Rhapsoden des Ich Die Autobiographie aus der Maschine «Was alle Autobiographien so wertlos macht, ist ja ihre Verlogenheit» — so beklagte Freud einmal, und bereits Goethe hatte die autobiographische Dichtung als lauter «Maskerade» bezeichnet. So daß von dieser Textsorte vielleicht gar nicht als einer ars memoria, sondern mehr von einer ars oblivionalis zu sprechen wäre, wie noch jüngst in Harald Weinrichs Buch Lethe angeregt — produziert wird damit kaum Wahrheit oder Aufrichtigkeit, aber um so mehr Text nebst allen Inszenierungsformen, die die Schrift des Ich annehmen kann. Und doch scheint weniges ausgeprägter als das Verlangen nach der aufrichtigen, ehrlichen Lebenskonfession eines bekannten Autors oder einer populären Figur. Sieht man sich die Flut autobiographischer Texte in den letzten Jahren an, könnte man — Roland Barthes würde es so nennen — von einem neuen autobiographischen Begehren sprechen. Mittlerweile kommen bereits 30jährige mit ihren Memoiren nieder: ob Madonna oder Michael Jackson, fix und fertig das Leben für die Akten oder für die Selbstvermarktung; ob Franz Beckenbauer oder Helge Schneider, ob die Ex-Terroristin Inge Viett oder Geheimdienstchef Markus Wolf, jeder darf mal, schließlich natürlich Autoren des Höhenkamms: Heiner Müller, Christa Wolf, Ludwig Harig, Günter Kunert, Rainald Goetz und andere. In Zeiten der forcierten technischen Entwicklung scheint es so etwas wie ein Bedürfnis nach Aufrichtigkeit und Expressivität zu geben, das vielbeschworene Verschwinden des Subjekts in der digitalen Nacht steht einer Renaissance des Körpers und der unmittelbaren Erfahrung entgegen wie auch dem verstärkten Hang zur Selbstreflexion. Der avancierte Text, will er nicht bloße Unterhaltungsliteratur sein, bricht aber auch das Ich in seinem Aufschreibemedium — Federkiel, Buchdruck, Schreibmaschine, Hypertext — bis zum völligen Verlust von Authentizität. Der autobiographische Anlaß wird zur literarischen Prüfung — und umgekehrt kann schließlich das Leben durch diese Überformung zum Stil und damit selbst zum ästhetisch überhöhten Kunstwerk werden. Über die Motive, warum Leute nicht aufhören, sich aufzuschreiben, ist raumgreifend gerätselt worden nebst zahllosen Dissertationen, Habilitationen oder ähnlichen (ihrerseits rituellen) Übungen. Zu weiten Teilen geht es dabei um Rechtfertigung, politische oder religiöse Beichtkunst — es kommt seit Sokrates zur Konjunktur der Kunst, es nicht gewesen zu sein, dessen man verdächtigt wird, aber auch zum Innehalten des eigenen Bildes vor Gott. Nicht selten versteigt sich der Autor auch, vorbildhaft und ein Exempel für andere zu sein, siehe Goethe in seiner Italienischen Reise mit der Absicht, «daß ich so viele Schätze nicht zu eignem Besitz und Privatgebrauch mitbringe, sondern daß sie mir und andern durchs ganze Leben zur Leitung und Fördernis dienen sollen». Der Wunsch nach persönlicher Erinnerung begleitet dies: das Bild zu gewinnen, wie man wirklich oder mutmaßlich gewesen ist, die summa vitae ziehen und sich damit in das Buch der Welt einschreiben. Das eigene Ich aber auch für den verbleibenden Rest des Lebens zu bilden, allerlei Selbstkonstitution zu treiben, ist für viele Autoren Zweck der Sammlung, wie es Thomas Mann gesagt hat — «Niemand bleibt ganz der er ist, indem er sich erkennt.» —, noch deutlicher Montaigne: «Mein Buch hat mich ebensosehr gestaltet, wie ich mein Buch gestaltet habe.» Und für Autoren bedeutet Selbstkonstitution eben auch ästhetische Selbstrechtfertigung: das betrieb bereits der Sophist Isokrates, der Anklagen erfand, um sich in einer Rechtfertigungsschrift mit seiner philosophischen Schule zu profilieren — damit läßt sich die bevorzugte Kunsttheorie untermauern, was manchmal auch in Reflexionen über das Erinnern und das Gedächtnis allgemein mündet, also zur mnemotechnischen Übung wird. Ferner kann man eingreifen in öffentliche Diskussionen, sich zur Stellungnahme herbeilassen in moralisch-politisch-ethischen Fragen. Schließlich ein scheinbar schnöder Grund, der aber in den Grenzüberschreitungen der Postmoderne immer wichtiger wird: ein Autor will sich für den literarischen Markt präparieren, er wird interessant gemacht qua Lebenslauf. Die Selbstschrift als Marktstrategie kann aber auch für alle anderen Bereiche des Business gelten, siehe genannte Madonna, Helge Schneider, Markus Wolf, Lothar Matthäus (Tagebuch!) und andere Showgrößen. Für den rhapsodischen Wahrspruch ist die Autobiographie wohl als letztes geeignet, auch wenn sie mit dem Anspruch, des Lebens des Autors wirklich habhaft zu werden, immer wieder überlastet wird — so etwa von Philipp Lejeune mit der Idee eines autobiographischen Paktes, wonach der Leser sich darauf verlassen können müsse, ein nicht-fiktionales Buch in Händen zu halten, sofern der Autor nur versichere, daß das erzählende Ich und das Autor-Ich identisch seien. Ganz krude wird es aber dann, wenn der Lebensgang auf empirische Stimmigkeit abgeprüft wird — jüngstes Beispiel dafür ist Karl Corino, der an Stephan Hermlins Abendlicht zahlreiche detektivische Entlarvungen vornimmt, ohne zu erkennen, daß es sich um ein in der DDR gängiges Sprachspiel der Gattung ‹sozialistische Heldenvita› handelt mit eingeübten Ritualen der Wahrheitsmodifikation. Vor dem buchstäblichen Ernstnehmen der Ichschrift hat nicht nur Freud gewarnt, der dem Subjekt nur