst als eiserne Lady, dann lächelte sie, dann kam der nächste Premier an ihre Stelle. Mit der Zeit wirken die Figuren so, wie sie werden: abgestanden. Hausphotographen oder eigene Kameras sollen diesen Rückstand aufholen. «Picture yourself with the Famous.» Das Photo hält die Gleichstellung fest. Eine Fiktion zweiten Grades hebt den Normalmensch und den berühmten Wachsmensch auf dieselbe Stufe: ich und Kohl.

Reliquien sollen die Aura ersetzen, die der Simulation fehlt. Souvenirs werden gesammelt, und die Stars spenden gelegentlich aus ihrer Garderobe. Liza Minelli soll ein Paar ihrer falschen Augenwimpern gegeben haben, um echter auszusehen. Sadat schickte den Anzug, den er bei seiner Präsidenten-Vereidigung trug, Reagan immerhin eine Krawatte. Während das Wachsbild die Augen täuscht, muß man bei den Requisiten darauf vertrauen, daß die Herkunftsangabe stimmt, die sich auf Bürgschaften und Gutachten stützt. Da der Blick aus nächster Nähe das prominente Gesicht entzaubert, verlagert sich der Bildzauber auf den Kult mit den Erinnerungsstücken. Die geköpften Köpfe Ludwigs des XVI. und der Marie Antoinette wurden nach ihren Totenmasken gegossen, das Blatt der Guillotine ist authentisch, die Blutkruste künstlich. Dieser Verbund von veristischer Imitation und historischem Objekt scheint von Anfang an das Erfolgsrezept des Unternehmens gewesen zu sein, das heute weit über zwei Millionen Besucher jährlich anzieht.

Marie Grosholtz, die spätere Madame Tussaud, war mit neunzehn an den Hof nach Versailles gekommen, um die Königsschwester im Zeichnen zu unterrichten. Sie lebte dort neun Jahre lang bis zum Ausbruch der Revolution. Der König ließ sich und seine Familie von ihr in Wachs porträtieren.
Am Vormittag des 21. Januar 1793 wurde Ludwig XVI. auf der späteren Place de la Concorde enthauptet. Am Nachmittag kamen die Leichenteile auf den Friedhof der Madelaine. In der Zwischenzeit mußte die junge Frau im Auftrag der Nationalversammlung die Totenmaske abnehmen.

Kurz nachdem der Henker das Haupt von Gottes Gnaden vor den Zuschauern hochhielt, wie man es von den Stichen kennt, stand sein Double aus Wachs zur allgemeinen Besichtigung. Aus der Trophäe der Revolution wurde eine Attraktion des bürgerlichen Showgeschäfts. Die Kernstücke der epochalen Hinrichtung von 1793, die jetzt am Eingang des ‹Chamber of Horror› dekoriert sind, setzten für den Schnitt zwischen Ancien Régime und Moderne ein prägnantes Zeichen, das über den Grusel-Effekt hinausgeht. Dieses Objekt aus Kopf und Beil zeigt schlagartig, schockierend und historisch genau, wie sich die neue Epoche in Szene setzt. Die distanzlose Publikation beruft sich auf das Interesse der Öffentlichkeit, berechnet die Wirkung, macht die Arbeit professionell und orientiert sich am Markt.

Als neues Masenmedium entwickelte sich die Wachsfigurenschau mit der Französischen Revolution. Die Porträtköpfe wurden nach der Tagesaktualität ausgestellt, und die Tagesaktualität kam vor allem von der Guillotine, die der Wohlfahrtsausschuß in Gang hielt. Ruhm und Horror nährten eine neue Form des Bildjournalismus. Er zeigte die kurzlebigen Helden und Opfer in den Geburtswehen der modernen Gesellschaft; oft waren es dieselben Personen. Dem schnellen Wechsel der Ereignisse paßte sich das Unternehmen an so gut es ging.

Die Wachsfigur stammt als Zwitterwesen aus einer rituellen und einer wissenschaftlichen Tradition: dem Totenkult und der Anatomie. Im Alten Rom gehörten Wachsporträts aus der Familiengeschichte zur Bestattungszeremonie der Patrizier. In England zeigten die königlichen Leichenzüge seit dem 13. Jahrhundert den Monarchen lebensecht in Wachs. Einige Figuren sind erhalten und im Museum von Westminster Abbey zu besichtigen. Als Voltaire 1791 starb, ehrte das Revolutionsregime den Heros der Aufklärung mit einer gewaltigen Apotheose. Der Maler David führte Regie, Theaterleute besorgten die Ausstattung. Nach dem Vorbild des republikanischen Rom krönte eine Wachsfigur den Triumphzug. Zwölf Rosse zogen den Wagen mit Voltaire auf römischer Liege in antiken Falten und freiem Oberkörper, aber es goß und die Farbe löste sich auf. Voltaire hatte schon der siebzehnjährigen Marie Grosholtz für sein Bildnis gesessen.

Ihre Geschichte beginnt in Bern. Dort unterhielt der schwäbische Arzt Dr. Philippe Curtius eine Musterschau mit anatomischen Modellen und Wachsporträts. Als Haushälterin holte er eine junge Soldatenwitwe mit ihrer zweijährigen Tochter Marie. Dann rief Prinz Conti den Modelleur mit Anhang an seinen Hof nach Paris, wo der Salon des aufgeklärten Royalisten als Treffpunkt europäischer Prominenz galt. Curtius diente dem Ruf der Hofhaltung mit seinen Porträts und bekam Aufträge. Madame du Barry, die letzte Mätresse Ludwig XV., blieb als Wachsfigur aus dieser Zeit erhalten und ist noch heute als ‹Sleeping Beauty› in London ausgestellt.

1770 eröffnete Curtius unter den Arkaden des Palais Royale der Salon de Cire, das erste kommerzielle Museum für Wachsfiguren. Das Geschäft lief so gut, daß es bald in ein eigenes Haus im neuen Vergnügungsviertel am Boulevard du Temple umziehen konnte, das neben dem Unternehmen von Philip Astley lag, der in London den Circus begründet hatte. Der promovierte Schausteller Curtius balancierte zwischen dem Straßenpublikum, den Gönnern der Hocharistokratie, den neuen Freunden von der Linken, und er steuerte seine volkstümliche Show geschickt durch das profitable Chaos der Revolutionszeit. Sein Türsteher wechselte mit der Staatsmacht die Uniform: vom königlichen Wachmann zum bürgerlichen Nationalgardisten und zum proletarischen Sansculotte. Zu Hause bewirtete er Aufklärer und Revolutionäre von Rang und Namen: Rousseau, Voltaire, Benjamin Franclin, Mirabeau, Danton, Marat, Robespiere, David. Er hatte Marie Grosholtz von Kind an unterrichtet und knapp vor der Wende aus Versailles zurückgeholt. Jetzt lebte sie in der neuen Gesellschaft, nahm Masken von den Gästen und mußte später einige dieser Köpfe nach dem Schafott noch einmal abformen.

Am 12. Juli 1789 lief eine Menschenmenge im Garten des Palais Royal zusammen, um gegen die Entlassung des Finanzministers und die Ausweisung des aufsässigen Herzogs von Orleans zu protestieren. Man forderte von Curtius ihre Wachsbüsten, steckte sie auf und trug sie als Fetische des Aufruhrs durch die Straßen. Eine Abteilung deutscher Söldner gab Feuer, die beiden Kopfträger fielen. «Ich kann zu meiner Ehre sagen», erklärte Curtius später, «daß die erste Handlung der Revolution bei mir geschah.» Zwei Tage später war er beim Sturm auf die Bastille an vorderster Front.

Im September trug man wie vorher die beiden Wachsköpfe die guillotinierten Köpfe des Handelspräfekten und des Präfekten der Bastille durch die Straßen. Kurz nach diesem Umzug konnte man sie als Wachsrepliken bei Curtius sehen. Sein Nachbar Philip Astley bestellte Duplikate. So kam gleichzeitig mit der Nachricht der ersten Exekution von Amtsträgern die Kopfnummer im Londoner Circus. Die Konjunktur des Terrors belebte das Geschäft, und Marie mußte bei der Produktion ihren Mann stehen.

