|
Von Michael H. Schwibbe Ich möchte meinen Ausführungen ein Zitat von Lenin voranstellen, der in seiner weitsichtigen Art schon 1919 einen Plan hatte, diesen aber nicht erfüllen konnte. Selbstkritisch bekennt er: «Zum zweijährigen Jubiläum der Sowjetmacht hatte ich vor, eine kleine Broschüre über das in der Überschrift genannte Thema zu schreiben. Aber im Getriebe der täglichen Arbeit bin ich über die Vorbereitung einzelner Teile bisher nicht hinausgekommen.»[1] Dieses Versäumnis wollen wir kompensieren. Beginnen soll die Analyse mit einer kurzen formalen Betrachtung: Die Betriebsanleitung erschien 1983, trägt den Namen ‹Betriebsanleitung› und hat das handliche Format, wie es für eine Betriebsanleitung gang (in diesem Falle 4) und gäbe ist. Die Gliederung ist nach der Funktion der Geräteteile vorgenommen worden. Die Aussage: ‹24. Auflage› zeugt von der gesellschaflichen Notwendigkeit, diese Broschüre mehrfach zu produzieren. Die Angaben über die Herkunft des Trabanten: Der Personenkraftwagen ‹Trabant› ist ein Erzeugnis des VEB SACHSENRING Automobilwerke Zwickau Betrieb des IFA-Kombinates PKW Deutsche Demokratische Republik[2] sind sauber durchformuliert. Auffällig ist allerdings, daß ein DDR-spezifisches Politikum fehlt: Es wird kein Bezug zum historischen Materialismus, kein Bezug zum sozialpolitischen Hintergrund hergestellt, der die Produktion einer solchen Gerätschaft für die Arbeiter- und Bauernklasse notwendig macht. Einen kleinen Hinweis wie «schon Marx hat gesagt ...»[3] oder «Lenin hat gefordert ...»[4] suchen wir vergebens. Auf der inhaltlichen Ebene stellt sich die Frage nach der Etymologie des Wortes ‹Trabant›[5] und danach, was die Väter dieser ‹Limousine› dazu veranlaßt hat, ihr diesen Namen zu geben? Hier werden wir sehr schnell fündig: Eine erste Literaturrecherche zeigt, daß ‹Trabant› im frühen Nhd. die Bedeutung ‹Krieger zu Fuß› hatte (ca. 1494).[6] Haben die Namensgeber diese Bedeutung gekannt? War ihnen die Einbettung des Wortes in diesen tiefen historischen Kontext bewußt? Wir meinen: ja! Denn unausgesprochen zieht er sich wie ein roter Faden durch ihre Betriebsanleitung. Die PR-Fachleute des Kombinates haben wahrscheinlich aber auch an die übertragene Bedeutung «Begleiter» gedacht, das Gerät als ein Begleiter der DDR-Bürger[8] von der Zeugung an bis zur Verwirklichung des Sozialismus, mit 15 Jahren Wartezeit auf die Möglichkeit des Erwerbs, als Folge der falsch verstandenen Devise von Lenin: «Man muß sich zur Regel machen: Lieber der Zahl nach weniger, aber höhere Qualität.»[9] Um den potentiellen Nutzern dieses weitgehend automatisierten Personenbeförderungsmittels einen Vorgeschmack und den glücklichen Besitzern eine Orientierungshilfe zu geben, hat sich ein Autorenkollektiv (AK) zusammengefunden, um diese Betriebsanleitung zu verfassen. Ihr historischer Abriß erschöpft sich in der lapidaren Feststellung: Der Personenkraftwagen «Trabant» ist auf den Straßen der Deutschen Demokratischen Republik sowie im Ausland kein Neuling mehr. (S. 9) Dieser Satz war aus der Sicht von 1983 sicherlich eine korrekte Beurteilung und in der bescheidenen Form noch untertrieben: Denn der Trabant war schon in der Mitte des 17. Jhdts. kein Neuling mehr auf den Straßen Mitteleuropas. So heißt es 1649: «nit manglets an trabanten, an sternen klar und hell.[10] Der Übergang vom Plan zur Produktition dauerte an, die industrielle Fertigung begann erst 300 Jahre später, denn: «Wenn man sich nicht mit Geduld wappnet, wenn man für diese Sache nicht mehrere Jahre daransetzen will, dann soll man lieber die Finger ganz davonlassen.»[11] lautet die Forderung von Lenin. Der Trabant wurde 1957 zum ersten Mal gebaut. An der Karosserie wurden seit dieser Zeit kaum nennenswerte Änderungen vorgenommen.[12] Deshalb konnte das Gerät auch noch 1983 nicht mit einem Auto verwechselt werden.[13] Dieser erste Satz stellt den Anfangspunkt einer massiven Kritik am System dar, hier vorerst an der staatlich verordneten Form des Outfits des Gerätes und an der mangelnden Flexibilität des Politbüros der SED, das kein Interesse an der Änderung des Aussehens hatte, da es ja selbst vornehmlich Autos aus schwedischer Produktion fuhr. Was bewegte im Innersten wohl den emsigen Bauern, was den fleißigen Arbeiter, wenn ihm ungerührt mitgeteilt wurde: «Selbst ein Teil der Arbeiterklasse, kennt die Partei nichts Höheres als die Interessen der ganzen Klasse, aller Werktätigen. Alles zu tun für das Wohl des Volkes, für sein Leben in Frieden, sozialer Sicherheit, Wohlstand und Glück.» (S. 5) Die DDR-Bürger hätten es nämlich gerne gesehen, wenn Honecker seinen kommunistischen Bruder Gorbatschow statt mit VOLVO mit einem Trabanten abgeholt und geküßt hätte. Dieses wäre standesgemäß, denn: «wir, ehrenvoll geschützt von eigenen trabanten, erwarten kaiserlich der völker abgesandten»[14] beschreibt schon Goethe das richtige staatsmännische Verhalten. Im zweiten Satz steigern die Autoren ihre Angriffe auf das System und ihre Vertreter, bleiben dabei aber noch sehr dezent und versuchen, die Kritik hinter vermeintlichem Lob zu verstecken. Seine Bewährungsprobe hat er seit Beginn der Serienfertigung bis zum heutigen Tage auf allen Gebieten bestanden. (S. 9) Dabei können sie sich vordergründig auf die Ausführungen zum X. Parteitag der SED berufen: «Jede Aufgabe aus Forschung und Entwicklung ist erst als abgeschlossen zu betrachten, wenn sie sich in der Produktion oder Konsumtion voll bewährt hat und ihre Herstellung auch ökonomisch effektiv ist.»[15], was natürlich voll mit Lenin übereinstimmte: «und wir sollten bedenken, daß man zur Schaffung dieses Apparates keine Zeit scheuen darf und viele, viele Jahre darauf verwenden muß.» Was bedeutet aber im Zusammenhang mit «Bewährung» das Wort «Gebiet»? Den Bürgern im Arbeiter- und Bauernstaat war dieser Begriff wohl bekannt in den Phrasen: «Gebiet der DDR», »Hoheitsgebiet der DDR» oder «Staatsgebiet der DDR», dessen sie ja bekanntlich nicht flüchtig werden durften. «Bewährung» gab es für Republikflucht nicht. Deshalb wird im dritten Satz zumindest verbal die Republik verlassen und die «Internationale» ins Spiel gebracht. Besonders ist hervorzuheben, daß der Trabant bei nationalen und internationalen Rallye-Fahrten sehr große Erfolge erzielt hat, die den Arbeitern, Technikern und Ingenieuren den Beweis gebracht haben, daß die der Serienfertigung zugrunde gelegte Konzeption des Fahrzeugs richtig gewesen ist. (S. 9) Bei der Anspielung auf die internationalen Rallyes haben sich die Verfasser sicherlich an ein schweizerisches Schauspiels aus dem 16. Jahrhundert erinnert, an den Vers: «siben trabanten ich ouch hab, mit denen ich die welt durchtrab ... der dritt trabant heyszt unküscheyt.»[17] Zwar hatte kaum ein Arbeiter oder Bauer im real existierenden Sozialismus die Welt mit seinem ‹Trabi› durchreist, noch je sieben derartige Fortbewegungsmittel besessen, aber aufgrund der Lage auf dem Wohnungsmarkt wurde der Trabant gerne zur «Unkeuschheit» genutzt.