selten klare Momente, vielmehr aber die Fähigkeit zur Selbsttäuschung zusprach. Goethe, Übervater moderner Autobiographen, hat aus seiner Überzeugung keinen Hehl gemacht, «daß der Mensch in der Gegenwart ja vielmehr noch in der Erinnerung die Außenwelt nach seinen Eigenheiten bildend modele» — und wurde doch meist heroisierend als Wahrsager seiner selbst rezipiert. Systematisch hat diesen Gedanken Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen mit einer langen Geschichte der Religionen, Mythen, Wissenschaften, Sprachen und Künste ausgearbeitet: daß Wahrnehmung, selbst von sogenannten rohen Sinnesdaten, auch Konstruktion ist, Überformung des Wahrgenommenen. Das gilt auch für die Selbstwahrnehmung nebst Erinnerung. Das Erinnerungsproblem, wie es als Topos bei fast allen modernen Autoren vorkommt, wird hier aber positiv gewendet — von «Aktivität des Bildens» ist die Rede. Cassirer steht nicht nur in der skeptischen Tradition Kants, sondern hat auch von Goethes poetischem Wirklichkeitsverständnis gelernt, wenn der in Dichtung und Wahrheit schrieb: «Verlischt hingegen das Andenken der Urgestalten immer mehr und mehr, so treten die Nachbildungen unvermerkt an ihre Stelle, sie werden uns so teuer, als es jene waren, und was wir anfangs mißachtet, erwirbt sich nunmehr unsere Schätzung und Neigung.» Diese Idee der Selbstgestaltbildung durch symbolische Formen ist noch heute für die Sozialpsychologie interessant, die solche fiktionalen Ich-Entwürfe und Selbstliterarisierungen des Ich untersucht. Möglichkeitssinn lautet die Formel, Probleme der Rollenkomplexität mit einer patchwork-Identität zu beantworten und diese im Selbsttext gefahrlos auszuprobieren — eine lose Ich-Konstruktion auf Widerruf soll gegeben werden. Wer aber ‹Ich› schreibt, tut das nicht in freier Schwebe, sondern unter vielerlei Bedingungen: die Rhetorik des Subjekts ist diskursiv umzingelt. Foucault zeigt in seiner Machtanalytik die Genese des Gewissens aus der Geschichte der Gefängnisse mitsamt Disziplinarstrategien und Überwachungstechniken. Das Spähprinzip dehnt sich aus auf alle gesellschaftlichen Bereiche, Spitzeldienste aller Art entsprechen einem gesteigerten Informationsbedürfnis des Staates — von Foucault Panoptismus genannt. Der Mensch, wird, wie Foucault sagt, zum Geständnistier mit Beichtzwang auch aus religiöser Praxis, woraus wiederum allerhand Textsorten hervorgehen: Verhöre, autobiographische Berichte, Briefe, all das zu Dossiers zusammengestellt von den Menschenwissenschaften Medizin, Psychiatrie oder Pädagogik. Mit Nietzsche, der damit ebenfalls auf die Justiz und Religion abzielt und den Foucault gut gelesen hat, ließe sich verzweifelt resümieren: «Wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbstkreuzigung von zwei Jahrtausenden: darin ist unsre längste Übung.» Solche Wahrheitsrituale aber, so kann Foucault historisch zeigen, produzieren nichts als neue Lügen, immerhin Texte, die konstitutiv für Gesellschaften sind. Die Wendung des späten Foucault zu Selbsterfahrung und Selbstreflexion scheint nun erstaunlich, ist dies allerdings weniger, wenn man bedenkt, daß es ihm immer darum gegangen ist, welche Rolle das Subjekt unter Bedingungen von Macht- und Wissensordnungen gespielt hat. In seinen letzten Texten geht es um Selbsttechniken, Verhaltensstile und insgesamt um eine Ästhetik der Existenz, die er bereits in der (Spät-)Antike in den Formen der Selbstreflexion des Individuums zeigt. Aus dem Leben soll ein Kunstwerk gemacht werden, das auch ästhetischen Kriterien standhalten kann. Foucault zeigt das an den griechischen hypomnemata, bei Xenophon erwähnt und schon Gegenstand der platonischen Schriftkritik: es handelt sich um Notizbücher, die zu persönlichen und zu Verwaltungszwecken gleichermaßen verwendet wurden. Sie waren — obwohl nicht als intime Tagebücher gedacht — doch der wohl früheste Ort von Selbstexaminationen, Gedächtnisübungen oder Bewußtseinsprüfungen. Damit gesteht Foucault dem Subjekt, das er vormals nur als drangsaliertes Geständnistier im Auge hatte, nun auch positive Gestaltungsmöglichkeiten zu — er spricht vom Menschen als Erfahrungstier. In der Selbstschrift liegt die Möglichkeit nicht nur der Ich-Findung, sondern auch des persönlichkeitserweiternden Experiments. Der französische Begriff dafür, expérience, ist doppelt gefaßt und bedeutet sowohl die sensuell-unmittelbare Lebenserfahrung des Ich als auch ein Selbstexperiment im statistischen Sinne, also die Reflexion des Ich im gesellschaftlichen Zusammenhang. Das Wahrheitsspiel, wie Foucault diesen ganzen Komplex bezeichnet, wird zur Möglichkeit der Lebensgestaltung jenseits von Empirie und Moral, das griechische techne tou biou bezeichnet die Kultivierung des Ich in der Selbstschrift. Schreiben im Wunderland Mit den hypomnemata ist auch ein erstes Medium genannt, das nach Foucault der informatischen Revolution vergleichbar in den Alltag und die Schreibpraktiken eingreift. Dieser mediengeschichtliche Betrachtungspunkt soll nun zeigen: nicht nur ist ohnehin das Verhältnis von Ich-Erleben und Aufschreiben gespalten, sondern durch technischen Einsatz wird diese Differenz noch deutlicher. Der Buchdruck mit beweglichen Lettern beförderte den Selbstprüfungsimperativ, diese ganze Tradition, die sich über die Confessiones des Augustinus über Montaignes Essais als Ichbeschau zieht. Tagebücher