Mit einer Horror-Situation erlebte die Geschichte der melodramatischen Schau ihren melodramatischen Höhepunkt. Unter den Gefangenen von Versailles befand sich die Prinzessin von Lamballe, die den Hofhaushalt geleitet hatte. Das Volkstribunal machte kurzen Prozess, man stieß sie vom Gerichtssaal auf die Straße. Der Mob zerstückelte ihren Körper und hielt Kopf und Brüste vor das Kerkerfenster von Marie Antoinette, mit der sie ein Verhältnis gehabt haben sollte. Fünfzig Jahre später memorierte Madame Tussaud in der dritten Person: «Die wilden Monster standen über ihr, während sie, zitternd vor Entzetzen, gezwungen wurde, eine Gipsform von den Resten der Prinzessin zu nehmen, gewohnt, sie in ihrer Liebenswürdigkeit strahlen zu sehen.»

Curtius starb zwei Jahre später, er hatte Marie das Unternehmen vermacht. Zunächst hielt sie sich noch. Napoleon, inzwischen Erster Konsul, gönnte ihr 1799 eine halbe Stunde. Aber das Geschäft ließ nach und sie schloß mit einem Halsabscheider aus der Branche einen Vertrag, der sie fast ruinierte. 1802 ging sie mit ihrem vierjährigen Sohn, dreißig Wachsbildern, Formen, Requisiten und Souvenis nach England. Sie konnte sich schließlich selbständig machen und tingelte drei Jahrzehnte mit wechselndem Erfolg durchs Land, bis sie sich mit vierundsiebzig Jahren in London niederließ. Sie starb 1850 mit neunundachzig, im Jahr vor der ersten Weltausstellung mit dem spektakulären Glaspalast im Hyde Park.

Das Konzept der Schau folgte der Lebenserfahrung und den Publikumswünschen. Personen und Erinnerungsstücke zeigen die historische und die zeitgenössische Prominenz, Physiognomie und Outfit müssen stimmen. Im Mittelpunkt steht die Französische Revolution, Könige und Königinnen vertreten die übrige Geschichte. Populäre Würdenträger und populäre Verbrecher werden auf dem aktuellen Stand gehalten. In einem Milieu von Prunk und Glamour soll sich das viktorianische Publikum gehoben fühlen, sich bilden und unterhalten. 1846 verspricht ein Inserat die «großartige Ausstellung von Hofgewändern, um den Mittelklassen eine Vorstellung des königlichen Glanzes zu geben». Nur der ‹Punch› erinnert dabei an die Hungerkatastrophe in Irland, die eine Million Menschenleben kostete, und verlangt «Beispiele der irischen Bauern, der Weber und anderer Gruppen der hungernden Bevölkerung in ihrer abgerissenen Kleidung».

Im Vorraum zur ‹Grand Hall› in ‹Madame Tussaud's› an der Marylebone Road steht man vor einem Salon in Versailles: Marie Groshotz porträtiert die Königsfamilie. Wenige Schritte, und man trifft die Frau wieder: Madame Tussaud mit einundachzig, ein Selbstbildnis aus der Zeit der ersten Lichtbilder, eine fast zwergenhaft schmächtige Gestalt in Schwarz, grimmig, unter den weißen Rüschen ihres Häubchens eine ungeheuere Nase. Sie steht am Kopfende des großen Saals in der Mitte einer erhöhten Estrade. Von dort blickt die Alte über die Flucht der Könige, Königinnen und modernen Staatsleute. Der ornamentale Grundriß der Aufstellung ordnet alle ein. In dieser geschichtslosen Versammlung gleichen sich die Großen von früher und die von heute in ihrer Leichenstarre. Am anderen Ende der Halle, gegenüber der Madame, posiert die Royal Family wie für den Hofphotographen. Die Gruppe steht auf einem Podest, Balustraden halten das Publikum in gebührendem Abstand: nur das englische Königshaus bleibt unantastbar.

Wie eine mythische Ahnfrau der Mediensimulation herrscht die greise Madame Tussaud über den Ruhm der Berühmten und die Macht der Mächtigen.


Thomas Zacharias

Dieser Essay war vom Autor verfaßt für das Laubacher Feuilleton 20.1996. Er geriet wegen des Überangebots des Verfassers in den Stehsatz, wurde jedoch nicht mehr gedruckt, da unser Blättchen ins Jenseits kam. Es handelt sich also quasi um eine ‹posthume› Erstveröffentlichung.
 
Di, 01.05.2012 |  link | (1543) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Historisches



Monte Carlo

Geschichte der Spielbank (Teil 2) [Teil 1]

Gründung und Organisation der ‹Société des Bains de Mer et du Cercle des Étrangers.›

Im Oktober 1883 schloß Graf Bertora als Bevollmächtigter mit Charles III. einen Vertrag, kraft dessen die Konzession der Spielbank, auf weitere 30 Jahre prolongiert, vergeben wurde. Das bis dahin Blanc'sche Unternehmen wurde im März 1883 in eine Aktien=Gesellschaft unter dem Namen ‹Société des Bains de Mer et du Cercle des Etrangers› umgewandelt, und die Statuten der neuen Gesellschaft von Charles III. unterm 15. März genehmigt. Das Stamm=Kapital wurde auf 30 Millionen, eingeteilt in 60 000 Aktien à 500 Frks., fixiert. Die Aktien genießen eine feste 5% Verzinsung und partizipieren außerdem an der alljährlich zu verteilenden Superdividende, deren Höhe einzig und allein von den Direktoren festgesetzt wird. Das Geschäftsjahr läuft vom 1. April des Jahres bis 31. März des folgenden. Innerhalb der ersten vier Monate nach Ablauf eines jeden ‹Spieljahres› hat der ‹Conseil d´Administration› die nach kaufmännischen Grundsätzen aufzustellende Inventur und Bilanz sowie das Gewinn= und Verlust=Konto der ‹General=Versammlung› vorzulegen.

Die Teilnahme an diesen ‹General=Versammlungen› ist jedoch laut § 30 der Statuten nur denjenigen Aktionären gestattet, die mindestens über 100 Aktien = 50 000 Frks. nominell, verfügen! Man kann sich darnach wohl ungefähr vorstellen, wie diese ordentlichen ‹General=Versammlungen› frequentiert sind und wer die Beschlüsse zu Wege bringt. Das ‹Einladungsschreiben› zu einer solchen ‹Generalversammlung› hat folgenden Wortlaut: SOCIETE ANONYME DES BAINS DE MER ET DU CERCLE DES ETRANGERS DE MONACO. Messieurs les actionnaires sont convoqués en Assemblée générale ordinaire le samedi vingt-huit avril prochain, à deux heures de revelée, au siège social à Monaco.
L´Assemblée se compose de tous les porteurs de cent actions ayant déposé leurs titres au siège social au moins huit jours avant la réunion de l´Assemblée.
Nul ne peut se faire représenter à l´Assemblée que par un mandataire, membre de l´Assemblée.