[18] Dieses kam den alten Männern in der Führungsriege der SED sehr gelegen, denn: «Die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft erfordert prinzipiell den Übergang zur intensiv erweiterten Reproduktion.»[19] stand unverblümt im Parteigeschenk zur Jugendweihe zu lesen. Dieser Forderung nachzukommen, war nur durch maximale Ausnutzung der Innenraumkapazitäten des Geräts möglich. Betrachten wir den Satz nunmehr auf der formal logischen Ebene. Hier arbeitet das Autorenkollektiv mit der Methode der schlichten Behauptung[20] als einer für die Schlußfolgerung irrelevanten Prämisse: Im strengen Sinne der Aussagenlogik ist der Schluß (= Konzeption richtig) auch dann wahr, wenn die Prämisse (= große Erfolge[21]) falsch ist[22]. Daß das Autorenkollektiv hier bewußt vorgegangen ist, belegt die Tatsache, daß sie das Wort «Beweis» in den Mittelpunkt dieses Satzes gestellt hat. Damit konterkariert das AK auf geschickte Weise die umgekehrt formulierte Warnung Lenins, «falsche Schlüsse aus richtigen Voraussetzungen» zu ziehen. Bewundernswert diese Argumentationsfigur, die zeigt, daß nicht alles in der DDR so schlecht gewesen sein kann! Von der Ebene der formalen Logik geht das AK nunmehr im klassisch dialektischen Sinn auf die Ebene der emotional kontrastierenden Wertung über. Damit treibt die Betriebsanleitung auf ihren argumentativen Höhepunkt zu. Der Typ «Trabant» ist in seiner Klasse ein schnittiges, elegantes und temperamentvolles Fahrzeug. (S. 9) Zur Erleichterung des Übergangs zwischen diesen Argumentationsebenen bringt das AK zunächst den Begriff «Klasse» ins Spiel. Jeder Bürger der DDR gleich welcher Schicht wußte, daß er entweder Bauer oder Arbeiter ist. Er war gezwungen, sich zu einer der genannten Klassen zu bekennen. Um dem DDR-Bürger zu zeigen, daß nicht das Kollektiv, nicht die Klasse immer im Vordergrund stehen muß, daß es auch das Individuum gibt, definieren sie für dieses Gerät einfach eine eigenen Klasse und zeigen damit seine Einzigartigkeit, seine Unvergleichbarkeit auf. Sie stellen sich offen in Gegensatz zu Lenin, der apodiktisch behauptet: «Sozialismus ist Abschaffung der Klassen. Die Diktatur des Proletariats hat für diese Abschaffung alles getan, was sie tun konnte.» Genau dieses tut das AK nicht! Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Typ Trabant die Klasse[25] bilden soll, von der Lenin sagt: «Eine Klasse muß stark genug werden, um von ihrem Emporkommen das der ganzen Nation, von dem Fortschritt und der Entwicklung ihrer Interessen den Fortschritt der Interessen aller andern Klassen abhängig zu machen.» (S. 230)? Im übertragenen Sinne würde das bedeuten: «mit dem Trabanten zu Sternen», «per Trabantem ad astra»[26]. «Per aspera ad astra» ist der Wahlspruch der schwedischen Könige, die jahrhundertelang Mecklenburg-Vorpommern besetzt hatten. Handelt es sich hier um eine verdeckte Anspielung auf die SBZ, die «sowjetische Besatzungszone»? Fragen über Fragen! Die Qualität «temperamentvoll» fällt aus der rigiden Sprache normaler Betriebsanleitungen völlig heraus. Welches Temperament meint das AK? Seit dem ausgehenden Mittelalter gab es eine Einteilung der Temperamente in die vier Grundtypen: Melancholiker, Sanguiniker, Choleriker und Phlegmatiker.[27] Davon kommt für das Gerät nur das Temperament ‹phlegmatisch› in Frage. Diese Qualität dem Trabanten zu attribuieren, hat durchaus historischen Hintergrund: «da sach man mangen müden drabanten» urteilt man im Markgrafenkrieg um 1450 und «Blind und lam sind sin trabanten (1522)» sagt man 70 Jahre später. Implizit wird damit eine strukturell emotionale Homologie bzw. Automorphie zwischen dem Gerät und seinen Benutzern, den «Kriegern», die gezwungenermaßen oft «zu Fuß» gehen mußten, den Kämpfern an der Front des Sozialismus, hergestellt. Denn nur Phlegmatiker können die deprimierende Aussage: Die Antriebsquelle ist ein Zweizylinder-Zweitakt-Ottomotor mit Luftkühlung (S. 11) über lange Zeit hin ertragen und sich mit den Gegebenheiten des real existierenden Antriebaggregates widerspruchslos abfinden. Hier kann aber eine Freilandbeobachtung aus dem 16. Jahrhundert dem DDR-Bürger Trost und Hoffnung geben: «in disem land hab ich nie kein esel sehen trabanten haben, welche neben ihm einher traben.»[30] Der oft verlachte Marx kannte im Grundsatz das Problem: «Die Klagen jener alten Chroniken sind immer übertrieben, aber sie zeichnen genau den Eindruck der Revolution in den Produktionsverhältnissen auf die Zeitgenossen selbst.[31] Das gilt nach dem Allgemeingültigkeitsanspruch der Worte von Marx natürlich auch für die historische Warnung: «Was bedeuten wol Trabanten, als dass gross Gefahr vorhanden.»[32] Während hier noch etwas rhetorisch nach der Bewertung gefragt wird, wird diese schnell zur stabilen Qualität: «drabanten vil der boesen die findt man hie und dort»[33] Diese Warnung sollte später für die Sicherheit auf den gesamtdeutschen Autobahnen und für das Ozonloch eine ähnliche Bedeutung erhalten wie für die Handelswege des ausgehenden Mittelalters. Dazu mußte argumentative Kompensation gefunden werden. Ganz im Sinne einer «grünen» Politik betont das AK deshalb: Der automatisch wirkende Freilauf im 4. Gang schont den Motor und trägt zur Kraftstoffeinsparung bei. (S. 11) Da auch das ZK diesen dialektischen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit gekannt hatte und auf Ausgleich erpicht war, schrieb es sich vorsichtig ins Parteiprogramm: «Das Programm lenkt die Aufmerksamkeit darauf, die natürliche Umwelt zu erhalten und sie im Interesse der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen und einer effektiven Volkswirtschaft zu gestalten.» (S. 659) Um diesem Petitum zu folgen, hat sich das AK etwas ganz besonderes einfallen lassen. Sie wollen dazu das Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle nutzen, die zusammen ja schon 50 Prozent der Himmelsrichtungen der DDR ausmachen. Gewöhnen Sie sich deshalb an, das Fahrzeug im Gefälle durch kurzes und kräftiges Gasgeben auf die den Gegebenheiten entsprechende Geschwindigkeit zu bringen und dann den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. (S. 43) Das Fahrzeug rollt dann im Freilauf, wodurch Kraftstoff gespart und der Motor geschont wird. Für das Fahren mit Rückenwind gilt der gleiche Hinweis. (S. 43) Da die DDR in der Ostzone der braven Westwinde liegt, kommen so weitere 25 Prozent Himmelsrichtungen hinzu. Dieses Konzept ist eine geniale Meisterleistung der Ingenieurkunst, die die SED-Meinung «Die Deutsche Demokratische Republik verfügt über eine leistungsfähige Volkswirtschaft, über ein großes Wissenschaftspotential, über ein hohes Bildungsniveau.» (S. 179)[34] eindrucksvoll am konkreten Gegenstand bestätigt. Das war nur möglich, weil — wie der Generalsekretär des Zentralkomitees der SED, Erich Honecker, feststellt — «die SED mit ihrer Strategie und Taktik auf die Fragen des Lebens im Grunde stets die richtige Antwort gab»[35] schreibt sich die Partei die Leistung auf die eigenen Fahnen. Das AK betont in diesem Zusammenhang besonders die sozialistische Errungenschaft des «vierten Ganges». Dieser war dem aufgeschlossenen Mitteleuropäer natürlich bekannt: «ihm ist der gang ... ihrer trabanten nicht fremde»[36] lautet schon 1767 eine Zustandsbeschreibung menschlicher Kenntnisse zwischen Rhein und Memel. Aber: warum — stellt sich die Frage — gerade «vier»? Dem ging schon Otto Walkes in einer brillanten Persiflage einer Sonntagspredigt in der ARD der BRD nach. Es kann kein Zufall sein, daß gerade ein Ottomotor als Antriebsaggregat gewählt wurde. In bezug auf das Fahrwerk mußte das AK gegenüber der SED allerdings einen taktischen Rückzug vornehmen: Sie bringen den Begriff Progressivfederung (S. 11) ins dialektische Spiel: Da es in der Entwicklung der DDR ja wohl keinen Rückschritt geben konnte, mußte auch die Federung progressiv sein: «Sie ist die Erbin alles Progressiven in der Geschichte des Deutschen Volkes.»