werden im 17. Jahrhundert nicht nur zum eigenen Gedächtnis, sondern vor allem zum Eingedenken Gottes verwendet. Im Zusammenhang mit der Aufklärung entstehen aus diesem Impuls riesige anthropologische, aber eben säkulare Archive, die später in polizeilichen Zusammenhängen äußerst ambivalente Bedeutung bekommen — als Ernstnehmen des Subjekts in den Datenbanken. Die einstmalige Herzensschrift des bekennenden Ich verwandelt sich nach einer These Manfred Schneiders spätestens im 20. Jahrhundert in ein automatenhaftes, anonymes Schreiben, das, um der (Gedanken-)Polizei zu entgehen, fremde Stile adaptiert, aber auch sich der Sprache und den Techniken der Statistiken angleicht. In dieser Art Mimikry liegt ein notwendiger Täuschungsversuch, der das Ich gerade verbergen oder ermittlungsresistent machen soll. Das sind die materialen Bedingungen der (Selbst-)Beichte, den technischen nahestehend. Diese werden im Laufe des 19. Jahrhunderts für Sprache prekär, wenn das feste Verhältnis von Ausdruck und Inhalt, Signifikant und Signifikat immer fraglicher wird. Das Schreibmaterial greift in das zu Schreibende ein, wovon der halbblinde Nietzsche 1882 in einem Brief über seine Erfahrungen mit der eben erfundenen Schreibmaschine berichtet: «UNSER SCHREIBWERKZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDANKEN.» Als mit der Schreibmaschine die Zeilen laufen lernten, zeigte sich eklatant, daß die Schreibform nicht nur eine mögliche adäquate Übersetzung für Auszudrückendes darstellt, sondern daß sie vielmehr eine Eigendynamik besitzt, die auf die Inhalte selbst zurückwirkt. Herman Hollerith, der zur selben Zeit die Lochkarte erfand, d. h. zur Beschleunigung von Statistiken einfache Löcher in Zählblättchen stanzte und die so entstandenen Informationen per Stromkreis in ‹geschlossen/nicht geschlossen›, ‹ja/nein› elektrisch gliederte, beschleunigte die Entwicklung der Schrift zur digitalen Notierung: und damit auch die Entfremdung vom ‹Gehalt› oder der ‹Substanz›. Dies hatte Konsequenzen auch für den Ich-Schreiber. Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge handeln von diesem sich selbst fremd werdenden Ich, das in jeder Notiz um die Möglichkeit ringt, sich wieder neu schreiben zu können. Einstweilen ist diese Utopie verhängt: denn «es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken sich auflösen und wie Wasser niedergehen.» So heißt es da in apokalyptischem Ton, aber doch genau die Bedingungen umreißend, unter denen das Ich, von fremd-eigener Hand schreibend, auch technisch anzutreten hat. Wenn die Sprache in der Salpêtrière Charcots zu Experimentalsilben verkommt, wenn das Ich angesichts von Straßenlärm und rasender Geschwindigkeit des Großstadtlebens ins Stocken gerät, wird auch der sukzessive Erzählduktus zerstückelt. Keine beruhigte Ordnung mehr, sondern maschinenhaftes Stottern, keine Sequentialität, sondern lauter Simultaneität, mit zerrissenem Sinn — das prägt den Wahrnehmungsrhythmus des Ich. Unter dem Eindruck der Maschinisierung von menschlicher Stimme und Schrift verfaßt Carl Schmitt kurz darauf, 1917, ein kaum beachtetes, aber denkwürdiges Pamphlet, eine ironische Skizze zum Verbleib des Weltgeistes in einer fiktiven Gesellschaft, nämlich dem Buribunken-Staat. Dort herrscht Selbstschreibepflicht: «Jeder Buribunke wie jede Buribunkin ist verpflichtet, für jede Sekunde ihres Daseins Tagebuch zu führen. Die Tagebücher werden mit einer Kopie täglich abgeliefert und kommunalverbandweise vereinigt. Die gleichzeitig vorgenommene Sichtung erfolgt sowohl nach Art eines Sachregisters wie nach dem Personalprinzip.» Text soll produziert werden, endlos und egal, welchen Inhalts, noch die Verweigerung des Schreibens soll aufgeschrieben und begründet werden. Wer tatsächlich das Schreiben unterläßt, wird zu rein mechanischen Tätigkeiten gezwungen — eine Auslese, die durch den Kampf der Tagebücher, die die schnelle Evolution noch beschleunigen sollen, verdoppelt wird. Fast prophetisch für Gegenwartskultur klingen dann die Drohungen gegen den Mitschreibverweigerer: «Da er nicht mehr schreibt, kann er sich gegen etwaige Unrichtigkeiten, die seine Person betreffen, nicht mehr wehren, er bleibt nicht mehr auf dem Laufenden, er verschwindet schließlich von der Bildfläche der Monatsberichte und ist nicht mehr vorhanden.» Das weist bereits in die Medienkritik, wie sie später von Neil Postman («cultural aids») und vielen anderen weniger humorvoll vorgetragen wird, und manches ist damit gesagt über die Qualität der unter Produktionszwang geschriebenen Texte — die nämlich ihren statistischen Charakter nicht verleugnen können. Denken, Reden, Schreiben, Publizieren innerhalb eines implodierenden Kreislaufs ermöglichen es dem Ich, über sich selbst und damit nur sich selbst zu schreiben. Ich/Es entgrenzt sich in die Geschichte: «Ich bin also ein Buchstabe auf der Schreibmaschine der Geschichte. Ich bin ein Buchstabe, der sich selbst schreibt. Ich schreibe aber strenggenommen nicht, daß ich mich selbst schreibe, sondern nur den Buchstaben, der ich bin. Aber in mir erfaßt, schreibend, der Weltgeist sich selbst [...]