Kopfjagd

Wo sieht man die Ohrläppchen der Stars hautnah? Was verbindet den Bildjournalismus mit der Guillotine? Wie steht die Wachsfigur zur Französischen Revolution? Wo erscheinen greifbare Bilder nach dem Leben als Bilder nach dem Tod? Man muß wenigstens einmal bei Madame Tussaud's gewesen sein.

Die Party mit Hitchcock und Humphrey Bogart spielt im Wintergarten, die Beatles sind noch jung, und wir bewegen uns im Bühnenbild zur immerwährenden Oscar-Verleihung. «Ist der auch aus Wachs?» frägt ein Bub und zeigt auf den indischen Wärter. Der kennt das, rührt sich erst nicht, deutet dann auf mich und sagt: «So wenig wie dieser Gentleman.» Ich halte still und beobachte den Buben, der mich beobachtet. Sein prüfender Blick wandert zwischen mir, Agatha Christie und seiner Mama hin und her. Er reduziert mich für einen Augenblick auf die bloße Außenseite, und ich empfinde eine Art metaphysischen Schrecken.

Der Mensch aus Wachs ist ein Ding. Während die Elektronik die Körperwelt entmaterialisiert, verkörpert die Wachsfigur den Schein. Die namhafte Person steht leibhaftig im Raum, doch ihrer leblosen Gegenwart fehlt die Aura und der Abstand. Sie existiert in einem ontololischen Zwischenraum: weder ein Lebewesen noch dessen Leiche, weder eine Skulptur noch ein Produkt technischer Medien. Sie läßt den Voyeur an ihre Oberfläche heran: an die Falten, die Pickel, die Narben, die Poren mit den rasierten Barthaaren, die Haaransätze, Tränensäcke, Nasenflügel, Lippen, Handlinien und Fingernägel. Manchmal wurde die Wachsoberfläche weniger glatt gestrichen, dann sieht die Haut grindig aus. Diese Bloßstellung gilt für Picasso wie für Hitler, der abgesondert auf einem Treppenabsatz zwischen Nobel-Etage und Horror-Keller steht. Jeder Besucher, heißt es im Museumsführer, «hat die Freiheit, ohne Furcht oder Verlegenheit hinzuschauen und seine Bemerkungen zu machen».

Die Auserwählten sitzen für ihr Porträt meist gerne Modell, wozu die Wachsartisten in alle Welt reisen. Unter den Verweigerern wird nur Picasso genannt, denn auch Rembrandt habe nicht Modell gestanden und sei trotzdem ähnlich. Die kurzlebige Prominenz verschwindet wieder aus der Schau, die langlebige wird nachgebessert. Churchill brachte es auf dreizehn Porträts. Die Thatcher stand erst als eiserne Lady, dann lächelte sie, dann kam der nächste Premier an ihre Stelle. Mit der Zeit wirken die Figuren so, wie sie werden: abgestanden. Hausphotographen oder eigene Kameras sollen diesen Rückstand aufholen. «Picture yourself with the Famous.» Das Photo hält die Gleichstellung fest. Eine Fiktion zweiten Grades hebt den Normalmensch und den berühmten Wachsmensch auf dieselbe Stufe: ich und Kohl.

Reliquien sollen die Aura ersetzen, die der Simulation fehlt. Souvenirs werden gesammelt, und die Stars spenden gelegentlich aus ihrer Garderobe. Liza Minelli soll ein Paar ihrer falschen Augenwimpern gegeben haben, um echter auszusehen. Sadat schickte den Anzug, den er bei seiner Präsidenten-Vereidigung trug, Reagan immerhin eine Krawatte. Während das Wachsbild die Augen täuscht, muß man bei den Requisiten darauf vertrauen, daß die Herkunftsangabe stimmt, die sich auf Bürgschaften und Gutachten stützt. Da der Blick aus nächster Nähe das prominente Gesicht entzaubert, verlagert sich der Bildzauber auf den Kult mit den Erinnerungsstücken. Die geköpften Köpfe Ludwigs des XVI. und der Marie Antoinette wurden nach ihren Totenmasken gegossen, das Blatt der Guillotine ist authentisch, die Blutkruste künstlich. Dieser Verbund von veristischer Imitation und historischem Objekt scheint von Anfang an das Erfolgsrezept des Unternehmens gewesen zu sein, das heute weit über zwei Millionen Besucher jährlich anzieht.