[37] steht im Programm zum IX. Parteitag der SED zu lesen. Danach jedoch macht das AK seinen Kotau vor dem Politbüro mehr als wieder gut und empfiehlt auf perfide Weise: Einen für den Motor kritischen Zustand können Sie herbeiführen, wenn Sie bei einer mittleren Geschwindigkeit infolge Bergabfahrt oder Rückenwind, zur Erhaltung der jeweiligen Geschwindigkeit, das Gaspedal nur noch gering betätigen und dies über längere Zeit tun. (S. 42) Man muß sich einfach einmal vorstellen, was mit der Infrastruktur der DDR passiert wäre, wenn alle Fahrer dieses Gerätes dieser Empfehlung gefolgt wären. Sie ist mehr als Sabotage, sie ist ein Aufruf zum aktiven Widerstand unter Anwendung systemimmanenter Manipulationsmöglichkeiten am volkseigenen Antriebsaggregat. Das AK erläutert auch gerne und genüßlich die Folgen: Der Motor erhält dann entsprechend der Drehzahl fast kein Frischgas und damit auch kein Schmiermittel, was für den Motor äußerst gefährlich ist.. (S. 43) Frischgas! Welch Wort! Frischfleisch und Frischobst waren nur über die sozialistische Wartegemeinschaft erhältlich, Sommerfrische gab es im FDGB-Heim mit Plaste-Tischdecken aus Zschopau. Frischmilch aus der LPG als Laktat von der volkseigenen Kuh war zum nationalen Kulturgut erklärt. Deshalb konnten die Arbeiter, weniger die Bauern, sich freuen, wenn sie per Fußdruck ein Frischprodukt erhalten konnten. Mit dieser Anspielung geht das AK hart an die Grenze des Machbaren der Ironie und Satire.[38] Eine weitere subtile Dialektik wird bei den Sekundärqualitäten des Gerätes eingesetzt: Die Straßenlage und die Beschleunigung Ihres "Trabant" sind ausgezeichnet. (S. 43) Diese Merkmale stehen in keinem kausalen Zusammenhang.[39] Deshalb benutzt das Kollektiv als Klammer den Ausdruck «ausgezeichnet»: Ausgezeichnet wurden oft kaum nachvollziehbar ein «Held der Arbeit», ein «Kämpfer am sozialistischen, antifaschistischen Schutzwall» oder ein «verdienter Kundschafter» im Kanzleramt.[40] Wer hat die Beschleunigung ausgezeichnet und warum? Denn Lenin hat doch schon lange vorher erkannt und daraufhingewiesen: «Man muß sich mit einem heilsamen Argwohn gegen die unbedacht schnelle Vorwärtsbewegung ... wappnen.»[41] Folgerichtig warnt an dieser Stelle auch das Autorenkollektiv ausdrücklich davor, auf die «Auszeichnung» von Straßenlage und Beschleunigung zu vertrauen: Das sollte sie jedoch nicht verleiten, leichtsinnig zu werden. Fahren Sie deshalb so, daß Sie jederzeit bei Auftauchen eines Hindernisses rechtzeitig anhalten können, wobei die Straßenverhältnisse (trockene, nasse oder vereiste Straßen) berücksichtigt werden müssen. (S. 43) Die Straßenverhältnisse in der DDR mit klimatisch bedingten Aggregatzuständen von Wasser erschöpfend darzustellen, belegt die tiefgründige Ironie des AK. Jeder Bürger hat angesichts der wahren Situation auf ihren Wanderwegen beim Lesen sofort schmunzeln müssen. Die ‹Welt› hätte formuliert: «auf den sogenannten Straßen». Welcher Schelm im AK hat letztlich in die Betriebsanleitung Vorderachsenaufhängung, Federung (S. 11) geschrieben? Jeder DDR-Bürger dachte bei Nennung des Wortes Achsen sofort an den kleinen rundlichen Mitglied des Politbüros Hermann Axen, eine besonders langlebige Variante des Typs Funktionär. Wenn wir diese zwei Worte zerlegen und in einer anderen Schreibweise darstellen, kommt dabei die Aufforderung heraus: «Forder: Axen, Aufhängung, Federung». Daß der Aufruf zu KuKluxKlan-Methoden der Zensurstelle der Stasi durch den Rost des Robotron-Rechners gefallen ist, entzieht sich vollends der Vorstellungsfähigkeit des Autors der vorliegenden Studie. Vielleicht hatte auch hier Markus Wolf seine konspirativ wirkenden Finger auf der Tastatur. Die Produktion des Trabanten wurde drei Jahre nach der Wende 1992 eingestellt. Die Warnung von Lenin fiel ins Nichts: «Jeder klassenbewußte Arbeiter, Soldat und Bauer muß sich aufmerksam in die Lehren der russischen Revolution hineindenken, besonders jetzt, Ende Juli, wo klar ersichtlich geworden ist, daß die erste Phase unserer Revolution mit einem Mißerfolg geendet hat.» [42] Resumée Wir müssen feststellen, daß das AK mit dieser Betriebsanleitung ein Dokument der Systemkritik, ein Manifest der Konterevolution vorgelegt hat. Der Trabant fungiert als Symbol des Widerstandes wie weiland der «Bundschuh», wie Martin «Luther, des duvels knecht, und siene dravanten»[43], Vorbereiter der Bauernkriege von der Wartburg.[44] In dieser Betriebsanleitung werden grundlegende Werte des real existierenden Sozialismus auf geschickte Weise in Frage gestellt. Sie ist ein historisch fundiertes Dokument des Widerstandes, eine auf der Grundlage des M/L basierenden Manifestation der Gewaltlosigkeit gegen verkrustete Strukturen, gegen Stasi, KGB und Politbüro. Zitieren wir zum Trabanten und der SED, dieser sozialistischen Entität von Plan und Gerät ein letztesmal Lenin: «Nein, vor einem solchen Apparat und selbst von Elementen dazu haben wir lächerlich wenig.»[45] Facit: Wenn die Gauck-Behörde alle Dokumente aus der ehemaligen DDR, aus dem Gültigkeitsbereich der Reichsbahn in gleicher Weise so sorgfältig prüfte, würde es sich wahrscheinlich herausstellen, daß die Bürger der DDR vor 1989, so wie alle Deutschen vor 1945, einen Hort des Widerstandes gebildet haben. Literatur: Brednich, Rolf Wilhelm: Trabi-Witze. Ein populäres deutsches Erzählgenre der Gegenwart. Volkskunde in Niedersachsen. heft 1/1990 7. Jg. =(RWB) dtv-Lexikon Konversationslexikon in 20 Bänden. Band 18: Stra-Trir. Deutscher Taschenbuch Verlag dtv (=dtv) Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Abriß. Berlin: Dietz Verlag, 1978 (=SED) Grimm, Jacob und Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Elfter Band. I. Abteilung I. Teil T-Treftig. Bearbeitet von Matthias Lexer, Dietrich Kralik und der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches. Leipzig Verlag von S. Hirzel, 1935. (=GG) Klaus, G. und Buhr, M.: Philosophischer Wörterbuch. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut, 1976, BD. 1 (=PW) Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutsche Sprache. 21. unveränderte Auflage. Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1975. (=KL) Lenin, W.I.: Ausgewählte Werke Band II. Berlin: Dietz Verlag, 1976(=LII) Lenin, W.I.: Ausgewählte Werke Band III. Berlin: Dietz Verlag, 1976. Ökonomik und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats (=LIII). Marx, Karl und Engels, Friedrich: Staatstheorie. Ed.: Eike Hennig, Joachim Hirsch, Helmut Reichelt und Gert Schäfer.1974 Frankfurt/M. — Berlin — Wien: Verlag Ullstein GmbH, 1974 (=ME) Marx, Karl: Tausch, Arbeitslohn, Freiheit und Gleichheit,. (Text nach: K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (Rohentwurf), Berlin 1953, und Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23 (=MK). Röcke, Matthias: Der Trabant: Königswinter 1990 (S.21) (=RÖ) Vom Sinn unseres Lebens. Zentraler Ausschuß für Jugendweihe in der DDR (Hrsg.), Berlin: Verlag Neues Leben, 1983 (=SL) Wander, Karl Friedrich Wilhelm: Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. Vierter Band. Sattel bis Wei, Edition Weltbild, Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, 1876. (=WA) Anmerkungen 1 (Prawda Nr. 250, 7. November 1919) 2 VEB: Volkseigener Betrieb, IFA: Industrieverband Fahrzeugbau der DDR. Aus: Koblischke, H.: Kleines Abkürzungsbuch. VEB Bibliographisches Institut: Leipzig, 1980. 3 z. B: «Die Verbeßrung der Transport- und Kommunikationsmittel fällt ebenfalls in die Kategorie der Entwicklung der Produktivkräfte überhaupt.» (S. 466). (Karl Marx: Allgemeine Bedingungen der Produktion im Unterschied von den besonderen. In: Grundrisse der Kritik der Pol. Ökonomie (Rohentwurf, 1857-1858), Berlin: Dietz, 1953, S. 422) 4 Statt dessen hat sich das Autorenkollektiv: Alle Rechte vorbehalten (unpaginiert, Betriebsanleitung 1983). Diese Vorbehalte wurden — wie wir noch sehen werden — mit gutem Grund in das Dokument eingebaut. 5 Im Folgenden wird dieses Erzeugnis auch als «Gerät» bezeichnet (d. Verf.). 6 (KL S. 784). Der Volksmund liegt mit seinem Witz «Warum heißt der Trabi Trabi? — Wenn er schneller wäre, müßte er Galoppi heißen» gar nicht so falsch. (RWB, S. 31) 7 Begleiter von Planeten, Monde, dtv, S. 250 8 Man würde eine Fehlinterpretation vornehmen, wenn man glaubt, daß die Trabantenstädte in der DDR nach dem dort vorherrschenden Fortbewegungsgerät benannt wurden. 9 (LIII, S. 878) 10 SPEE trutzn. (1649) 40; (GG, S. 949). Damals muß der Himmel über der DDR noch recht durchsichtig gewesen sein. 11 (LIII, S. 880) 12 «Aufgrund seiner unverkennbaren äußeren Form, der charakteristischen Farbtöne, seines Zweitaktgeräusches, der Auspuff-Fahne und süßlichen Gestanks, den er hinterläßt, schließlich wegen der bedächtigen Fortbewegungsweise, gehört der Trabi zu den Fahrzeugen mit dem größten aktuellen Aufmerksamkeitswert.» (RWB, S. 20) 13 Um einen derartigen Mangel zu kompensieren, hatte Lenin empfohlen: «Einige vorgebildete und gewissenhafte Personen sollen nach Deutschland oder England geschickt werden, um Literatur zu sammeln und diese Frage zu studieren. England nenne ich für den Fall, daß eine Entsendung nach Amerika oder Kanada sich als unmöglich herausstellen sollte.» (LIII, S. 881) 14 GÖTHE 15, 1, 282 W. (Faust 10853), (GG, S. 946) 15 (GG, S. 661) 16 (LIII, S. 877) 17 KOLROSS (1532) in: schweiz. schausp. d. 16. jh.s 1, 88 (GG, S. 949) 19 Brednich (1990, S. 21) formuliert dezent: «daß dieser Wagen bei allen Eventualitäten des Lebens seinen Dienst getan hat und tut.» Dazu der Witz: Ein junger Mann betet zum Himmel: «Lieber Gott mach ihn krumm, daß ich aus dem Trabi kumm.» (RWB, S. 28) 20 (SL, S. 181) 21 H.-A. Oldenbürger: Die wichtigsten Methoden des wissenschaftlichen Arbeitens. 1980, unveröff. Manusk. 22 Aus diesen scheinbaren Erfolgen entwickelte sich im Volksmund für das Gerät die Bezeichnung «Rennpappe». Der Arbeiter- und Bauernmund witzelt: «Was ist ein Trabi mit Turnschuhen auf den Rücksitzen? — Die Ralleyausgabe.» (RWB, S. 21) 23 (PW, S. 178) 24 (LIII, S. 480). 25 Prawda Nr. 250, 7. November 1919. Unterschrift: N. Lenin 26 Im dialektischen Sinne gibt es zur Klasse auch einen Klassenfeind, der die Errungenschaften des Sozialismus sabotieren und untergraben will. Das feindliche Ausland, die westlichen Geheimdienste, der BND, die CIA und der MI5 waren aber nicht in der Lage, eine adäquate Antwort auf die Herausforderung aus Zwickau zu formulieren. 27 «millionen von sonnen ... jede von werdenden welten und ihren trabanten umringet» lautet die Prophezeiung aus dem 18. Jhdt ( ZACHARIÄ (1764) 4, 17. (GG, S. 950). 28 Marchand, Gyot: Calendrier des Bergers. Paris: 1493. Dort wird Phlegmatiker mit einem Schaf symbolisiert. 29 (H. ROSENPLÜT ged. v. Markgrafenkrieg 1450 bei LILIENCRON 1, 433, GG S. 944) 30 (N. MANUEL, 105 Bächt.; (GG, S. 949) 31 SEB. WILD in schausp. a. d. 16. jh. 1, 221 Tittm.; (GG, S.949); Dazu der Witz: «Warum hat der Trabi zwei Schlitze im Dach? — Damit die Dummköpfe, die ihn fahren, ihre Eselsohren hinausstecken können.» (RWB, S. 27) 32 (ME, S. 367) 33 (Gruter, III, 98; Lehmann, II, 864, 62, WA S. 1279) 34 HERMANN V. SACHSENHEIM sleigertüechl. in meister Altswert 254 lit. ver. (GG, S. 944-945) (SL, S. 179) 35 Erich Honecker: Auf sicherem Kurs. Zum 30. Jahrestag der Gründung der SED. In: Reden und Aufsätze, Bd. 4, Berlin 1977, S. 292 36 (N. D. GISEKE poet. w. (1767) 41; (GG, S. 950) 37 IX. Parteitag der SED, Berlin, 18. bis 22. Mai 1979 Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, SED, S. 5. 38 Der Autor der vorliegenden Studie auch! 39 Dazu die Witze: Der Trabi hat kürzlich im Windkanal einen Vergleich gewonnen. — Gegen wen? — Gegen eine Schrankwand; oder: Egon Krenz fragt beim Trabi-Werk an: «Ist es möglich, daß ein Trabi mit hundertzehn in die Kurve fährt?» Antwort: «Es ist möglich. Aber nur einmal!» (RWB, S. 27) 40 Sogar diese Betriebsanleitung wurde in einem VEB-Verlag gedruckt, der ausgezeichnet war für seine Qualitätsarbeit: VEB FACHBUCHVERLAG LEIPZIG Redaktionsschluß 30.6.1983. Gesamtherstellung: INTERDRUCK Graphischer Großbetrieb Leipzig. Betrieb der ausgezeichneten Qualitätsarbeit, III/18/97. KG B 3/84. 41 (LIII, S. 877) 42 Juli 1917, Nachwort am 6. (19.) 10/31.08. 1917 im Rabotschi Nr. 8 und 9, Unterschrift: in Nr. 8 N-kow, in Nr. 9 N. Lenin 43 DANIEL V. SOEST 225 Jostes (GG, S. 949) 44 (SL, S. 111), gleichnamig ein spätsozialistisches Konkurrenzunternehmen zum Trabanten. 45 (LIII, S. 877) Biographische Notiz aus dem Buch: Dr. hist. phil. Dr. rer. nat. Michael H. Schwibbe, Jahrgang 1948, Diplom-Psychologe und Volkskundler, ist Leiter der Stabsstelle EDV/Kommunikation im Deutschen Primatenzentrum (DPZ) in Göttingen, wo er auch lebt. Laubacher Feuilleton 10.1994, S. 12 und 13; wiederabgedruckt in Überall ist Laubach, München 1995, S. 136 – 150 Aus der (vagen) Erinnerung: Verfaßt hatte Michael H. Schwibbe diesen Text ursprünglich für eine interne Festschrift seines Instituts. Dessen Bruder hatte unserem Manfred Jander in der Stammkneipe Rheinpfalz davon erzählt. Und der Autor hat dem Verlag die Veröffentlichung schließlich genehmigt. Dafür auch bald zwanzig Jahre danach noch einmal herzlichen Dank.