. In jeder Sekunde der Weltgeschichte schnellen unter den Fingern des Welt-Ichs die Buchstaben von der Tastatur der Schreibmaschine auf das weiße Papier und setzen die historische Erzählung fort.» Der Weltgeist des parodierten Hegel ist mit Willen zur Macht vitalistisch aufgeladen und auf den Punkt gebracht, an dem Vergangenheit und Zukunft zusammentreffen: jede aufgeschriebene Sekunde verschlingt die Zukunft und konsumiert die Vergangenheit, der durch solcherart Geschichtsschreibung allererst Sinn zugebilligt wird. Das Ich geht im energetischen Treiben auf und muß dies noch niederschreiben, gleichsam ratifizieren. Als amüsante, aber doch auch horroreske Vision vom Aufschreiben des Ich als Geschriebenwerden nimmt Carl Schmitt damit einige Motive der Selbstschrift des 20. Jahrhunderts vorweg, wie sie später zum Beispiel bei Heiner Müller und Rainald Goetz wieder auftauchen. Ich-Maschine: Rhetorik in Heiner Müllers Krieg ohne Schlacht Heiner Müller hat vielerorts, vor allem aber in der Hamletmaschine von 1977, die ganze Entfremdungsgeschichte von Ich und Sprache, Sprache und Bildern, aber auch Ich und Gesellschaft durchdekliniert: «Ich bin die Schreibmaschine», «Ich bin mein Gefangener. Ich füttere mit meinen Daten die Computer», «Ich bin die Datenbank» — das sind Bekenntnisse des ‹Hamletdarstellers›, der hier allerdings noch nicht auf der Höhe der Postmoderne sein und mit Andy Warhol die Maschine feiern will, sondern krisengeschüttelt ist. Der Autor, beschimpfter Privilegierter, ist nicht Herr über seine Schrift, erst recht nicht Herr im eigenen Hause: was er über sich schreibt, ist Material, aus einem Steinbruch zum Mosaik komponiert. Zwei Medien sind kennzeichnend für seine Ich-Schrift Krieg ohne Schlacht: das Mikrophon, in das er den Interviewtext als Antwort auf Fragen spricht, und die Schreibmaschine, die dort immer wieder angesprochen wird und sich in den Rhythmus des Denkens eingegraben hat. Müller, Mauerspringer zwischen Ost und West, zeigt diese Ambivalenzen im Motto seines Buches an und macht die Position des Schreibers zu seinem Text deutlich: «Soll ich von mir reden wer von wem ist die Rede wenn von mir die Rede geht Ich wer ist das.» Nicht nur ist damit der geläufige Topos der Ich-Verunsicherung angesprochen, sondern es ergeht die Warnung, daß das Geschriebene von höchst wackliger Bedeutung ist. Die mündliche Entstehung suggeriert Authentizität, doch heraus kommt vor allem: Erinnerungsliteratur — die Memoria geht auf Montage. Im geschwätzartigen Charakter und dem lockeren Plauderton ist ein Täuschungsmanöver, eine Mimikry zu erkennen, mit der sich der Autor der bundesrepublikanischen Interviewkultur angleicht, um an der Oberfläche seine Anpassungsbereitschaft zu zeigen. Die Selbstschrift ist aber von dem Versuch geleitet, sich jeder Identifizierung zu entziehen: «Der ganze Kulturbetrieb zielt ja auf Dingfestmachung. Ein einziger Polizeiapparat. Wenn du etwas publizierst, wirst du doch sofort erkennungsdienstlich behandelt, dingfest gemacht. Du wirst auf eine Identität festgelegt, die nur für den Polizeibericht gebraucht wird.» Wenn Müller immer wieder betont, daß der Text den Autor übertrifft, daß sogar der Autor von seinen Texten gesprochen wird und er nur Material verschneide, so handelt es sich nicht einfach um Selbstenteignungsdekrete, an denen die Moderne reich ist. Ich ist ein anderer — das geborgte Wort von Rimbaud — ist doppelt motiviert: an Müllers Motto knüpft es inhaltlich an, formal zeigt es die Verschanzung hinter geborgten Textmasken als Gestaltungsprinzip. Dazu gehören auch andere Stilistika. Auffällig bereits die Covergestaltung, die Müller mit seinem Lieblingsutensil in Raucherpose zeigt — ein Brecht-Zitat wie es schon Müllers ganzer Lebensstil gewesen ist, eine gewisse stoische Haltung andeutend gegenüber dem Leben wie auch dem, was da zwischen die Buchdeckel gelangt ist. Das Zitieren geht mit dem Titel weiter (übernommen von einem Roman des DDR-Autors Ludwig Renn). Die Chronologie des Textes entspricht recht konventionell dem Lebenslauf und listet kapitelweise Stationen auf, teilweise mit den Themen Müllers, die zu einer bestimmten Epoche gehören. Damit ist auch der alte Anspruch auf Komplettheit des Berichteten erfüllt, wenigstens der Form nach. Weitere Erzählkonventionen werden benutzt, teils auch parodiert — etwa die, daß die Autobiographie mit der Geburt beginnen soll, das Elternhaus muß vorkommen, Bildungs- und Karrierestationen sind erwähnt, wichtige Episoden mit Nebenereignissen und Witzchen angereichert. Der Topos der Erinnerungsschwierigkeit fehlt nicht, von Schock und Verdrängung ist die Rede, Erinnerung und Übermalung — auch dies ein Redefertigteil, das im Plattenbau dieser Autobiographie jede Festlegung verhindern soll. Die Foucaultsche Formel vom Menschen als Geständnistier durchzieht als Motivation das ganze Buch, aber es sind eben raffinierte Geständnisse, halb gegebene und stets widerrufbar. So Müllers Koketterie zwischen den politischen Blöcken: «Ich konnte nie sagen, ich bin Kommunist. Es war ein Rollenspiel. Es ging mich im Kern nie etwas an. Ich habe oft gesagt und behauptet, daß ich mich mit dieser Gewalt, mit diesem Terror identifizieren konnte, weil es eine Gegenwelt war, ein Gegenterror gegen den vorherigen der Nazis.» Zelebriert wird die Kunst, es nicht gewesen zu sein — eine Übung, die für DDR-AutorInnen durchaus kennzeichnend ist. Foucaults Wendung vom Menschen als Geständnistier kommt hier auf eine unfreundliche, aber doch treffende Formel: hatte man zu Zeiten der DDR sozialistische Musterbiographien produzieren