Bei Gründung dieser lukrativen Aktiengesellschaft verfuhr man, wie folgt: 5000 Aktien erhielt der Fürst von Monaco; 4200 Edmond Blanc; 4000 Camille Blanc; 4000 Prinz Roland Bonaparte; 4800 Fürst Radziwill; 2000 Graf Bertora; 2000 Henri Wagatha; der Schwager der Madame Blanc. Ferner erhielten die ‹Société Immobiliare de Nice›, welche bei der Kapitalisierung des Unternehmens hervorragend engagiert war, mehrere Banquiers und Journalisten, der Maire de Nice, Mr. Boniglione, und einige einflußreiche Deputierte für ihre ‹Mühewaltung› eine Anzahl Aktien, sodaß im Ganzen etwa die Hälfte untergebracht war. Der noch verbleibende Rest von 30 000 Stück wurde dem Publikum angeboten und schnell gezeichnet. Das eigentliche Betriebskapital beträgt somit nicht 30, sondern nur 15 Millionen Frks. und blieb es bis zum Jahre 1897. Im November 1897 schloß die ‹Société des Bains de Mer› einen neuen 50jährigen vertrag ab, kraft dessen die Konzession bis 1948 währt. Dieser Vertrag, der den alten, nur bis 1913 laufenden annuliert, machte die Ausgaben neuer Aktien à 300 Frks. nötig, um den neu übernommenen Verpflichtungen nachkommen zu können. Die ‹Generalversammlung› genehmigte daher, weitere 100 000 Aktien auszugeben und übertrug alles Weitere dem Präsidenten Mr. Camille Blanc. Der ‹Neue Vertrag› legt der ‹Gesellschaft der Meerbäder› außer den alten Lasten noch folgende besondere Abgaben, resp. Verpflichtungen ob:

1. an die fürstliche Kasse im Laufe des Jahres 1898 zu zahlen 10 Mill.
2. im Laufe des Jahres 1914 weitere 15 Mill.
3. für moderne Hafenbauten, Kanalisation etc. 5 Mill.
4. für ein neues Theater (Opernhaus) 5 Mill.

Ferner ist vorgesehen, daß, wenn der jährliche Reingewinn 25 Millionen übersteigen sollte, der Ueberfluß mit 5% zu versteuern ist! Wem schwindelt da nicht bei diesen gewaltigen Zahlen, Ziffern, die hinreichten, einigen Tausenden fleißiger Menschen eine Existenz zu schaffen. —

Nun noch einige Worte über die Organisation dieser ‹behördlich protokollierten Spielbank auf Aktien›. An der Spitze des Unternehmens steht der ‹Conseil d'administration›, der Verwaltungsrat, der sich aus vier Mitgliedern, von welchen jedes über 400 Aktien = 200 000 Frks. nominell verfügen muß, und dem ein Präsident, (z. B. Camille Blanc) vorsteht. Dieser Verwaltungsrat wird auf 6 Jahre gewählt, doch muß sich die ‹Hälfte› seiner Mitglieder alle 3 Jahre einer Neuwahl unterziehen. Es ist dies der oberste und der ‹einzigste Rat›, und von seinen Dekretierungen, gegen die es keinen Rekurs giebt, hängt Wohl und Wehe des gesamten Unternehmens ab. Selbst der der Gesellschaft beigeordnete fürstliche Kommissar, der die Rolle eines ‹Ministre du jeu public› mit ziemlich viel Würde vertritt, hat keinen Einfluß auf die Verfügungen dieses allmächtigen Rates, denn es ist eine ‹Conditio sine qua non›, wonach die Spielbank bei allen Beratungen immer ein ‹noli me tangere› bleibt! Jede Woche tritt dieser ‹Rat› zu einer ‹Sitzung›, bei der gewöhnlich zwei Drittel der Mitglieder durch Nichterscheinen glänzen, zusammen, um sich in Verwaltungssachen zu beratschlagen. Mitglied dieses ‹Rates der Viere› zu sein, ist aber nicht nur ein hohes Ehrenamt, sondern auch ein höchst lukratives, indem dieselben außer ihren Diäten noch 2% als Tantieme vom Reingewinn, ungefähr ca. 50 000 Frks. à Person beziehen. Wahrlich ein beneidenswertes Einkommen. Alle höheren Chargen können nur mit Zustimmung dieses Rates ernannt werden. Der ‹Conseil d´administration› ernennt den ‹Generaldirektor›, der die laufenden Geschäfte zu erledigen hat, die beiden ‹Direktoren›, den ‹General=Adminitrator›, die verschiedenen ‹Administratoren› etc. Den Posten eines General=Direktors bekleidet z. Zt. Mr. George Bornier, der vom Roteau an sich zu dieser hohen Stellung emporgeschwungen hat. ‹Generaladministrator› ist z.B. Mr. Frédéric Wicht, ein geb. Friedrichsdorfer (Taunus), der diesen fetten Posten seit Jahren bekleidet. Die niederen Aemter werden durch den General=Direktor nach eigenem Ermessen besetzt.

Ueber die ‹Administration des Spiels› und ueber Gewinn und Verlust der Spielbank werden wir noch an anderer Stelle Gelegenheit haben, ausführlich zu referieren.

Nun noch ein Wort ueber den Stand der Aktien dieses Unternehmens. Bereits gleich nach der Emission (1883) machte sich eine langanhaltende Hausse geltend, und der Kurs stand 1894 bereits auf 2500. Dann fielen die Papiere 1895 infolge der ‹ungünstigen Konjunktur› auf 1800, doch erholten sie sich sehr schnell und standen bereits im März 1897 wieder auf 2340. Heute — 17. Dezemder 1898 — stehen sie sogar offiziell laut Kurszettel auf 4400, ein einzig in den Annalen der ‹Société des Bains de Mer› dastehender Fall!

Man sieht, es fehlt dem Unternehmen an nichts. Wie unter Francois Blanc´s väterlicher Leitung nie eine Stagnation im Betiebe eintrat, so hat auch das neue Regime noch keinen finanziellen Mißerfolg zu verzeichnen gehabt. Wenn auf allen wirtschaftlichen Gebieten von Jahr zu Jahr eine immer größere Depression um sich greift, die weitere Kreise in Mitleidenschaft zieht, so kann man dies von der Bank nicht behaupten. Im Gegenteil, Monte Carlo und seine ‹Aktiengesellschaft für Ausbeutung der Spielwut› prosperiert von Jahr zu Jahr mehr!

Fritz von der Elbe
Über den Autor sind uns keine Einzelheiten bekannt.


Laubacher Feuilleton 14.1995, S. 15


Aus: Monte Carlo, Indiskretionen und Erlebnisse aus einer Spielhölle, Druck und Verlag von Wilhelm Köhler, Minden i. W., circa 1900, Seiten 13-18; wird fortgesetzt

 
Mi, 23.03.2011 |  link | (1822) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Historisches



Baltische Vergangenheit

Brief aus Tallinn

Mein Lieber,
entgegen meiner ansonsten sparsamen Art vernichte ich die ersten eineinhalb Lagen des Toilettenpapiers, seit sich weltweit diese Unsitte eingebürgert hat, daß Blatt eins der neuen Rolle vom Roomservice der ‹guten› Hotels manuell — wie auch sonst? — durch je einen Falz links und rechts spitz zulaufend markiert wird. Wie entsteht solch ein globaler Standard?

Recherchiere selbst, wenn Du willst, bastle Deine eigenen Theorien, und lass' mich ein wenig von einer Ausnahme erzählen, dem etwas anderen Hotel: Hotel Melluzi in Jurmala, nahe Riga, in Lettland, mit Platz für gut hundert Gäste. Manche der Zimmer im Melluzi haben Klavier, und im Untergeschoß wartet ein Konzertsaal. Konferenz- und kleinere Sitzungsräume sind ebenso vorhanden wie Billardzimmer, Sauna, Bars, ein ‹Indoor-Pool› im Tiefgeschoß, zwei große Bassins draußen, und nur vier Minuten zu Fuß ist es zum wunderschönen, mal mild, mal wild bewachsenen Dünenstrand am Mare Balticum. Hier hatten traditionell die verdienten Staatskünstler aus dem Musikfach ihren Ort für Muse, Erholung, Übung und Austausch — ohne Plantschbecken und Kinderstühlchen. Die Genies blieben schöpferisch unter sich. Leistung pur wurde gefördert.

Heute, privatisiert, steht das Haus offen für alle, stechen mehr als andere die Unzulänglichkeiten ins Auge. Damals hingegen, flexibel Mängel antizipierend, bot dem Gast allein die Tatsache des Vorhandenseins von, sagen wir: Hygienepapier Anlaß zur Freude. Wir aber mosern, meckern, stöhnen, weil die Vorrichtung für obige Klopapierrolle — gleich höre ich auf mit Details dieser Art — noch immer hängt, wo sie ursprünglich angebracht worden war — haargenau hinter dem potentiellen Nutzer, halb verdeckt vom von der Wand abgesetzten Spülkasten: ergonomisch katastrophal, ohne ärglichen Positionswechsel unmöglich zu erreichen. Und ebenso unmöglich ist eigentlich der gesamte Service im Melluzi.