Geld und Heilige Kühe, Gold oder Kunst Gedanken eines Spekulanten «Kümmern Sie sich ums Geld», hörte er am Schluß zu sich sagen, und so trivial, volkssporthaft diese Aufgabe herkömmlicherweise in die Tat umgesetzt wird, er wollte mehr — und wußte auch schon wie: Mehr durch Spekulation! Spekulation, was sonst? Selbstzufrieden schmunzelnd begann er an später zu denken, wenn er dem gespannten Auditorium übertrieben leise den Weg zum Geld offenbaren würde. Mit seinem alten Scherz — ‹wer den Pfennig nicht ehrt, ist die Mark nicht wert› — würde er die Erwartungen der Zuhörer in die Höhe treiben, um dann immer noch nicht zur Sache zu kommen. Nein, zunächst gelte es, zu danken. Wertvolle Anregungen kämen von den Babyloniern, den Alten Griechen, von den Antikenforschern Bernhard Laum und Carl Friedrich Lehmann-Haupt. Zeitgenössischer Dank gehe an Otto Steiger, Hans Christoph Binswanger, Michael Ende, Joseph Beuys. Walt Disney schließlich habe in in allerfrühester Jugend die Augen für das Thema geöffnet, habe die fruchtbarsten Bilderkämpfe entfacht, und mit den Geldbädern des Dagobert Duck einen verhängnisvollen Anachronismus auf die Spitze getrieben. Das Haptisch-Stoffliche dieses trägen Rubbelgeldes sperre sich den modernen Anforderungen in unseren Geld-muß-arbeiten-Zeiten. Die Hoffnung, die Lösung verkörperten dagegen die Panzerknacker. Als Vorkämpfer des modernen Prinzips machten sie deutlich, daß die Moneten nicht dem sinnlichen Genuß eines einzelnen, wenn auch noch so netten Bonzen dienen dürften. Das Geld müsse befreit, sozialisiert, unters Volk, auf Trab gebracht werden — zirkulieren. Den in der Jugendlektüre entdeckten Prinzipienstreit habe er sich später zu übersetzen versucht, etwa als: Lord Keynes gegen die Klassiker. Allerdings sei er von solchen Gedankenspielen bald wieder abgekommen. Mehr denn je meine er mittlerweile, daß der Dauerkampf Panzerknacker gegen Duck die realen Geldzustände exakt charakterisiere, nämlich als Herrschaft der Vielfalt. Das heißt, es gebe gar kein Geld an sich, hingegen würden die unterschiedlichen Geldtheorien und -praktiken das Leben durchziehen. Schläfriges Sparstrumpfgeld und lichtgeschwind digitalisiertes existierten in vielen Abstumpfungen und zur gleichen Zeit. Alle Geldbegriffe zusammen hätten sich im Lauf der Geschichte zu einem buntscheckigen Amalgam verschmolzen, zu einem real existierenden Geldgebräu. Das Geld gleiche der Zwiebel, bei beiden könne man auf der Suche nach dem Kern immer mehr Schalen lösen, bis dann zum Schluß nichts mehr übrig bliebe. «Wirklich nichts?» würde er die verdutzten Zuhörer fragen, würde sich zugleich an die Nase greifen, den Mund verziehen und, ohne abzuwarten, selbst die Antwort geben: «Nichts, abgesehen vom Geruch.» So weit also war sein fiktiver Vortrag gleich gediehen, und im selben Stil hat er ihn dann zu Ende geschrieben. Eine goldene Nase im herkömmlichen Sinn war mit dieser Art Spekulation natürlich nicht zu verdienen. «Dafür sind aber auch die Verluste vernachlässigbar», sprach er bedächtig vor sich hin, als er in dem fertigen Manuskript blätterte. Mehr als schon in der fiktiven Einleitung angedeutet, sprang er da von Epoche zu Epoche, handelte von sogenannten Fünfzigpfennigjungfern, von gebrauchsunfähigen Werkzeugen, von Wagenrädern, Goethes Faust, Legionären, Kredit ohne Geld, Gottesbeweisen, davon und von vielem mehr, alles im Zusammenhang mit Geld. Man wird sich wohl persönlich ein Urteil über diese Art der Spekulation bilden müssen. Er selbst meint, daß sein Schluß, die Geschichte mit dem Beuys-Geld, vielleicht noch einmal kontrolliert werden sollte. Aufgebaut hat er seine Argumentation vermeintlich ganz fleischlich: Sollen die doch ihre Heiligen Kühe schlachten! Dieser gute Rat geht einher mit großen Versprechungen, die allerdings nicht, wie man meinen könnte, den Buddhisten in Indien gelten, sondern unseren gebeutelten EG-Bauern. Der in Aussicht gestellte Lohn soll ihnen ein Opfer schmackhaft machen, genau gesagt, ein Tieropfer, zelebriert am Altar der Überproduktion. Vom Strom des Tierbluts — dieser Gedanke drängt sich auf — verspricht man sich systemreinigende Wirkungen. Dahinschmelzende Butterberge, verdampfende Milchseen sollen auf höherer Ebene kristallisieren, eine Metamorphose durchlaufen, von der kostenträchtigen, kräftezehrenden Ware zum einerseits spar-, andererseits dynamisierbaren Geld. Zugegeben, solche Ansichten sind etwas ungewohnt. Was jedoch dahintersteckt, ist einfach: Bevor der Bauernstand selbst vertrieben wird, hält er sich — und züchtet er — potentielle Ersatzopfer, die, je zahlreicher, produktiver, ordengeschmückter sie sind, um so wirksamer seinen Schutz zu übernehmen versprechen. Prinzipiell nicht anders verfuhren — ganz allgemein — unsere vorzeitlichen Brüder und Schwestern, nachdem sich herumgesprochen hatte, daß die Götter einerseits auch mit Ersatzopfern vorlieb nahmen, daß sie andererseits trotz Menschenopfern nicht unbedingt verläßlich wirkten. Die Konsequenz heißt Tierhaltung. Die Tiere schaffen Manövriermasse für religiös-mythische Zwecke. Tierhaltung siedelt im religiösen Denken, und was ihre wirtschaftliche Seite betrifft, so mag da eher jener Satz gegolten haben, der von den Bantu-Negern noch aus dem letzten Jahrhundert überliefert ist: «Warum sollten wir uns Herden halten? Die Tiere sind doch da, um für unsere Ernährung zu sorgen, und nicht umgekehrt, wir für die ihre.» Die Entwicklung für Menschenopfer über das Opfertier zum Geld bahnt sich im Kultischen ihren Weg. Wenn diese Aussage im folgenden mehr und mehr Plausibilität erlangt, dann müßte auch jene Behauptung akzeptiert werden, die da meint, der Handel und die Wirtschaft hätten das Geld nicht erfunden sondern vorgefunden; hätten es dann für ihre Zwecke übernommen und adaptiert. Dies klingt schon einigermaßen logisch, wenn man bedenkt, daß ein eigenes Wertsystem zu erfinden, zu lancieren und durchzusetzen für die Wirtschaft ungleich mühsamer gewesen wäre. Der Umweg über eine bestimmte Wertrelation mag dies verdeutlichen: die Wertrelation zwischen Silber und Gold. Lange Zeit, von der Antike bis weit hinein in Mittelalter und Neuzeit galt in vielen Landstrichen die Relation 13 1/3 : 1 als Wertverhältnis zwischen Silber und Gold. «13 1/3 : 1 = 40 : 3, verhalten sich, worauf zuerst Lehmann-Haupt hingewiesen hat, ‹wie 360 : 27›, d. i. das Verhältnis der Tageszahl des sexagesimalen Rundjahres zu der des periodischen (siderischen) Monats bzw. das Verhältnis der scheinbaren Umläufe der Sonne und des Mondes. ‹Gold ist hier der Sonne gleichgesetzt und Silber dem Monde. Ob der Mythische Vergleich zwischen Sonne und Gold, Mond und Silber das Hysteron oder das Proteron ist›, mag unentschieden bleiben.» (Beides, Zitat und Zitat im Zitat, präsentieren Lehmann-Haupts Erkenntnisse in Kurzform. Ausgedehnte Beweise führt er um diesen Satz auf Seite 598 herum in dem grundlegenden Artikel über ‹Gewichte› in Paulys Real-Encyklopädie, Supplementband 3, Stuttgart 1918.) 