müssen, gibt es nun einen eigentümlichen Sog, noch einmal zu gestehen, diesmal eben richtig aufrichtig, aus vermeintlich eigenem Antrieb. Gezielt wird nun auf die bundesrepublikanische Öffentlichkeit. Dabei handelt es sich wohl um jene Entwicklung, die Foucault als Internalisierung von Macht und Polizei dargelegt hat: eine Dialektik des Geständnisses, das stets noch subtilere Formen annimmt, wenn das wahre Geständnis ein noch wahreres fordert, ein Perpetuum mobile der Selbstprüfung. Die Autobiographie wird zum Exkulpationsarrangement und läßt Müller doch für Freunde in Ost und West tragbar sein. Der Druck, unter dem schließlich auch ein abgebrühter Autor wie er gestanden haben muß, wird deutlich, wenn er die Moskauer Schauprozesse anspricht. Deren grausame Dramaturgie von Kritik und Selbstkritik mit garantierter Todesfolge des Angeklagten hat sich in die Geschichte der DDR mit ihren Schauprozessen gegen Oppositionelle tief eingedrückt. Auf Schriftstellerlehrgängen wurde nicht nur indoktriniert, sondern genau dieses Ritual der Selbstanklage inszeniert, noch in Prozessen gegen die Unterzeichner der Biermann-Petition bis in die Schlußjahre der DDR. Müller nennt dies eine «Paraphrase der Schauprozesse» und «die sowjetische Form der Psychoanalyse». Nicht daß er drum herumgekommen wäre: er selbst mußte sich 1961 rehabilitieren für ein mißliebiges Stück und einen jämmerlichen, selbstanklagenden Verriß schreiben. Eine Übersiedlung in die Bundesrepublik war wiederum für Müller nicht denkbar — zu viele Nazi-Altlasten dort, und so entwickelte sich sein Schreiben als Doppelagententum zwischen Ost und West. Doch ist die Funktion des Buches in der Rechtfertigung bei weitem nicht erschöpft. Vor allem ist es ein ästhetisches Selbstzeugnis, eine Rekapitulation der eigenen Quellen und Einflüsse, der eigenen künstlerischen Entwicklung nebst Grundlagenpoetik. Deutlich wird der Verlust einer Utopie, Resignation, und die schließliche genußreiche Flucht in eine ästhetizistische, antimoralische Haltung. Berüchtigt Müllers Sätze zum Künstlerantrieb: «Natürlich ist eine Diktatur farbiger als eine Demokratie. Shakespeare ist in einer Demokratie undenkbar.» Das ist ein Gedanke, der wiederum mit Foucault unterfüttert ist: Macht unterdrückt zwar, ist aber produktiv contre cœur, denn sie bringt unendliche Gegendiskurse, eine Flut von Texten hervor. Müller sieht sein Schaffen durch eine Diktatur begünstigt, deren Regeln immerhin für ihn berechenbar und doch noch Terror genug waren, um ihn zur Produktion zu treiben: «Der Aufenthalt in der DDR war in erster Linie ein Aufenthalt in einem Material.» Läßt diese Konfrontation nach, verblaßt das Schreiben in einem für Müller belanglosen Vakuum. Müllers spätes Stück Germania 3 ist nur noch Collage, die andere aus früheren Werkstücken fertiggestellt haben. Längst hat er seinen Schauplatz in Richtung Fernsehen verlagert und ist zum postmodernen Interviewkünstler geworden, der seine Rede tags drauf immer dementieren kann. Dieser Spaßort ist der letzte Fluchtpunkt neben einem Ästhetizismus der Worte und Bilder, der sich von politischer Hoffnung verabschiedet hat. Gegen das Dechiffrieren durch Deutungsspekulanten, die mit ihren Interpretamenten zur feuilletonistischen Börse gehen, gegen die erkennungsdienstliche Behandlung von Texten will Müller diese imprägnieren, die Bilder sollen sich aufbauen, dementieren und überblenden zugleich. Tatsächlich war es Müller egal, was mit seinen Texten angestellt wurde, stets waren es nur Fermente für weitere Gebilde, die den Autor überwachsen und seine Intention aufzehren. In der Welt als künstlerischem Material gibt der Autor nur ein Spielmodell, das allen anderen zur Verfügung steht, die sehen und schreiben können. Was er als Rezept für die besten Texte angibt, kann schließlich auch für seine Haltung zur Autobiographie gelten: «Die Struktur des Textes ist: ein Bild stellt das andere in Frage. Eine Schicht löscht jeweils die vorige aus, und die Optiken wechseln. Zuletzt wird der Betrachter selbst in Frage gestellt.» Der Leser wird dennoch zur Entscheidungsinstanz für Müllers Autobiographie, und weitergeschrieben wurde sie in der Tat von anderen, wenn auch auf für Müller unbequeme Weise. Drei Zeit-Journalisten beugten sich über zwei Stasikarteikarten, fanden heraus, daß er als IM Heiner von der Stasi geführt wurde und wohl auch mal zwei Armbanduhren von dem Verein geschenkt bekommen hat. Aufschlußreich ist deshalb die 2. Auflage seiner Autobiographie von 1994, die diese Vorwürfe aufgreift. Aus Anlaß der Stasi-Debatte sind die entsprechenden Dokumente im Anhang abgedruckt nebst einer Stellungnahme Müllers zu den Vorwürfen, womöglich in engerem Kontakt mit der Staatssicherheit gestanden zu haben. Nicht nur wird damit Bezug genommen auf die Funde, sondern auch das Kriterium der Abgeschlossenheit der Autobiographie außer Kraft gesetzt; es wird Stellung genommen zu Positionen des Feuilletons, seien sie liberalistisch oder moralistisch-politisch-korrekt. Eine lapidare Erklärung Müllers beschließt die Debatte: die MfS-Akten seien Stasi-Literatur, sie taugen vor allem als Schreibanlaß — kaum übertrieben zu sagen, daß die Begegnungen mit Mitarbeitern des Ministeriums selbst schon der Schärfung der literarischen Optik dienten. Auch hier verbirgt er sich lustvoll hinter seinen Spracharsenalen, verschanzt