Eigentlich, sage ich, denn es geht auch anders, nämlich dann, wenn der Gast mit Geduld und Einfühlungsvermögen, sanft im Ton, aber bestimmt, eindeutig und klar in der Sache sagt, was er will. Die Wiederholung der Zeremonie am nächsten Tag kann nötig, manchmal aber auch schädlich sein, denn das Personal, einschließlich Managment, in diesem Hotel gehört, zumindest mental, noch zum alten Regime. Es gehört zugleich zu den russischen Minderheiten in Lettland — rund 30 Prozent von 2,5 Millionen Einwohnern.

In puncto Service hat im Melluzi die Privatisierung nicht viel verändert. Allerdings gibt es zwischenzeitlich hie und da Versuche der Modernisierung im Hause. Haltet ein! hätte ich den Leuten zurufen sollen. Laßt den Laden, wie er ist: ein bewohnbares Museum, ein offenes Buch zur haptisch sinnenhaften Anschauung sowohl für Nostalgiker des Sozialismus als auch für dessen beträchtlich gewachsene Anzahl an Kritikern. Eine enorme Marktlücke ist, wäre das. Und wer dann genug hat vom Schwärmen respektive Schimpfen, geht einfach hinaus durch die quietschenden Glasflügeltüren — nach Jurmela.

Jurmela, nach Erzählungen und alten Photographien, ist anmutig schön gewesen — und fast schon wieder geworden, obwohl die nach der Unabhängigkeit von 1991 an die Alteigentümer zurückgegebenen Sommerhäuser in ihren tiefen, grünen Gärten zunächst einmal vernagelt wurden. Möglichst schnell sollte auf Betreiben des Nachwuchses der Vorkriegsgeneration Schluß sein mit dem Alten. Jurmela ging in den Ausverkauf, wurde eingetauscht gegen den Herzenswunsch, einen westlichen Mittelklassewagen, leider nur gebraucht. Aber schon die nächste Eigentümerwelle hat wieder Zeit für die Freizeit, Liebe fürs Traditionelle und ordentlich Geld, um die Holzpracht aus Erkern und Türmchen, Veranden und Sprossenfenstern wieder auferstehen zu lassen. Woher das Geld dazu kommt? Wie früher! Aus der Tiefes des Raumes.

Einen kleinen Blick in den Raum, wie er war, gibt das Verzeichnis der Poststationen, das ich dem ‹Revalschen Kalender auf das Jahr nach Christi Geburt 1853, welches 365 Tage hat› entnehme. Von Riga nordwärts sind es zwanzig Werste bis Rodenpois, dreiundzwanzig bis Engelhardshoff und so weiter über Roop, Lenzenhoff, Wolmar, bis die nächstgrößere Stadt, Pernau, nach zweihundervierunddreißig ein Viertel Wersten erreicht ist. Bis Reval kommen weitere einhundertsechsunddreißig ein Viertel Werste hinzu. Und dann, zweihundertsiebzehn und ein Halber weiter nach Osten, liegt Narva. Die Straße dorthin führt über Namen wie Jegelecht, Kahal, Loop, Hohenkreuz, Fockenhoff, Waiwara. Schließlich, nach weiteren einhundertzweiundvierzig Wersten, rollt die schnelle Kutsche in Sankt Petersburg ein. Im Vergleich zur heutigen Strecke hat sie dann umgerechnet weit über hundert Kilometer mehr zurückgelegt (ein Werst = eins Komma nullsechssieben Kilometer), offenbar weil die genannten Orte wichtig genug waren, um sie mit der Ferne zu verbinden.

Zweimal die Woche, Donnerstag und Sonntag, kamen die Posten aus St. Petersburg und Riga nach Reval, heute Tallinn, die Stadt, aus der ich Dir schreibe. Briefe von hier gingen regelmäßig in die Welt. Das Loth, rund 12 gr, kostete — wieder laut revalschem Kalender — zweiundzwanzig Kopeken nach ‹Preußen nebst den übrigen zum deutschen Bunde gehörenden Staaten, wie auch nach den Hanse=Städten Hamburg, Lübeck und Bremen›. Für Briefe in die Schweiz, nach Dänemark, in die Niederlande zahlte man um die dreißig, für Italien nur zehn, Constantinopel zweiundvierzig, in die englischen Besitzungen in Amerika dreiundachtzig drei Viertel Kopeken.

Die Orte, die wir soeben berührt haben, sind ein Bruchteil des Netzwerkes, das die baltischen Hansestädte zu Lande, über Straßen und Flüsse und weiter über Seen und Meere geknüpft hatten. Zugleich fand die Tiefe des Raumes in der Nähe statt, im Zickzack der Kutsche, und mehr noch, im Zusammenspiel verschiedener Kulturen: Russische Kopeke zahlt preußisches Loth, Pferde aus deutsch klingenden Orten legen Werste zurück. Und Feiertage, so sagt unser Kalender, ‹an welchen in sämtlichen Gerichtsbehörden keine Sitzungen gehalten und in den Schulen kein Unterricht ertheilt wird›, huldigen russisch-orthodoxer Herrschaft, gepaart mit christlichem Glauben. Beispiel April: ‹Den 16. Gründonnerstag. Den 17 Charfreitag. Geburtsfest Sr. Kaiserlichen Hoheit des Thronfolgers Cesarewitsch und Großfürsten Alexander Nicolajewitsch. Den 18. Sonnabend in der Marterwoche. Den 19. bis zum 25. die ganze Osterwoche. Den 23. Namensfest Ihrer Majestät, der Kaiserin Alexandra Feodorowna.›

Ich will nicht behaupten, daß die eingeborenen Völker im Baltikum den Mischmasch liebten. Unabhängig wurden sie erst im 20. Jahrhundert, von 1920 bis 1940 und neuerlich seit 1991. Vorher blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich an das Neben- und partielle Miteinander zu gewöhnen, seit im frühen 13. Jahrhundert der deutsche Schwertbrüderorden das baltische Heidenland christianisierte. Aber anders als zum Beispiel in Nord- und weiten Teilen Südamerikas blieben hier die verschiedenen Eroberungen, angefangen von den Deutschen, abgelöst von Dänen, Polen, Schweden und russischem Zarenreich, unvollständig. Natürlich waren die Kriege selbst komplett, voller Leid und Elend, aber den fremden Kriegern auf dem Fuße folgten eben nicht die (Bauern-)Massen. Die Balten, schlimm genug, blieben Untertanen und mußten wechselnden Fremdherrschern dienen. Aber immerhin, sie konnten bleiben, wo sie waren, und Elemente ihrer Kultur, insbesondere ihre Sprache, bewahren. Erst als die baltischen Staaten gezwungenermaßen Bestandteil der Sowjetunion wurden, begann eine wirklich rigorose Russifizierung.

Ähnlich ‹unvollständig› wie lange Zeit für die Einheimischen verlief die Geschichte auch für die Baltendeutschen. Sie blieben — oder kamen nach den ersten Wirren der verschiedenen Machtwechsel zurück, und auf ihre lokale und intellektuell-kulturelle Führung setzten letzlich auch die Zaren. Peter der Große hat die baltischen Provinzen als das russische Fenster zum Westen betrachtet. Es galt, den hier in den Osten vorgeschobenen Westen als Impulsgeber für Rußland zu nutzen. Die Deutschbalten mittendrin, waren das Verbindungsglied. Eines der Instrumente des Transfers mit Rußland war die weithin deutschsprachige Universität Dorpat, und als Ordnungselement wurden Teile des einmal eingeführten deutschen Rechtssystems weithin beibehalten. Zum Beispiel das von Lübeck kommende Lübische Stadtrecht wurde vor 750 Jahren in Reval eingeführt und erst 1940, mit der sowjetischen Okkupation, außer Kraft gesetzt.