13 1/3 : 1, als kosmischer Takt im Reigen der Himmelsgötter, als Liaison zwischen Sonne und Mond galt den babylonischen Priestern erhaben genug, um auch Modell sein zu können für weltliche Beziehungen. Maße in Zeit und Raum sind dieserart vom Himmel über die Babylonier nach Westen gewandert. Lapidar vermerkt dazu Lehmann-Haupt: «Wo Zahlenverhältnisse zu ordnen sind, stützt man sich überhaupt stets gerne auf bereits gegebene, wenn auch auf anderem Gebiete verwendete und wirksame Abstufungen und Verhältnisse.» (Seite 599) Von planetarischen Konstellationen als Norm scheint heute nichts mehr übrig zu sein. Schon jede Stammtischrunde würde schwören, daß die Preise aus nichts anderem als der Knappheit resultieren. Wer jedoch weiß mit Sicherheit, wie knapp dies und jenes ist oder oder gar in Zukunft wird? Global bestimmt niemand, und trotzdem würde man seine Hand ins Feuer legen dafür, daß Gold immer teurer sein müsse als Silber. Daß es aber so ist, liegt einzig an der Relation 13 1/3 : 1. Aus dem Bewußtsein gerückt und doch darin eingesenkt bildet die Relation die Norm, die die Rangfolge zwischen Silber und Gold begründet und die neben vielen anderen, hier nicht erörterten Elementen der kollektiven Erfahrung Orientierungspunkte markiert. Die Norm regelt den Grundsatz und — jetzt wieder bezogen auf Silber und Gold — setzt den Fixpunkt, um den herum dann erst die temporären Knappheiten und Überschüsse den Tagespreis tänzeln lassen. Diesen realen, irdischen Marktumständen verschloß sich übrigens auch das alte Babylon nicht und setzte doch alles — nämlich Macht — daran, um der himmlischen Ordnung auch auf Erden Geltung und Wahrheit zu verschaffen. Mit Macht wurde durchgesetzt, daß die Tribute aus den eroberten Gebieten in der erwähnten Quelle flossen. Die Quote war das Werkzeug, mit dessen Hilfe den Besiegten die babylonischen Himmelsgötter ins Bewußtsein gemeißelt wurden. Das Werkzeug diente, so darf man vielleicht sagen, geistigem Hegemoniestreben; die Wirtschaft hatte an alledem offenbar keinen Anteil. Ihre Grundlage hatte die Gold-Silber-Relation im Himmel, und davon sollte der kleine Umweg über Babylon zeugen. Nun aber zurück zur Geldfrage. Die Entwicklungslinie vom Menschenopfer über das Opfertier zu dem noch symbolischereren Opfer Geld steht zur Debatte. Alle drei gelten nur, wenn man an sie glaubt. Der Glaube ans Geld liegt heute in seiner simulierten Kaufkraft. Sollte hingegen jedes Geldstück diese Kraft real beweisen, dann fände sich niemand, der Geld akzeptierte; jeder wollte es ja umsetzen. Dem gegenüber auf die augenblickliche Vergewisserung zu verzichten, zugunsten späterer Segnungen, ist allen Opfern gemein. Nur, anstatt der Kaufkraft, ist es beim Götteropfer die Weihe durch den Priester, die die Anerkennung vermittelt. Neben dieser Ähnlichkeit geht die Spur des Geldes noch ganz unmittelbar in den Kult zurück: Zum kultischen Opfer gehören Gerätschaften, und mit diesen zu hantieren, zeichnet die berechtigte Person, den Priester aus. Die Übertragung solcher Werkzeuge vermittelt Prestige an die Nächsten, die kultischen Geräte selbst erhalten eine Aura, werden Objekte des Glaubens und Begehrens. Der Schritt zu einer Art ‹Gerätegeld› könnte erfolgen, indem die Priester solche Werkzeuge an würdige Nachfolger weitergeben und, mehr noch, an verdiente Personen — einem Orden gleich — verleihen. Tatasächlich fand Gerätegeld in der Bronzezeit weite Verbreitung, war in ganz Mitteleuropa in Gebrauch, wobei allerdings schon massenhafte Verwendung darauf schließen läßt, daß hier nicht nur Originale in Umlauf kamen. Um Fälschungen aber handelte es sich ebenfalls nicht, in Umlauf gelangten schlicht Nachbildungen der ursprünglichen kultischen Geräte. Diese Opferwerkzeuge waren im praktischen Sinne keine mehr. Ihre Form war stilisiert, verkümmert. Die Äxte etwa hatten stumpfe Schneiden, geringere Größe, verengte Stiellöcher; dem ideellen Wert dieser Gegenstände konnte das jedoch nicht schaden. Zu beweisen ist es zwar nicht, aber die Möglichkeit liegt nahe, daß die Priester selbst solche Nachbildungen der Kultgeräte anfertigen ließen und in Verkehr brachten — dies, um dem Opfernden einen Beweis seiner Gabe aushändigen zu können, ihm wieder, dem Orden gleich, ein Ehrenzeichen zu verleihen. Einen ähnlichen Wandel in Richtung Gerätegeld haben die bronzenen und später eisernen Spießchen durchgemacht, die im frühen Griechenland dazu dienten, den Beteiligten am öffentlichen Opfermahl die ihnen zustehende Fleischration zuzumessen. Den Bürgern wurden dieserart ihre Verdienste für den Staat durch den Staat entgolten, wobei die Fleischration als ‹Zahlung› mehr als schlichten Nährwert besaß. Ihr Mehrwert hieß Ehre, war die Auszeichnung, die man als Teilnehmer am gottgeweihten Opfermahl erfuhr; ein gewisses Mengenargument steigerte die Ehre, und das drückte sich in der Größe des Spießchens aus, das man beim Opfermahl zugeteilt bekam. So ein Spießchen übrigens hieß ‹Obelos›, und im Zusammenhang mit Geld kommt der Obolus selbst heute noch vor. Eine Form des Geldes, die ebenfalls bis heute ungebrochen existiert, ist das Rund der Münze. Entstanden ist diese Münzform im siebten vorchristlichen Jahrhundert. Könnte sie nun ebenfalls als Gerätegeld bezeichnet werden? Die Münze ist rund — rund wie das schnelle Wagen-, das fleißige Spinnrad. Von dieser Seite betrachtet wäre das Vorbild dieser Münzform recht irdisch. Ebensogut könnten aber auch hier die Götter mitgespielt haben; sie hätten, vermittelt über die Priester, das Rad als ihre Spende für die Menschen reklamiert. Eine durchaus nützliche Geste wäre das, besonders daran gemessen, daß in der Legende das Feuer den Göttern noch hatte gestohlen werden müssen. Wie dem auch sei, immerhin taugt die runde Form der Münze trefflich zum göttlichen Symbol. Um die Götter sollte sich das Leben drehen, dies könnte der Kreis in seiner Ewigkeit, ohne Anfang und Ende, vermitteln. Immerhin zeigten die Prägebilder auf den Münzen lange Zeit kultische Szenen, Opfergaben und deuteten in Richtung Opferersatz — man betrachte nur die deutsche Fünzigpfennig-Jungfer, die anstatt ihrerselbst einen Eichbaum übergibt. Das Werkzeuggeld in seiner ganzen Vielfalt stammt — das ist wohl nicht zu leugnen — aus dem Opferkult. Diese Werkzeuge nebst Nachbildungen wurden ‹verliehen› und begannen als sakrales, nicht wirtschaftliches Wertobjekt zu zirkulieren. Auf staatlicher Ebene dienten sie zur Abgeltung einer außerwirtschaftlichen Schuld, sie dienten als Zahlungsmittel im religiösen und rechtlichen Leben. Auch der Sprung in die Wirtschaftssphäre, vom Zahlungs- zum Tauschmittel, muß eng mit diesem Glauben verbunden gewesen sein, profan ausgedrückt: mit Kredit. Die Notwendigkeit des