sich hinter seinen Masken, nicht von ungefähr von Haus aus Dramatiker. Die Suche nach einem wahren, authentischen Ich ist längst aufgegeben, wie sie Christa Wolf in Was bleibt noch emsig betrieben hat (und dafür von Müller eine Moraltante gescholten wurde). Krieg ohne Schlacht ist eine der letzten Masken, die Müller aufgesetzt hat, um nicht allzu öffentlich seine Hoffnungen auf eine gerechtere Gesellschaft zu begraben. Das Zerhacken der Wörter im Stahlgewitter der Schreibmaschine entspricht dem Verbergen des Autors hinter dem Sprachmaterial, das seinen Schöpfer immer übertrifft: die Maschinenpose als Überlebensmaßnahme per Mimikry. Spaß-Ich im Partystandort Deutschland: Rainald Goetz Heiner Müller blieb ein Held der Schreibmaschine, der die nächste Generation noch soeben anvisieren konnte: «Schreiben in der Geschwindigkeit des Denkens bleibt ein Autorentraum. Aus den Zwängen der Kunst befreit erst der Computer, der den Weg zu den Klischees abkürzt, trüber Ersatz für die poetischen Formeln des Rhapsoden aus dem Reich der Mütter.» Die digitale Verarbeitung analoger Einfallsdaten hat inzwischen Rainald Goetz wahrgemacht, in seinen verschiedenen autobiographischen Texten nutzt er sie auf vielen Ebenen. Und anders als für Müller, der den PC-Umgang nicht mehr lernen wollte, ist bei Goetz in Kronos und 1989 das Schreiben noch stärker technikinfiziert. Dies vor allem aus dem Geist der Musik, wie es sich Nietzsche aber wohl kaum hätte träumen lassen. Die Schnelligkeit der cuts und scratches des Techno, zusammen mit dem DJ Westbam durchlebt und beschrieben, bestimmt Goetz' Schreibtechnik, auch die der autobiographischen Texte. Diese haben wiederum ihre Vorgeschichte, und zwar mitten im Kulturbetrieb. Beim Wettbewerb der Ingeborg-Bachmann-Preisverleihung 1983 in Klagenfurt liest Goetz seinen Text, schimpft dabei auf die ganze Welt, besonders die kulturelle, sodann zieht der promovierte Historiker und Arzt gegen sein Hirn zu Felde und liefert die entsprechende performance: setzt an zum Schnitt an der Stirn, das Blut tropft beim Weiterlesen aufs Gesicht und aufs Manuskript. Authentischer als bei dieser Sensationsblutung kann es kaum zugehen — so meint man. Doch ist diese eruptive Handlung des lesenden und stirnschlitzenden Punks vielfach in den Künsten gespiegelt und topisch rückversichert. Fast jede Geste ist mit Zeichen, Bildern und Zitaten vorkonzipiert. So spricht bereits Benns Rönne vom Leiden am Hirn und redet von der «laut klaffenden Stirn», ferner assoziiert man Luis Buñuel, in dessen surrealistischem Film Le chien andalou programmatisch ein Rasiermesser durch ein Auge fährt. Die ganze Szene ist verabredet und inszeniert, Goetz hat das Einverständnis von Reich-Ranicki eingeholt, der ihn lanciert hat und hernach die Revolte lobt — um sich selbst den Sensationseffekt an die Brust zu heften. Die Kulturindustrie ist rundum versorgt. Aufrauscht das Ich — aber auch in den Jahresberichten 1982–1991 wird es sich in Zitate und Gesten hüllen. Schon mit dem Titel Kronos schreibt Goetz sich in einen reichen ikonographischen Bestand ein. Der günstige, geflügelte Augenblick wird im Titel ebenso angesprochen wie das Endzeitbewußtsein, das Bedrohtsein durch eine höhere Macht. Dies äußert sich schon zu Beginn: «Man beobachtet mich, man beobachtet mich, man mich, man mich nicht, und sofort. So geht es nicht weiter.» Es werden nun Gegenobservationen, schließlich Ermittlungen gegen die ganze Welt gestartet — eine Welt, die durch das Aufschreiben exhauriert und bezwungen werden soll. Immer wieder sind es diese Machtspielchen, die zum Anlaß neuer Textberge werden, die das Ich gegen die Bedrohung aufhäuft — Goetz hat natürlich seinen Foucault gelesen. Der Untergang des Ich in den Akten, Meldungen und Daten wird aber damit auch lustvoll erlebt, er wird reich bebildert mit Fotos der Tagespresse. Doch geht es immer noch um ein Reiben an Macht und Medien, um Ich-Reste und auch die Suche nach einer Geheimsprache: «Sprache: Witzelsucht / DIE AUTOBIOGRAPHIETARNUNG» — so heißt es in Kronos —, jede Skepsis gegenüber dem Ich, wie es wohl das Selbst ausdrücken könnte, ist einem fröhlichen Optimismus gewichen und einer Energetik, die der Nietzsche-Schule (Carl Schmitt und Ernst Jünger eingeschlossen) in nichts nachsteht. Mehrfach wird Andy Warhol zitiert, um das eigene Kompositionsverständnis klar zu machen: «I was taping and polaroiding everything in sight.» Man müßte nur noch ergänzen: «Everything is pretty.» Und ein weiterer Hauptsatz dieses PopArtismus wird ganz fröhlich, anders als in der Hamletmaschine, abgeschrieben: «I would like to be a machine.» Reines Mitschreiben von Daten wird denn auch das Medien-Tagebuch 1989 kennzeichnen. Goetz läßt dort auf 1.500 Seiten ohne vermittelnde Erzählerinstanz Meldungen kollidieren aus Rundfunk, Fernsehen, Zeitung, Büchern, er montiert, schnippelt zusammen, ohne daß Kontinuitäten sichtbar würden. Es bleiben Geräusche aus Alltag und Allnacht, von keiner Muse mehr gemacht, eine vollständige Mimesis an die Nachrichtenwelt mit ihren gigantischen Datenströmen, in der es keinen Erzähler mehr gibt, sondern nur noch einen Datenabmischer. Das sind noch einmal übersteigerte Johnsonsche Jahrestage — und auch diese hat Goetz genau studiert, was direkte Anspielungen in Motivik und grundlegend in der Gestaltung zeigen. Wie auch immer man das werten