Marie Grosholtz, die spätere Madame Tussaud, war mit neunzehn an den Hof nach Versailles gekommen, um die Königsschwester im Zeichnen zu unterrichten. Sie lebte dort neun Jahre lang bis zum Ausbruch der Revolution. Der König ließ sich und seine Familie von ihr in Wachs porträtieren.
Am Vormittag des 21. Januar 1793 wurde Ludwig XVI. auf der späteren Place de la Concorde enthauptet. Am Nachmittag kamen die Leichenteile auf den Friedhof der Madelaine. In der Zwischenzeit mußte die junge Frau im Auftrag der Nationalversammlung die Totenmaske abnehmen.

Kurz nachdem der Henker das Haupt von Gottes Gnaden vor den Zuschauern hochhielt, wie man es von den Stichen kennt, stand sein Double aus Wachs zur allgemeinen Besichtigung. Aus der Trophäe der Revolution wurde eine Attraktion des bürgerlichen Showgeschäfts. Die Kernstücke der epochalen Hinrichtung von 1793, die jetzt am Eingang des ‹Chamber of Horror› dekoriert sind, setzten für den Schnitt zwischen Ancien Régime und Moderne ein prägnantes Zeichen, das über den Grusel-Effekt hinausgeht. Dieses Objekt aus Kopf und Beil zeigt schlagartig, schockierend und historisch genau, wie sich die neue Epoche in Szene setzt. Die distanzlose Publikation beruft sich auf das Interesse der Öffentlichkeit, berechnet die Wirkung, macht die Arbeit professionell und orientiert sich am Markt.

Als neues Masenmedium entwickelte sich die Wachsfigurenschau mit der Französischen Revolution. Die Porträtköpfe wurden nach der Tagesaktualität ausgestellt, und die Tagesaktualität kam vor allem von der Guillotine, die der Wohlfahrtsausschuß in Gang hielt. Ruhm und Horror nährten eine neue Form des Bildjournalismus. Er zeigte die kurzlebigen Helden und Opfer in den Geburtswehen der modernen Gesellschaft; oft waren es dieselben Personen. Dem schnellen Wechsel der Ereignisse paßte sich das Unternehmen an so gut es ging.

Die Wachsfigur stammt als Zwitterwesen aus einer rituellen und einer wissenschaftlichen Tradition: dem Totenkult und der Anatomie. Im Alten Rom gehörten Wachsporträts aus der Familiengeschichte zur Bestattungszeremonie der Patrizier. In England zeigten die königlichen Leichenzüge seit dem 13. Jahrhundert den Monarchen lebensecht in Wachs. Einige Figuren sind erhalten und im Museum von Westminster Abbey zu besichtigen. Als Voltaire 1791 starb, ehrte das Revolutionsregime den Heros der Aufklärung mit einer gewaltigen Apotheose. Der Maler David führte Regie, Theaterleute besorgten die Ausstattung. Nach dem Vorbild des republikanischen Rom krönte eine Wachsfigur den Triumphzug. Zwölf Rosse zogen den Wagen mit Voltaire auf römischer Liege in antiken Falten und freiem Oberkörper, aber es goß und die Farbe löste sich auf. Voltaire hatte schon der siebzehnjährigen Marie Grosholtz für sein Bildnis gesessen.