Kredits setzt temporär unvollständigen Tausch voraus, d. h. die Erfüllung der materiellen Gegenleistung ist für einen späteren Zeitpunkt versprochen. Daran zu glauben fällt leichter, wenn jemand dieses Versprechen gibt, der schon anderweitig positiv ausgewiesen ist, etwa als Besitzer dieser außerökonomischen sakralen Wertobjekte. Solche immateriellen Wertzeichen dann auf den Gläubiger zu übertragen — als Pfand —, wird die nächste Stufe sein. Nach Einlösung der materiellen Schuld muß das Pfand den Rückweg zu seinem ursprünglichen Besitzer antreten; das Pfand würde sich wieder zurückverwandeln von der Kreditsicherung zum immateriellen Wertstück. Ist andererseits die Akzeptanz des Pfandes erst universell geworden, dann löst sich das persönliche Band zwischen Pfandgeber und Pfand. Das Pfand beginnt frei zu zirkulieren, und dem Versprechen auf Gegenleistung, das es in allgemeiner Form in sich trägt, glaubt man analog zum Götteropfer: Via Kredit zieht das Geld ins Wirtschaftsleben ein und stützt jetzt den Glauben an die ersehnte Gegenleistung. Vom Götterzeichen als Begrenzer der Ungewißheit im Universum wandelt sich das Geld zum Beruhigungsmittel für Handel und Wandel; Wandel zum Beispiel, wie er im England des ausgehenden 14. Jahrhunderts stattfand. Die Welt dort hatte sich damals gründlich verändert. Nach Bauernaufständen waren dem Adel die Leibeigenen davongelaufen. Ihre Revolution blieb jedoch auf halber Strecke stecken, Land erstritten die jetzt Freien nicht. Dem Adel andererseits nützten mangels Arbeitskräften die Ländereien nur noch wenig; die alten Verhältnisse waren zebrochen, die neuen blieben unvollständig. Etwas mußte geschehen, um die beiden Getrennten, Arbeit und Boden, wieder zusammenzubringen. Das Bindemittel hieß Kredit; Geld aber war in dieser naturalwirtschaftlich dominierten Gegend kaum in Umlauf. Sogar die Aristokratie war, im finanziellen Sinne, mittellos. Schaden sollte das nicht, denn der damalige Kredit setzte überhaupt kein Geld voraus. Es gaben ihn die Ärmsten, die freien Bauern, indem sie, bewegt von dem Versprechen, am Ertrag beteiligt zu werden, die Feldarbeit wieder aufnahmen. Kommt dieses Versprechen schriftlich daher, dann ist geradezu ein Wunder vollbracht, der Geldschein erfunden. Literatur geworden ist diese Art Geldschöpfung bei Goethe, im Faust, in der Tragödie zweitem Teil. Um dort sozusagen der Inflation vorzubeugen bzw. den Kredit, den Glauben ans Geld nicht zu verspielen, muß sein Herrschaftsgebiet wachsen, wird im Drama dem Meer neues Land entrissen. Nach dem gleichen Muster stützten die römischen Legionäre das Geld und arbeiteten zunächst auf Kredit. Sie bekamen zwar Münzen, mußten denen aber im Feindesland erst noch Anerkennung und Geltung verschaffen. Ihr Eigeninteresse und das Machstreben der Kaiser wirkte dieserart — wie später in England — trefflich zusammen. Wirtschaft und Geld, nachdem beide zusammengekommen waren, haben sich durchaus kräftig befruchtet. Den Glauben an das Geld beflügelten dessen kultische Wurzeln; die Verweltlichung des Geldgebrauchs aber ließ das Wissen um seinen göttlichen Ursprung verkümmern. Das Geldgeheimnis wuchs, der Glaube daran wanderte von außen, von Form und Prägung der Münze, nach innen, zum Material. Die Wertschätzung geht vom Bild zum Bildträger, und der muß dann selbst mehr und mehr vom Feinsten bieten: Edelmetall. Daß aber auch die Edelmetalle voll sind von religiöser Symbolik, mag nicht nur die babylonische Gold-Silber-Gleichung in Erinnerung rufen. Hinzu kommt die Zeitlosigkeit des Edelmetalls — rostfrei, ewig, wie die Götter. Solche Ähnlichkeiten waren nicht zufällig. Sie wurden im Gegenteil bemüht, und das läßt sich aus dem harschen Umgang schließen, den die Herrschaft mit eigenmächtigen Münzfälschern pflegte: In allen griechischen Staaten und auch in Rom stand auf Münzfälschung der Tod, und bis in die mittelalterliche Strafordnung hinein galt sie als geistiges Vergehen, nicht als weltliches Delikt. Das war so, obwohl andererseits die Münzen immer deutlicher zum Propagandamittel der weltlichen Herrscher mutierten, die Münzstempel den Ruhm der Herren in die Welt zu tragen hatten und ihren raumzeitlichen Machtanspruch auf diesem Wege markierten. Die modernen Geldformen stehen mittlerweile zu ihrer weltlich-wirtschaftlichen Existenz. Sie verzichten, laut Lehrbuch, auf jeglichen inneren Wert, und selbst solche Hilfskonstruktionen wie die Golddeckung sind, obwohl sich das anscheinend noch nicht überall herumgesprochen hat, abgeschafft. Ersatzlos. Geld muß heute nichts anderes als funktionieren, als Recheneinheit, als Zahlungsmittel, zur Wertaufbewahrung. Welche Rolle aber spielt in diesem kühlen Funktionalismus der Zins, eine Einrichtung übrigens, gegen die das Christentum jahrhundertelang Sturm gelaufen ist, die Allahs Banken noch heute verschmähen? Bei aller Diesseitigkeit des Geldes: der Zins vermittelt ihm so etwas wie Schöpferkraft von innen heraus, ist vom Charakter her das, was auf religiöser Ebene nie gelungen war: Gottesbeweis. Während den Göttern die Hände gebunden sind, bekommt man die Gewalt des Geldes schwarz auf weiß vorgeführt — z. B. per Zinsgutschrift auf die über 600 Milliarden Sparmark, die bundesdeutsche Privathaushalte mittlerweile angesammelt haben. Wie fruchtbar jedes einzelne dieser Markstücke im Zeitablauf rechnerisch wäre, hat der Schriftsteller Michael Ende vorexerziert, als er 1985 in Wangen im Allgäu mit einem anderen Künstler, Joseph Beuys, drei Tage lang diskutierte. Eine Mark im Jahr Null auf die Bank gebracht, ergäbe, so Ende, bei fünf Prozent Jahreszins in der Gegenwart ein Vermögen, das dem Wert von vier Goldklumpen entspräche — jeweils im Umfang der Sonne. Jemand, der im gleichen Zeitraum fleißig gearbeitet hätte, etwa fünf Millionen Arbeitsstunden, käme auf einen bedeutend kleineren Goldklumpen: Durchmesser eineinhalb Meter. Daß diese Geschichte nicht unendlich funktionieren kann, scheint logisch, und für Michael Ende ist klar: der Besen ist dem Zauberlehrling außer Kontrolle geraten. «Alles unter Kontrolle», melden hingegen die wirklichen Fachleute, und gegen die wiederum hat Joseph Beuys seine Argumente vorgebracht. Das Geld, so Beuys, dürfe lediglich als ‹Rechtsdokument› fungieren und nicht, wie mittlerweile üblich, als eigenständiger ‹Wirtschaftswert›. Was darunter zu verstehen sei, hat Beuys nicht nur mit Worten versucht darzustellen. Nach umfangreichen Recherchen und Gedankenexperimenten, nach verworfenen und immer wieder neu installierten Versuchsanordnungen hatte sein Geldwesen im Jahr 1982 das ‹Labor› hinter sich gelassen. Ein Prototyp des Beuys-Geldes war entstanden, der dann im Feldexperiment geprüft werden mußte. Dies geschah in Gestalt der ‹7000 Eichen› auf der documenta 7 in Kassel. Zu sehen gab es dort zunächst eine amorphe Skulptur aus 7000 vor dem Fridericanum