will, ob apokalyptisch, ob prophetisch — Leben und Autobiographie gehen hier fast ineinander über, sie verlaufen simultan, Schrift hat Echtzeit zum Gegenstand und ist mit ihr verrechenbar. Die Welt wird zum Zettelkasten — mit kombinatorischem Potential, über das der Autor weniger verfügt, als daß er von ihm überrascht wird. Mit diesem Materialwust tritt er in Kommunikation und stellt Notizen zusammen. Damit werden Tagesmitschrift und Erinnerungstext zum Kombinationsspiel, eine ars combinatoria, die die Zeitstufen aufsaugt. Der Autor wird zum Sprachautomaten und verschwindet hinter Bergen von Zitaten. Als Fluchtort bleibt dann noch, daß Goetz sich der Musik zuwendet und sich von den Rhythmen des Techno auffangen läßt, schließlich zum Raver wird, wie in der jüngsten Erzählung, die Drogen und Rhythmen gleichermaßen hymnisch feiert. Rave — das ist Erlebnisliteratur aus dem Tonarm, und im Vorspann des Buches führt eine Textspur zur täglichen Selbstschrift in seiner Website: Abfall für alle gibt es dort unter www.rainaldgoetz.de, immer am nächsten Tag abrufbar. Die Frage, ob das ganze Unternehmen affirmativ oder kritisch, oder kritisch durch Affirmation ist, hat sich für Goetz erledigt. Und das krasse Pointieren der Dinge, wie es Goetz zweifellos beherrscht, ist ja Vorzug genug. Jenseits der Konfrontationen ist seine Haltung ganz Zeitgeist und pop-artig, nämlich «hingerissen auf das Hinreißende zu zeigen, hey, super.» Nur der Interpret mag noch darüber befinden, ob das ganze eine zynische Medienkritik ist — oder völlige Hirnabgabe, ein Freudenfest in den Giga- und Terabytes, ein Abtauchen des Rhapsoden in die digitale oder die Disco-Nacht. Trotzdem ist auch diese Nachtmeerfahrt durch die Medien geeignet, einen culte de soi-même zu stiften: der Dandy Goetz, so verspricht er, wird nicht aufhören, so zu leben, wie es die Synthese von Kunst und Disco will. Was bleibt ... stiften nach Hölderlin die Dichter, nach Heiner Müller die Bomben, und Christa Wolf betreibt unter diesem Titel eine Recherche nach der zwischen Ost und West zerriebenen Subjektivität. Der Imperativ zur Selbsterkenntnis hat sich seit Delphi über das Christentum, über den Buchdruck mit beweglichen Lettern und den Pietismus tief in alle Bemühungen um die Selbstschrift eingegraben. Daß gegen Erkennen und Ausdeuten Täuschungsmanöver aufgefahren werden, schafft immerhin Literatur — jenseits von Wahrheit und Lüge werden sich immer mehr Texte entfalten, Moral und Authentizität sind dann nur noch Kritiker- oder Kindermärchen. Mit Georges-Arthur Goldschmidt wäre denn auch ein besseres Wort statt Autobiographie vorzuschlagen: nämlich Autofiktionalität, mit ästhetischem Gewinn aller solcher Täuschung. Denn gerade die Illusion, noch Ich zu schreiben, scheint doch immer noch das stärkste Motiv, um Texte zu machen. Gegen jede Selbstauslieferung wird das autobiographische Subjekt nämlich immer neue Immunstrategien entwickeln — es exkulpiert sich gegenüber dem Publikum und verschwindet dabei in Stilen, Statistiken und Maschinen. Das Verschwinden des Ich in den Sprachmaschinen, sei es der Rhetorik, sei es der Schreibmaschine oder der digitalen Textverarbeitung, wird zunehmend Thema aller Literatur, die in der ersten Person Singular auftritt. Folgen der Verstreuung des Ich in den hypertelischen Strukturen des Internet sind noch unabsehbar. Oder wird es zu einer neuen Authentizität kommen? Schon gibt es virtuelle Friedhöfe im Internet, wiederum mit Grabinschriften und kurzen Lebensbeschreibungen, auch gibt es ein internationales Tagebuch, in das jeder sich einschreiben kann, damit ein Weltdiarium aus persönlichen Notizen entsteht. Geschichte implodiert in die reine Gegenwart hinein, der Schreiber seiner selbst tritt als patch-worker auf, der an einem anonymen Weltflickenteppich arbeitet, Carl Schmitts Buribunken stehen vor der Tür — eine neue Form des Tribalismus, ohne Keule, nur mit der Tastatur. Ralph Köhnen Kurzschrift 2.1999, S. 15–32
Von Michael H. Schwibbe Ich möchte meinen Ausführungen ein Zitat von Lenin voranstellen, der in seiner weitsichtigen Art schon 1919 einen Plan hatte, diesen aber nicht erfüllen konnte. Selbstkritisch bekennt er: «Zum zweijährigen Jubiläum der Sowjetmacht hatte ich vor, eine kleine Broschüre über das in der Überschrift genannte Thema zu schreiben. Aber im Getriebe der täglichen Arbeit bin ich über die Vorbereitung einzelner Teile bisher nicht hinausgekommen.»[1] Dieses Versäumnis wollen wir kompensieren. Beginnen soll die Analyse mit einer kurzen formalen Betrachtung: Die Betriebsanleitung erschien 1983, trägt den Namen ‹Betriebsanleitung› und hat das handliche Format, wie es für eine Betriebsanleitung gang (in diesem Falle 4) und gäbe ist. Die Gliederung ist nach der Funktion der Geräteteile vorgenommen worden. Die Aussage: ‹24. Auflage› zeugt von der gesellschaflichen Notwendigkeit, diese Broschüre mehrfach zu produzieren. Die Angaben über die Herkunft des Trabanten: Der Personenkraftwagen ‹Trabant› ist ein Erzeugnis des VEB SACHSENRING Automobilwerke Zwickau Betrieb des IFA-Kombinates PKW Deutsche Demokratische Republik[2] sind sauber durchformuliert. Auffällig ist allerdings, daß ein DDR-spezifisches Politikum fehlt: Es wird kein Bezug zum historischen Materialismus, kein Bezug zum sozialpolitischen Hintergrund hergestellt, der die Produktion einer solchen Gerätschaft für die Arbeiter- und Bauernklasse notwendig macht. Einen kleinen Hinweis wie «schon Marx hat gesagt ...»