Ihre Geschichte beginnt in Bern. Dort unterhielt der schwäbische Arzt Dr. Philippe Curtius eine Musterschau mit anatomischen Modellen und Wachsporträts. Als Haushälterin holte er eine junge Soldatenwitwe mit ihrer zweijährigen Tochter Marie. Dann rief Prinz Conti den Modelleur mit Anhang an seinen Hof nach Paris, wo der Salon des aufgeklärten Royalisten als Treffpunkt europäischer Prominenz galt. Curtius diente dem Ruf der Hofhaltung mit seinen Porträts und bekam Aufträge. Madame du Barry, die letzte Mätresse Ludwig XV., blieb als Wachsfigur aus dieser Zeit erhalten und ist noch heute als ‹Sleeping Beauty› in London ausgestellt.

1770 eröffnete Curtius unter den Arkaden des Palais Royale der Salon de Cire, das erste kommerzielle Museum für Wachsfiguren. Das Geschäft lief so gut, daß es bald in ein eigenes Haus im neuen Vergnügungsviertel am Boulevard du Temple umziehen konnte, das neben dem Unternehmen von Philip Astley lag, der in London den Circus begründet hatte. Der promovierte Schausteller Curtius balancierte zwischen dem Straßenpublikum, den Gönnern der Hocharistokratie, den neuen Freunden von der Linken, und er steuerte seine volkstümliche Show geschickt durch das profitable Chaos der Revolutionszeit. Sein Türsteher wechselte mit der Staatsmacht die Uniform: vom königlichen Wachmann zum bürgerlichen Nationalgardisten und zum proletarischen Sansculotte. Zu Hause bewirtete er Aufklärer und Revolutionäre von Rang und Namen: Rousseau, Voltaire, Benjamin Franclin, Mirabeau, Danton, Marat, Robespiere, David. Er hatte Marie Grosholtz von Kind an unterrichtet und knapp vor der Wende aus Versailles zurückgeholt. Jetzt lebte sie in der neuen Gesellschaft, nahm Masken von den Gästen und mußte später einige dieser Köpfe nach dem Schafott noch einmal abformen.

Am 12. Juli 1789 lief eine Menschenmenge im Garten des Palais Royal zusammen, um gegen die Entlassung des Finanzministers und die Ausweisung des aufsässigen Herzogs von Orleans zu protestieren. Man forderte von Curtius ihre Wachsbüsten, steckte sie auf und trug sie als Fetische des Aufruhrs durch die Straßen. Eine Abteilung deutscher Söldner gab Feuer, die beiden Kopfträger fielen. «Ich kann zu meiner Ehre sagen», erklärte Curtius später, «daß die erste Handlung der Revolution bei mir geschah.» Zwei Tage später war er beim Sturm auf die Bastille an vorderster Front.

Im September trug man wie vorher die beiden Wachsköpfe die guillotinierten Köpfe des Handelspräfekten und des Präfekten der Bastille durch die Straßen. Kurz nach diesem Umzug konnte man sie als Wachsrepliken bei Curtius sehen. Sein Nachbar Philip Astley bestellte Duplikate. So kam gleichzeitig mit der Nachricht der ersten Exekution von Amtsträgern die Kopfnummer im Londoner Circus. Die Konjunktur des Terrors belebte das Geschäft, und Marie mußte bei der Produktion ihren Mann stehen.

Mit einer Horror-Situation erlebte die Geschichte der melodramatischen Schau ihren melodramatischen Höhepunkt. Unter den Gefangenen von Versailles befand sich die Prinzessin von Lamballe, die den Hofhaushalt geleitet hatte. Das Volkstribunal machte kurzen Prozess, man stieß sie vom Gerichtssaal auf die Straße. Der Mob zerstückelte ihren Körper und hielt Kopf und Brüste vor das Kerkerfenster von Marie Antoinette, mit der sie ein Verhältnis gehabt haben sollte. Fünfzig Jahre später memorierte Madame Tussaud in der dritten Person: «Die wilden Monster standen über ihr, während sie, zitternd vor Entzetzen, gezwungen wurde, eine Gipsform von den Resten der Prinzessin zu nehmen, gewohnt, sie in ihrer Liebenswürdigkeit strahlen zu sehen.»