aufgeschichteten Steinquadern. Trotz seiner unartifiziellen Behäbigkeit war das Gebilde mehr als labil; es trug insofern Dynamik in sich, als seine 7000 Bestandteile an dieser Stelle nicht bleiben sollten. Jeder einzelne Stein war dazu bestimmt, umzusiedeln, an anderer Stelle im Stadtgebiet neben einer neu gepflanzten Eiche zur Ruhe zu kommen. Auf ihrem Weg in die Stadt verwandelten sich die Steine in symbolische Werkzeuge. Sie bewirkten, anders als die versteinerten ‹Argumente› der Demonstranten, ein Sesam-öffne-Dich, die Beseitigung des Asphalts, um aus der Erde neues Leben sprießen zu lassen. Die Umsetzung, der Umsatz, erbrachte je Stein 500 Deutsche Mark, und so begann ein Wandlungsprozeß, der aus 7000 mal 500 kapitalistischen Geldeinheiten dreieinhalb Millionen Alternativ-Mark metamorphisierte. Schlichter ausgedrückt: diese Einnahmen bildeten den Grundstock zur Vorfinanzierung, Kreditierung weiterer ökologischer Projekte; die Bepflanzung des Spülfeldes in Hamburg sollte ja folgen. Über das Bäumepflanzen hinaus wollte Beuys mit seinem Kasseler Prototyp die Wandelbarkeit des Geldwesens selbst erkunden. «Der Funktionswandel des Geldes», so schrieb er im begleitenden Documenta-Katalog, habe durch die Geldemission der modernen Zentralbanken ein neues Kreislaufsystem entstehen lassen, ohne daß dem der Geldbegriff selbst adäquat angepaßt worden wäre. Um dies nachzuholen, sei das Geld keineswegs gänzlich abzuschaffen. Es reiche die partielle Beschneidung der Rechte, die von ihm ausgehen. Eine wesentliche Grundlage seiner Gedanken zum Geld spielt die von ihm so genannte ‹Demokratische Zentralbank›. Schon 1977 hat Beuys auf einer seiner ‹31 Tafeln um Geld› (vgl. den Katalog zur Ausstellung ‹Museum des Geldes›, Düsseldorf 1978) das Schema dieser ‹anderen› Zentralbank skizziert. «In 5 Jahren nachkontrollieren!» steht auf einer der Tafeln über einem Gewirr von Kreidekreisen und hingekritzelten Begriffen zu lesen. Diese damals von ihm geäußerte Notwendigkeit der Kontrolle fand dann — so hat es den Anschein — tatsächlich statt, eben auf praktische Art: in der Aktion ‹7000 Eichen›. In dem erwähnten Katalogtext von 1982 schreibt Beuys dazu, daß Geldschöpfung in seiner wie in der herkömmlichen Zentralbank aus dem Nichts geschieht. Von dort aus geht das Geld als Kredit an die Unternehmungen. Es leistet — auch das ist im Prinzip nichts Neues — die Vorfinanzierung der Produktion und läßt zugleich die Einkommen der Arbeitnehmer entstehen. Bei der folgenden Einkommensverwendung fließen hier wie dort die Konsumentenausgaben als Umsätze an den Produktionssektor zurück. Jetzt aber, anders als im ‹wirklichen› Leben, wird das Beuys-Geld wertlos: «Als solches berechtigt es die Unternehmen, an die es gelangt, zu nichts.» Diese Einnahmen müßten in voller Höhe an die ‹Demokratische Zentralbank› zurückfließen, und von hier aus wird die neue Produktionsrunde eingeleitet. So eindeutig dieses Schema zu sein scheint, auf der praktischen Ebene läßt es noch viele Fragen offen. Woher sollte z. B. ausgerechnet eine noch so demokratische Zentralbank ihre Weisheit nehmen? «Wir werden sehen», hatte Beuys auf solche Bedenken gerne geantwortet, ohne damit auf die visuelle Ebene zu setzen. Wirklich zu sehen gab es im Lauf der Zeit nur das, was zu erwarten war: 7000 ungleiche Paare, ein Baum, ein Stein, in Kassel verteilt. Mehr Stoff zu verarbeiten bekam hingegen das geistige Auge; ein Kunststück vielleicht würde sich da auftun, von dem wahrhaft zu behaupten wäre, daß jeder es vollbringen könne. Ein Wirtschaftswert, verkäufliche Kunstwerkware ist solche Massenkunst natürlich nicht. Ihr Wert wäre von anderer — ökologischer — Natur. Beuys selbst ist mit dieser Aktion aus der Kunst ausgetreten, und so ein Ausstieg ist doch wohl ein Opfer, zumindest auf wirtschaftlicher Ebene. Mit dem Künstler übrigens haben noch viele andere, etwa die Käufer der Steine, Verzicht geübt: Verzicht auf persönliches Eigentum als Gegenleistung für ihr Geld. Nicht einmal — Modell Parkbank — ein dezentes Spendertäfelchen hält die Erinnerung an sie wach. Die Opfer allenthalben machen — wiederum geistig — aus den Pflanzungen in Kassel 7000 Opferstätten, die, in diesem Fall, den ökologischen Göttern geweiht wären. Als erstes Zeichen der Götter, daß sie von den dargebrachten Eigentumsopfern angetan sind, gilt das Stück Erde, das sie für neues Leben, zur Stadtbewaldung, freigegeben haben. Demgegenüber zu behaupten, es sei das Geld gewesen, das diesen Prozeß bewerkstelligte, wäre zweifellos ebenso berechtigt. Faktisch waren es beide nicht, weder Steinquader noch Geld, die das Werk vollbrachten. Geschafft haben es — eine Platidüde — die Menschen. Als übergeordnetes Werkzeug, um die Getrennten, Natur und Zivilisation, sich wieder ein Stückchen näher kommen zu lassen, diente Geld; allerdings scheint auf, daß mit zwei ganz verschiedenen Geldbegriffen das Ziel zu erreichen wäre. Mit herkömmlichem Geld, das sich nie verbraucht, das die Menschen sogleich zur nächsten (Un-)Tat drängt, um stetig die Zweifel an seiner ewigen Fruchtbarkeit zu widerlegen. Das andere Geld — das Beuyssche Rechtsdokument — käme nach vollbrachter Tat zur Ruhe. Seine Kraft wäre verbraucht, es würde niemanden und zu nichts mehr berechtigen. Dauerhaft geschaffen hat die Kasseler Aktion solche Rechtsdokumente natürlich nicht. Auch die 3,5 Millionen Zuflüsse von den 7000 Steinkäufern sind dem herkömmlichen Geldkreislauf nicht wirklich entzogen. Immerhin aber, zumindest im Bild, ist dieses andere Geld entstanden, in Form der Steinquader nämlich, die nach vollbrachter Tat zur Ruhe kommen und verwittern. Als stumpf gemachte Nachbildung der weltbewegenden Geldkräfte treiben diese Werkzeuge nur noch die Legendenbildung an, nicht das Wirtschaftsleben. Rainer Willert Laubacher Feuilleton 9.1994, S. 4
|
weiterblättern ist das anwachsende Archiv der édition csc, mittlerweile in aktueller Fortsetzung. Partenaire, Partner. Letzte Aktualisierung: 05.12.2013, 18:31
Zum Kommentieren bitte anmelden.
Links: ... Aktuelle Seite ... Inhaltsverzeichnis ... Autorinnen und Autoren ... Inwendiges ... Impressum ... Blogger.de ... Spenden Letzte Kommentare: / Biographische Notiz (edition csc) / Martin Knepper (edition csc) / Enzoo (52 [2.10.2012]): (edition csc) / Liebe virtuelle Verleger, (edition csc) / Unglaublich (jean stubenzweig) / Herbert Köhler (edition csc) / Das sehen wir (edition csc) / Guter Artikel! (wolfganggl) / nur konsequent, dass storck... (vert) / Telephon-Spiele (edition csc) / Ein Porträt (edition csc) / Unser Häus'chen (daniel buchta) / Die bagonalistische Ballastung (edition csc) / Dictionnaire (edition csc) / Eine Antwort (edition csc) / Please copy (einemaria) / kid37, "We learned more from... (kreuzbube) / Der bildenden Zeitung (edition csc) / Da sieht man es. Nicht in... (kid37) Privatsphäre: Suche: |
|
|