Woher das Geld kommt, hatte ich oben gefragt und zum Anlaß genommen für eine kleine Reise in die baltische Vergangenheit. Die Zukunft von Estland, Lettland und Litauen liegt weiter in der Unvollständigkeit, daß die Völker nicht werden wie ihre westlichen oder östlichen Nachbarn und daß sie zugleich zwischen beiden vermitteln. Natürlich ist der Osten ziemlich out, das Vorbild West dominant. Schlank und nicht mehr wohlgenährt ist das Schönheitsideal. Abmagerungsclubs in Vilnius, Riga oder Tallinn fasten um die Wette, und statt Wodka kommt Johnnie ins Glas. Nach der Wende geblieben war zunächst einmal Staatseigentum, das die Leute ‹vergessen› hatten — wem auch? —, zurückzugeben und stattdessen als Grundstock für kapitalistische Übungen verwendeten. Edelmetalle, Hubschrauber, Fräs- und Zugmaschinen, Überlandkabel, Baumaterialien, Container voll mit Ersatzteilen von Russenlimousinen und Container als Container ... Der Handel kam wieder in Schwung, brachte Geld für Jurmela und andere Schönheiten, aber selbstverständlich auch für Zukunftsinvestitionen. Und was die neue Zeit nicht brauchen konnte, lagert und vergammelt in den Gärten. Nur nichts wegwerfen.

Der Kapitalismus als ehemals virtuelle Sensation, die per TV, via Finnland, über den Eisernen Vorhang kam, ist real geworden. Und trotz vieler Spannungen mit den Russen funktioniert das baltische Scharnier wieder recht ordentlich. Zum Wohle aller. Money talks, sprach neulich Minister Vare. Und während sein Parteifreund, der Abgeordnete Kubo, die Aktienkurse verfolgt, denkt er vielleicht an seinen kleinen Kartoffelacker, ohne den die Jahreszeiten unvollständig blieben. Ja, bleibt nur weiter ihr selbst. Gute Christen, die ihre Toten wie eh und je bei den Waldgeistern begraben

Rainer Willert


Kurzschrift 1.1999, S. 45 – 49
 
Mo, 09.08.2010 |  link | (1511) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Historisches



Maß(e) aller Dinge

Das 18. Jahrhundert war eine Epoche, in der die Wissenschaften enorme Fortschritte machten. Wissenschaftler unterschiedlicher Nationen waren in allen erdenklichen Gebieten aktiv und bemüht, eine neue, rationale Weltordnung zu schaffen.

Die französische Revolution hat in diesem Fall allerdings nicht die ansonsten eher hemmende Wirkung gehabt, im Gegenteil: Nach dem Sturz des Königreiches wollten die Republikaner nicht mehr mit Fuß-, Daumen- und Ellenmaß messen — gab es doch damals in ganz Frankreich mehr als 800 unterschiedliche Meßarten. Von Norden nach Süden, von einer Stadt zur anderen änderten sich die Maße, und noch ärger: ein und derselbe Begriff deckte häufig unterschiedliche Werte!

Die ‹Bürger› sollten alle mit identischen Maßen und Gewichten messen. Vier Kriterien hatten dabei Priorität: Stabilität, Unveränderlichkeit, Ewigkeit und Universalität. Das neue System sollte für alle Menschen inner- und außerhalb Frankreichs gelten. Und was war allen Bürgern der Welt gemeinsam und unveränderlich? Die Erdkugel. Alle Menschen seien gleichwertig, war der Ausgangspunkt, alle Längengrade seien es auch, und unter jedem verlaufe ein Längengrad — der Meridian.

Am 25. Juni 1972 verließen zwei Expeditionen Paris, mit dabei je ein Astronom: Delambre und Méchain. Die ‹Assemblie Nationale› hatte die beiden ‹accadémiciens› beauftragt beauftragt, den ‹Meridien de Paris› zu messen, bis Dünkirchen der eine und der andere bis Barcelona (vermutlich deshalb, da beide Städte auf Meeresniveau liegen).

Sieben Jahre — genauso lang wie die Erste Republik — dauerte es, bis die Messungen und Berechnungen den vierzigmillionsten Teil des Längengrades ergaben: den ‹Meter›, benannt nach dem griechischen ‹Metra›. Alle anderen Längenmaße sollten nun davon abhängen, und zwar nach dem Prinzip des Zehnersystems.

Zur selben Zeit arbeiteten in Paris Antoine Laurent de Lavoisier und René Juste Haüy an der Ermittlung des Gewichtsmaßes Kilogramm. Dabei sollten alle Maße ‹universal› sein, zumindest international. Auch die Maße des Mehrfachen wurden aus dem Griechischen entlehnt: hecto, kilo, myria, die Untermaße aus dem Lateinischen: deci, centi, milli — et cetera. Zur Prüfung der Berechnungen wurde eine Kommission gegründet, der Wissenschaftler aus verschiedenen europäischen Ländern angehörten. Und am 22. Juni 1799 wurden in Paris Meter und Kilogramm als allein gültige Maße feierlich ‹eingeweiht›.

Nicht beteiligt an der Suche nach den Maßen aller Dinge waren die Engländer. Das mag zum einen daran gelegen haben, daß sie die Umstellung der Längen- und Gewichtsmaße als Angriff auf die Monarchie empfanden. Sicherlich spielte dabei aber auch die jahrhundertealte Rivalität zwischen Frankreich und England eine Rolle. Nun existiert, fast 200 Jahre später, das englische Königshaus noch immer. Aber beim Messen gilt nun auch für die Briten: nicht mehr Pi mal Daumen oder Fuß ...

Martine Dallennes


Laubacher Feuilleton 20.1996, S. 15
 
Di, 26.01.2010 |  link | (1163) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Historisches



Eulenspiegeliana

Testament des Buchdruckergesellen Farkas Ivan, der sich als Till Eulenspiegel begraben ließ

Ad circulandum
An den
Verband der Graphischen Arbeiter in Rumänien
Filiale Temeswar

Liebe Kollegen!
Der Mensch ist sterblich. Darum ließ ich beim Königlichen Notar ein Testament anfertigen, wonach ich nach meinem Tode als Till Eulenspiegel begraben werde. Das Duplikat des Dokuments ließ ich der Leichenanstalt unserer Stadt übergeben, daß sie danach handeln soll. Als Buchdrucker will ich in einem Bleisarg im Kostüm des Till Eulenspiegel liegen und im Totenwagen senkrecht stehen, damit mich alle Welt also sehen soll. Bestattet werde ich auf dem Friedhof der armen Seelen, wo Huren, Selbstmörder, Einbrecher, Gesindel, Ehebrecher, Taschendiebe und Engelmacherinnen ohne Pfarrer am Vormittag um neun Uhr sang- und klanglos nur im Beisein der Totenvögel in die Erde gelassen werden. Anstatt einem Kreuz wird die Holzfigur des Till Eulenspiegel stehen in der unteren linken Ecke mit einem Täfelchen versehen, wo nicht mehr als Dein treuer Schüler Farkas Ivan stehen wird. Ins Grab soll man mich stehend hinablassen. Also will ich Jeglichen empfangen, der noch an mich denkt. Freilich in der rechten Hand halte ich mein zerlesenes Till-Büchlein, das mich so oft erfreute. Das alles wünschte ich, weil ich mich überzeugte, das menschliche Leben ist eine irdische Komödie, und also kann ich der Welt beweisen, daß ich auch als Toter sie erfreuen kann. Denn das war mein Motto. Sie sollen über mich lachen, sprechen, tadeln oder lachend eine Träne fallen lassen.

Das alles erledigte ich beim Königlichen Notar, deponierte die Summe aller Auslagen und mein Tagebuch, aus dem ich Euch nur einige Stellen zitiere aus meinen Erfahrungen mit dem Menschen.