Curtius starb zwei Jahre später, er hatte Marie das Unternehmen vermacht. Zunächst hielt sie sich noch. Napoleon, inzwischen Erster Konsul, gönnte ihr 1799 eine halbe Stunde. Aber das Geschäft ließ nach und sie schloß mit einem Halsabscheider aus der Branche einen Vertrag, der sie fast ruinierte. 1802 ging sie mit ihrem vierjährigen Sohn, dreißig Wachsbildern, Formen, Requisiten und Souvenis nach England. Sie konnte sich schließlich selbständig machen und tingelte drei Jahrzehnte mit wechselndem Erfolg durchs Land, bis sie sich mit vierundsiebzig Jahren in London niederließ. Sie starb 1850 mit neunundachzig, im Jahr vor der ersten Weltausstellung mit dem spektakulären Glaspalast im Hyde Park.

Das Konzept der Schau folgte der Lebenserfahrung und den Publikumswünschen. Personen und Erinnerungsstücke zeigen die historische und die zeitgenössische Prominenz, Physiognomie und Outfit müssen stimmen. Im Mittelpunkt steht die Französische Revolution, Könige und Königinnen vertreten die übrige Geschichte. Populäre Würdenträger und populäre Verbrecher werden auf dem aktuellen Stand gehalten. In einem Milieu von Prunk und Glamour soll sich das viktorianische Publikum gehoben fühlen, sich bilden und unterhalten. 1846 verspricht ein Inserat die «großartige Ausstellung von Hofgewändern, um den Mittelklassen eine Vorstellung des königlichen Glanzes zu geben». Nur der ‹Punch› erinnert dabei an die Hungerkatastrophe in Irland, die eine Million Menschenleben kostete, und verlangt «Beispiele der irischen Bauern, der Weber und anderer Gruppen der hungernden Bevölkerung in ihrer abgerissenen Kleidung».

Im Vorraum zur ‹Grand Hall› in ‹Madame Tussaud's› an der Marylebone Road steht man vor einem Salon in Versailles: Marie Groshotz porträtiert die Königsfamilie. Wenige Schritte, und man trifft die Frau wieder: Madame Tussaud mit einundachzig, ein Selbstbildnis aus der Zeit der ersten Lichtbilder, eine fast zwergenhaft schmächtige Gestalt in Schwarz, grimmig, unter den weißen Rüschen ihres Häubchens eine ungeheuere Nase. Sie steht am Kopfende des großen Saals in der Mitte einer erhöhten Estrade. Von dort blickt die Alte über die Flucht der Könige, Königinnen und modernen Staatsleute. Der ornamentale Grundriß der Aufstellung ordnet alle ein. In dieser geschichtslosen Versammlung gleichen sich die Großen von früher und die von heute in ihrer Leichenstarre. Am anderen Ende der Halle, gegenüber der Madame, posiert die Royal Family wie für den Hofphotographen. Die Gruppe steht auf einem Podest, Balustraden halten das Publikum in gebührendem Abstand: nur das englische Königshaus bleibt unantastbar.

Wie eine mythische Ahnfrau der Mediensimulation herrscht die greise Madame Tussaud über den Ruhm der Berühmten und die Macht der Mächtigen.


Thomas Zacharias

Dieser Essay war vom Autor verfaßt für das Laubacher Feuilleton 20.1996. Er geriet wegen des Überangebots des Verfassers in den Stehsatz, wurde jedoch nicht mehr gedruckt, da unser Blättchen ins Jenseits kam. Es handelt sich also quasi um eine ‹posthume› Erstveröffentlichung.
 
Di, 01.05.2012 |  link | (1459) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Historisches






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