Vor allem befaßte ich mich viel mit dem Eheleben und warum die meisten Leute unglücklich sind. Der Kapitalfehler ist, weil sie sich nicht zu lieben verstehen. Denn das nur Rein- und Rausziehen bereitet wenig Freude: das tiefe innere Erlebnis fehlt total. Meistens geht die Frau leer aus und sucht ein Leben lang nach Erfüllung. Der Mann hat immer sein Erlebnis. Darum habe ich mich schon bald nach meiner langjährigen Walz entschlossen, das Eheglück den jungen Menschen beizubringen. Mein Till-Kostüm hängte ich einstweilen an den Nagel. Der Bleistaub in der Buchdruckerei schmeckte mir nie, und darum habe ich mich mit einer tüchtigen und lebenserfahrenen Kupplereibesitzerin fusioniert, die neben ihren weiblichen Reizen auch spritzige Grütze im Schädel hatte. Sie gab das Etablissement auf, entließ alle weiblichen Angestellten und begann mit mir ein neues Gewerbe. Wir richteten uns eine gefällige Wohnung ein und begannen also zu agieren. Freilich steuerfrei, quasi als Freiberufler.

Vom Marktplatz brachte ich die Schüler. Junge, reiche Bauernkinder, deren Eltern unseren Kurs finanzierten. Wir lehrten sie lieben. Meine Partnerin übernahm die Mädchen, mir blieben die Bauernlümmel, die nur das kannten, was sie bei Pferden, Stieren, Ziegenböcken und Ebern sahen, das Reinschieben. Ohne jegliche Feinheiten zu kennen, die alles Liebesleben ausmachen. Es waren alles Rohlinge und Unerfahrene, die neben dem Eheleben gerne bei Hurengesindel den Ersatz suchten und glaubten, im Liebesgeschäft ginge es anders zu.

In sechs Wochen erfuhr jeder die feinsten Nuancen und lieblichsten Vorbereitungen im Ehebette.

Drüben bei meiner Partnerin ging es ebenso, und bald konnten wir uns rühmen, bei einer großen Hochzeit auf dem Lande zugegen zu sein, die auch nach Jahren fest gekittet blieb. Unser Schüler kam jedes Jahr im Herbst mit Kartoffeln und Wein ins Haus, um seinen Dank uns auszusprechen. Seine Frau, unsere Schülerin, wußte alle Firlefanzen bei ihm anzubringen, so daß er es niemals nötig hatte, eine Badhure aufzusuchen.

So blühte unser Geschäft, daß auch langjährige Eheleute uns beehrten. Freilich nahmen wir Mann und Frau separat, und bald erfuhren wir, was da alles versäumt wurde, und es gelang uns, die zwei Menschen wieder sich näher zu bringen. Die Frau ließ bei einem Heiligen eine Tafel in der Kirche anbringen, wo sie ihm für seine Hilfe dankt. Daß eigentlich ich dieser Heilige im Till-Kostüm war, konnte sie nicht begreifen, und ich vermied es, sie zu überzeugen.

Mein Till-Eulenspiegel-Kostüm trug ich bei jeder Stunde, wie das die Professoren in Eton mit der Robe tun. Schließlich lehrte ich ein Fach, das an keiner Hochschule unterrichtet wurde. Also konnte ich auch meinen Schülern die Hemmungen abbauen, wenn sie ihr Rundfleisch präsentierten. Ich hatte es im Meisterkurs soweit gebracht, daß beide Geschlechter vor mir und meiner Partnerin die Prüfung ablegten, darum vor uns, um eventuelle Korrekturen vorzunehmen, falls sie nötig gewesen wären. Das war aber sehr selten der Fall.

Da gab es einen Fall, wo der Bauernlümmel total der Onanie verfallen war. Wir brachten ihm eine gewiefte Meisterin guten Baues, die ihm in vier Lektionen die Onanie für alle Zeiten abgewöhnte. Der Arme wollte sie sogar heiraten, obwohl sie um einige Frühlinge älter war und einen Mann hatte, der wegen Kartenspiels sie oft glühen ließ ohne Heimgang. Der Bauernlümmel bezahlte sie gar fürstlich und heiratete unsere Sternschülerin, die ihn alles vergessen ließ und im Ehebett seine vorherige Partnerin bald übertraf. Auf seiner Hochzeit war er derart besoffen, daß ich einspringen mußte, um die Braut zu prüfen.

Also ging es zu, liebe Kollegen, ohne Blei zu schlucken. Und blicke ich heute auf alles zurück, so bin ich's zufrieden, denn ich lehrte die Menschen das, was, leider, keine Schule lehrt. Im Laufe der Jahre ist es nicht passiert, daß nur eine Ehe brach, sondern sie florierte wie am ersten Tag, nur mit anderem Umsatz, selbstverständlich. Meine Partnerin blieb mir treu, auch ohne Trauschein, behielt ihre schönen Formen durch Turnen und gute Bäder, persönlich blieb ich bei Sellerie und Schafskäse wie in meiner Jugend. Das Rezept der guten Nonne hielt brav das Geleit, so daß ich mich aufbauen konnte nach Belieben. Soviel aus meinem Tagebuch von diesem Kapitel, das ich für sehr wichtig halte und darum in mein Zirkular habe setzen lassen.

Auch diesmal verabschiede ich mich mit unserem schönen alten Gutenberg-Gruß: Gott grüß die Kunst!


Zusatz vom Sekretär der Graphischen Arbeiterorganisation:

«Am 28. Juli 1943 haben wir unseren Kollegen Farkas Ivan, als Ivan der Schreckliche bei uns bekannt, in der Josefstadt auf dem Friedhof der armen Seelen zur letzten Ruhe geleitet. Alles geschah so, wie er das beim Königlichen Notar hat festlegen lassen. Nämlich, sein Sarg stand senkrecht im Totenwagen; er war aus Blei, und Ivan als Till Eulenspiegel gekleidet stand darin. In der Hand hielt er den Farblöffel, das Symbol des Maschinenmeisters der Buchdrucker. Eine große Menschenmenge begleitete dieses sonderbare Begräbnis ohne Pfarrer und Ministranten. Die vier Rappen hatten auf dem Kopf eine Till-Narrenkappe mit schwarz-gelben Bändern, anstelle des üblichen Riemzeugs. Hinter dem Wagen schritt allein seine langjährige Partnerin in einem taubengrauen sackähnlichen Kleid. Ihr folgte ein unübersehbares Geleit wie bei einem Fürsten. Auf dem Friedhof warteten der Verwalter und die vier Totenvögel. Am Grab sprach der Vorsitzende unserer Organisation, sein einstiger Lehrjunge und seine Partnerin, die folgendes sagte, ohne einen Bogen Papier in der Hand zu halten: ‹Lieber Ivan, gebenedeit bleibe dein Verstand, dein Charakter, deine Menschenliebe und nicht zuletzt dein Rundfleisch! Solltest du den Herrgott treffen, dann beglückwünsche ihn zu seiner irdischen Komödie, die weiterläuft in aller Ewigkeit. Mögen dich die Würmer in Ruhe lassen und dein Till-Kostüm so ehren wie du es ein Leben lang!!! Lebe wohl, guter Freund, deine Therese Biringer.›

Dann stellten sie den Sarg senkrecht in das Grab und bedeckten ihn mit Erde.»

Abgeschrieben am 28 Juli 1943 und unserem heutigen Sprachgebrauch angepaßt von Hans Mokka (Temeswar/Rumänien).

Editorial: Die Quelle des Testaments des Buchdruckergesellen Farkas Ivan ist die Bibliothek der Graphischen Arbeiter in Temeswar, die nach 1944 aufgelöst wurde. Das Zentralorgan Typograph des Verbandes der Graphischen Arbeiter in Rumänien erschien in Klausenburg wöchentlich dreisprachig (rumänisch, deutsch, ungarisch) und berichtete über das Tun und Leben der Buchdrucker in Rumänien. Deutschsprachige Buchdrucker arbeiteten vor allem in Temeswar, Arad, Lugosch, Hermannstadt, Kronstadt, Mediasch und Schlässburg.

Laubacher Feuilleton 10.1994, S. 15

Aus: Eulenspiegel-Jahrbuch 1990, herausgegeben vom Freundeskreis Till Eulenspiegels e. V., Schöppenstedt, Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 1990, Seiten 109 – 111; mit freundlicher Genehmigung

 
Mi, 28.10.2009 |  link | (1366) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Historisches



Schwierigere Zeiten

Hans Leybold (1892–1914) an Käthe Brodnitz (1894–1971)*

Am 29. September 1913

Liebe Käthe: erst vor wenigen Tagen erreichte mich dein Brief, nachdem er in ganz Deutschland herumgegondelt war. Es ist doch furchtbar ekelhaft, wenn Dinge, die vor Wochen zugesprochen wurden, einen erst nach so langer Zeit erreichen!

Also der Reihe nach: die Übung wurde auf mein persönliches Bitten beim Regiment am letzten Termin verschoben. Ich habe mich dann bis zum ersten September in unserem Häuschen an der Ostsee erholt (dort erhielt ich auch noch dein Telegramm) und fuhr dann über Hamburg, wo ich einige Tage blieb, und über Hannover, wo ich redaktionell zu tun hatte, nach München zurück. Jetzt habe ich mächtig angefangen zu arbeiten, mir eine Schreibmaschine gemietet und bin an alle möglichen Zeitschriften, Aktion, Tat, Zeit im Bild, Neue Kunst, März und so weiter die verschiedensten Manuskripte losgeworden. Dann kam ich auf die Idee, eine neue Zeitschrift, die die neue Richtung in Deutschland vertritt, zu gründen und trug diesen Gedanken einem Verleger, Bachmair nämlich, vor. Der ging darauf ein, und so entstand die REVOLUTION, deren Herausgeber ich bin.

Ich erzähle dir das alles so genau, weil du wissen mußt, was alles mich jetzt an Deutschland fesselt, was vorher nicht war: eine Lebensaufgabe nämlich. Das einzige, was ich wirklich kann, ist nun einmal das Schreiben, und das Gewerbe eines deutschen Schriftstellers kann man nun einmal nur von Deutschland aus betreiben. Gern hätte ich gleich auf deinen Brief hin telegraphiert, daß die Unmöglichkeit, den besten Willen vorausgesetzt, hinüberzukommen, unabweisbar vorliegt. Außerordentlich ungern lasse ich dich die lange Frist, die ein Brief nun einmal verlangt, um dich zu erreichen, im Unklaren. Aber es ging nicht anders, denn es geht nicht, unfrankiert nach Amerika zu telegraphieren, und ... es ist, wie es immer war ... ich bin am absoluten Ende, was den Mammon anbetrifft. Das wird dem 15. Oktober, dem Tag, an dem das erste Blatt der REVOLUTION erscheinen wird, noch schlimmer werden. Denn dann wird mein alter Herr endgültig nichts mehr von mir wissen wollen, und ich werde auf der Straße liegen — mit neuen Zeitschriften ist erst später Geld zu verdienen. Es ist unglaublich schade, daß aus all den schönen Plänen, die du und ich gemacht haben, nun vorläufig nichts werden kann, es heißt einfach warten, bis du wieder nach Europa zurückkommst. Liegt das nun nicht in deinem Ermessen? Was wäre der früheste Termin, an dem du wieder in München sein könntest? Wenn aus der REVOLUTION etwas wird — und es wird ganz bestimmt etwas daraus, wenn nicht der Verleger versagt —, dann habe ich eine unerschütterliche und bedeutungsvolle Stellung. Mir fehlt nichts als ein paar tausend Mark, um das Blatt ein paar Jahre lang zu halten, dann geht es ganz von selbst. Zumal da es bloß 10 Pfennige kosten wird, in einer riesenhaften Auflage erscheinen wird und die besten Mitarbeiter der neuen Richtung hat, als das sind Franz Blei, Klabund, Else Lasker-Schüler, John von Gorsleben, Johannes R. Becher und viele andere mehr. Aber ich fürchte, ich langweile dich mit der Geschichte meiner Gründung, und vielleicht ärgert sie dich auch, da sie der Hauptgrund ist, der mich hier zurückhält. Aber ich hoffe, daß du recht bald wieder nach München zurückkehrst und daß sich dann alles das erfüllt, was wir beide wünschen. Ich kann dir leider nicht mehr und eingehender schreiben, so gerne ich es auch tun würde, denn ich bin mit Redaktionsgeschäften dermaßen überladen, daß ich kaum zum essen komme. Es würde mich aufrichtig freuen, wenn du dich für die REVOLUTION interessieren würdest. Ich werde dir natürlich sofort nach Erscheinen die erste Nummer zuschicken und glaube, zum mindesten auf dich als Abonnent rechnen zu können. Vielleicht schickst du mir auch einmal etwas, das ich veröffentlichen kann, von dir; es muß allerdings in irgendeiner Art revolutionär sein. Wenn du geneigt wärest, dich mit einem kleinen Kapital an der Zeitschrift zu beteiligen, würdest du dir ein großes Verdienst um die neue deutsche Litaratur erwerben. Übrigens habe ich mit meinem Verleger darüber gesprochen, ob er vielleicht bereit wäre, ein Drama, das ich ihm empfehlen würde, in Buchverlag zu nehmen. (Ich meinte damit das, das du einmal dem Dreimasken-Verlag eingereicht hast. Er ist scheinbar nicht abgeneigt. Ich würde jedenfalls mein Möglichstes für dich tun. Was machen die anderen Bücher? [...]


* eine im Umfeld von Dada anzusiedelnde und zu dieser Zeit in den USA lebende Literaturwissenschaftlerin

Laubacher Feuilleton 4.1992, S. 6

Aus: Hansjörg Viesel (Hrsg.), Litanei zum heiligen Hugo, Zum 99. Geburtstag von Hugo Ball, erschienen in der Reihe Lager-Schaden 4, Karin Kramer Verlag, Berlin 1985, S. 40 – 43

 
Do, 08.10.2009 |  link | (1239) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Historisches



Rosenzweig und Riefenstahl

Von jüdischen Namen

Bis zur Mitte des 18.Jahrhunderts gab man sich in Deutschland mit den damals üblichen jüdischen Namen, die lediglich aus Vornamen bestanden, zufrieden. Aber ‹Samuel› oder ‹Sohn des Samuel› wurde den Behörden bald zu kompliziert, und um, wie könnte es in diesem Lande anders sein, «Unordnungen in der Konskription, in politischen oder gerichtlichen Verfahren und im Privatleben» zu vermeiden, zum Zweck der Assimilierung, also der Angleichung an die Sitten und Gebräuche des Landes, und wegen der «Unfügsamkeit der jüdischen Namen in Geschäften» wurde 1787 für alle Juden die Annahme von erblichen Familiennamen gesetzlich vorgeschrieben. Die Wahl ihrer Namen stand den Juden frei, allerdings nicht gestattet waren die des polnischen oder deutschen Adels.

Grundsätzlich galt: Wer viel bezahlte, bekam einen ‹schönen›, wer wenig oder gar nichts für die aufgezwungene Namensverteilung berappen konnte, erhielt einen ‹häßlichen› Namen. Kostenlos waren solche, die von Tieren oder Städten abgeleitet worden waren, wie ‹Löwenkopf›, später ‹Lewinhaupt›, oder, man glaubt es kaum, ‹Waldheim›. Oft waren auch Spitznamen oder Eigenschaften, die an der jeweiligen Person beobachtet worden waren, die Ursache für den späteren Familiennamen, so zum Beispiel ‹Weisheitsborn›, ‹Goldlust› oder auch ‹Geldschrank›. Diese waren ebenfalls ‹gebührenfrei› und riefen nicht selten das allgemeine Gespött hervor.

Nicht ganz umsonst, aber dennoch erschwinglich waren Namen mit den Endsilben Holz, Eisen oder Stahl. So dürften denn meine Ahnen, so Brecheisen denn jüdischer Provinienz ist, damals schon nicht eben über veritable Reichtümer verfügt haben.

Nicht zu klären ist auch, ob die Vorfahren der ach so arischen Leni pekuniär mehr oder minder besser gestellt waren, also ob's denn Riefensthal oder Riefenstahl sein durfte. Denn die teuerste Namenskategorie bildeten jene Namen, die von Blumen oder Edelmetallen abgeleitet worden waren, also ‹Lilienthal›, ‹Blumenfeld› oder ‹Goldstein›, und nur die betuchteren unter den Juden konnten es sich leisten, eine solche Wahl zu treffen.

So ist anzunehmen, daß der jüdische Nachname zu dieser Zeit eine Art Statussymbol darstellte, das Auskunft über Vermögen und gesellschaftlichen Rang gab.

Aber damit noch nicht genug. Wer sich diesem Edikt widersetzte, sprich wer sich vier Wochen nach dessen Erlaß noch keinen rechtsgültigen, eingedeutschten Nachnamen ‹besorgt› hatte, mußte mit einer saftigen Geldstrafe rechnen und wurde darüber hinaus als Ausländer registriert und dementsprechend behandelt. (Die Nummer hatten sie scheinbar damals schon gut drauf, die Deutschen.) Namensänderungen waren, abgesehen von der sprachgeschichtlichen Entwicklung, nur in besonderen Ausnahmen und mit Genehmigung des Kaisers möglich.

So hatte man es also, lange bevor es den Juden in Deutschland unter Hitler an den Kragen ging, geschafft, wenigstens erstmal die meisten der alten hebräischen Namen auszurotten.

Bettina Brecheisen

Laubacher Feuilleton 5.1993, S. 7

Die Photographie von Christian Reuther mußte hier aus technischen Gründen oben und unten beschnitten werden. Wir bitten um Entschuldigung bzw. um Verständnis. Ein Eindruck von der Bildgestaltung ist in etwa zu erkennen im Original Laubacher Feuilleton 5.1993, S. 1

 
Mo, 18.05.2009 |  link | (2961) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Historisches



Schwarz-weiß-rot

Levitenfahne und jüdisches Flaggenlied

Unlängst bestätigte eine Untersuchung, was ohnehin längst bekannt gewesen sein durfte, zumindest denen, die schon einmal etwas von Völkerwanderung, von den römischen Eroberungen und auch Niederlagen gehört hatten und beim Beharren der Bayern oder Preußen oder Holsteiner et cetera auf Rassereinheit mehr als nur schmunzelten. Die Wissenschaft hat es mit Zahlen belegt: Gerademal dreißig Prozent in diesem unserem Lande dürfen sich germanischer (ein ohnehin recht diffuser, von den Römern erdachter, die Barbaren meinender Begriff) Abstammung erfreuen — wenn sie das denn überhaupt erfreut. Doch diese Erkenntnisse sind ja auch erst ein paar Jahrzehntchen her, wie uns Der Querschnitt in den zwanziger, dreißiger Jahren übermittelte:

Die Leute ums Hakenkreuz halten sich bekanntlich für Arier und sind überzeugt, wenn sie es auch nicht bestimmt wissen, daß jeder von ihnen die Götter Walhalls in nächster Verwandschaft hat. Wenn gar einer zufällig mit blauen Augen und blonden Haaren auf die Welt gekommen ist, was dazwischen der Fall sein soll, dann hält er sich selbst für den wiedergeborenen Siegfried. Weil das aber nun mit den Haaren, Augen und Nasen eine eigene Sache ist (man kann nie wissen!), haben sich unsere «Völkischen» neben dem Hakenkreuz ein anderes gemeinsames Symbol verschafft. Es sind die Farben schwarz-weiß-rot. Von diesen Farben nehmen sie an, daß sich darunter nur Arier finden könnten, obwohl nicht recht einleuchtet, warum auf diese Farbenzusammenstellung nur Arier ein Privilegium haben sollten.

Kann sich nun ein Mensch vorstellen, daß bereits 700 v. Chr. in Palästina die Fahne schwarz-weiß-rot geweht hat? Die Wissenschaft hat es herausgebracht: Schwarz-weiß-rot sind die Stammesfarben eines der zwölf Stämme Israels gewesen. Und jetzt rate einer welches Stammes wohl: Der Stamm Levi (ausgerechnet!), von allen zwölf Stämmen Israels der vom meisten Eifer und Fanatismus besessene Stamm, ist damals unter schwarz-weiß-rotem Banner ausgezogen. Was sagt H St.Chamberlain dazu? Wird er etwa den ganzen Stamm Levi für Arier erklären, wie er bereits Jesus von Nazareth zum Germanen gemacht hat? Das wäre eine sehr einfache und nicht unsympathische Lösung der antisemitischen Frage. Der ganze Radau ist doch überflüssig, wenn die Leviten mit unseren Völkischen die gleichen Gesinnungsfarben haben. Bisher glaubten die Hakenkreuzritter, die republikanischen Farben schwarz-rot-gold wären eine jüdische Erfindung. Was werden sie zu dem peinlichen Zusammenhang sagen, der sich für schwarz-weiß-rot aus der Feststellung der Wissenschaft ergibt?

Das Leben ist manchmal von einer unbegreiflichen Gemeinheit. Da singen unsere «Arier» mit Vorliebe in vorgerückten Stunden, wenn sie die Begeisterung beim Wickel haben ein sehr schönes Lied. Es geht an: «Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot...» Aus meinen Flegeljahren erinnere ich mich, daß dieses Lied zum eisernen Repertoire der Volksfestkapelle Lang gehört hat, die es immer brachte, wenn noch eins getrunken werden sollte. Dieses treudeutsche Lied, dem man förmlich die Blauaugen und die Blaujacken ansieht, ist nun von einem gewissen Robert Lindner gedichtet. Kein Handbuch der deutschen Literatur gibt Aufschluß über die sonstigen Taten des «Dichters», von dem bisher angenommen worden ist, daß er ein wackerer Seebär von der Wasserkante sein müßte. Aber Robert Lindner ist kein Seebär, sondern ein waschechter Jude, und hat die deutsche Flotte, die er so schwungvoll besingt, höchstens auf Ansichtskarten oder im deutschen Flottenalmanach studiert. Es ist schon ein Verhängnis mit den Farben schwarz-weiß-rot. Fast scheint es, als hätten die Juden eine noch größere Vorliebe für diese Farben, als unsere Völkischen selbst; denn greift man dahinter, zuerst hinter die die Fahne des wilhelminischen Deutschland, dann hinter das vielgesungene Flaggenlied, immer kommt ein hebräischer Ursprung heraus. Wann findet sich der Komödiendichter, der diesen dankbaren Stoff aufgreift?

Schiller hat schon recht mit seiner Behauptung, daß «des Lebens ungemischte Freude» keinem Sterblichen zuteil wird, auch wenn er noch so fest glaubt, von den alten Germanen abzustammen, die unseres Wissens keine Fahne schwarz-weiß-rot gehabt und auch nichts von dem Flaggenlied des Robert Lindner gewußt haben.

M. P.

Laubacher Feuilleton 5.1993, S. 14

Der Querschnitt, Das Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte. Nachdruck aus den Originalbänden, 1924–1933, Hrsg. Christian Ferber, Ullstein Verlag, Berlin 1981, Seiten 97f.

Die Abbildung zeigt, zumindest im Sujet, eine Photographie von Johannes Muggenthaler aus den endenden neunziger Jahren, die bei der Finanzierung des Romans Regen und andere Niederschläge behilflich sein sollte. Sie hat es auch geschafft, entstanden ist ein Buch, «das so schön ist, daß man es streicheln möchte» (Christian Bartel). Was wir nicht geschafft haben, war die exakte Ablichtung dieser Photographie. Die ‹Sonne› ist nichts anderes als eine Blitzlichtreflexion. Möge Herr Muggenthaler Nachsicht üben.

 
Fr, 10.04.2009 |  link | (1423) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Historisches









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