[3] oder «Lenin hat gefordert ...»[4] suchen wir vergebens. Auf der inhaltlichen Ebene stellt sich die Frage nach der Etymologie des Wortes ‹Trabant›[5] und danach, was die Väter dieser ‹Limousine› dazu veranlaßt hat, ihr diesen Namen zu geben? Hier werden wir sehr schnell fündig: Eine erste Literaturrecherche zeigt, daß ‹Trabant› im frühen Nhd. die Bedeutung ‹Krieger zu Fuß› hatte (ca. 1494).[6] Haben die Namensgeber diese Bedeutung gekannt? War ihnen die Einbettung des Wortes in diesen tiefen historischen Kontext bewußt? Wir meinen: ja! Denn unausgesprochen zieht er sich wie ein roter Faden durch ihre Betriebsanleitung. Die PR-Fachleute des Kombinates haben wahrscheinlich aber auch an die übertragene Bedeutung «Begleiter» gedacht, das Gerät als ein Begleiter der DDR-Bürger[8] von der Zeugung an bis zur Verwirklichung des Sozialismus, mit 15 Jahren Wartezeit auf die Möglichkeit des Erwerbs, als Folge der falsch verstandenen Devise von Lenin: «Man muß sich zur Regel machen: Lieber der Zahl nach weniger, aber höhere Qualität.»[9] Um den potentiellen Nutzern dieses weitgehend automatisierten Personenbeförderungsmittels einen Vorgeschmack und den glücklichen Besitzern eine Orientierungshilfe zu geben, hat sich ein Autorenkollektiv (AK) zusammengefunden, um diese Betriebsanleitung zu verfassen. Ihr historischer Abriß erschöpft sich in der lapidaren Feststellung: Der Personenkraftwagen «Trabant» ist auf den Straßen der Deutschen Demokratischen Republik sowie im Ausland kein Neuling mehr. (S. 9) Dieser Satz war aus der Sicht von 1983 sicherlich eine korrekte Beurteilung und in der bescheidenen Form noch untertrieben: Denn der Trabant war schon in der Mitte des 17. Jhdts. kein Neuling mehr auf den Straßen Mitteleuropas. So heißt es 1649: «nit manglets an trabanten, an sternen klar und hell.[10] Der Übergang vom Plan zur Produktition dauerte an, die industrielle Fertigung begann erst 300 Jahre später, denn: «Wenn man sich nicht mit Geduld wappnet, wenn man für diese Sache nicht mehrere Jahre daransetzen will, dann soll man lieber die Finger ganz davonlassen.»[11] lautet die Forderung von Lenin. Der Trabant wurde 1957 zum ersten Mal gebaut. An der Karosserie wurden seit dieser Zeit kaum nennenswerte Änderungen vorgenommen.[12] Deshalb konnte das Gerät auch noch 1983 nicht mit einem Auto verwechselt werden.[13] Dieser erste Satz stellt den Anfangspunkt einer massiven Kritik am System dar, hier vorerst an der staatlich verordneten Form des Outfits des Gerätes und an der mangelnden Flexibilität des Politbüros der SED, das kein Interesse an der Änderung des Aussehens hatte, da es ja selbst vornehmlich Autos aus schwedischer Produktion fuhr. Was bewegte im Innersten wohl den emsigen Bauern, was den fleißigen Arbeiter, wenn ihm ungerührt mitgeteilt wurde: «Selbst ein Teil der Arbeiterklasse, kennt die Partei nichts Höheres als die Interessen der ganzen Klasse, aller Werktätigen. Alles zu tun für das Wohl des Volkes, für sein Leben in Frieden, sozialer Sicherheit, Wohlstand und Glück.» (S. 5) Die DDR-Bürger hätten es nämlich gerne gesehen, wenn Honecker seinen kommunistischen Bruder Gorbatschow statt mit VOLVO mit einem Trabanten abgeholt und geküßt hätte. Dieses wäre standesgemäß, denn: «wir, ehrenvoll geschützt von eigenen trabanten, erwarten kaiserlich der völker abgesandten»[14] beschreibt schon Goethe das richtige staatsmännische Verhalten. Im zweiten Satz steigern die Autoren ihre Angriffe auf das System und ihre Vertreter, bleiben dabei aber noch sehr dezent und versuchen, die Kritik hinter vermeintlichem Lob zu verstecken. Seine Bewährungsprobe hat er seit Beginn der Serienfertigung bis zum heutigen Tage auf allen Gebieten bestanden. (S. 9) Dabei können sie sich vordergründig auf die Ausführungen zum X. Parteitag der SED berufen: «Jede Aufgabe aus Forschung und Entwicklung ist erst als abgeschlossen zu betrachten, wenn sie sich in der Produktion oder Konsumtion voll bewährt hat und ihre Herstellung auch ökonomisch effektiv ist.»[15], was natürlich voll mit Lenin übereinstimmte: «und wir sollten bedenken, daß man zur Schaffung dieses Apparates keine Zeit scheuen darf und viele, viele Jahre darauf verwenden muß.» Was bedeutet aber im Zusammenhang mit «Bewährung» das Wort «Gebiet»? Den Bürgern im Arbeiter- und Bauernstaat war dieser Begriff wohl bekannt in den Phrasen: «Gebiet der DDR», »Hoheitsgebiet der DDR» oder «Staatsgebiet der DDR», dessen sie ja bekanntlich nicht flüchtig werden durften. «Bewährung» gab es für Republikflucht nicht. Deshalb wird im dritten Satz zumindest verbal die Republik verlassen und die «Internationale» ins Spiel gebracht. Besonders ist hervorzuheben, daß der Trabant bei nationalen und internationalen Rallye-Fahrten sehr große Erfolge erzielt hat, die den Arbeitern, Technikern und Ingenieuren den Beweis gebracht haben, daß die der Serienfertigung zugrunde gelegte Konzeption des Fahrzeugs richtig gewesen ist. (S. 9) Bei der Anspielung auf die internationalen Rallyes haben sich die Verfasser sicherlich an ein schweizerisches Schauspiels aus dem 16. Jahrhundert erinnert, an den Vers: «siben trabanten ich ouch hab, mit denen ich die welt durchtrab ... der dritt trabant heyszt unküscheyt.»[17] Zwar hatte kaum ein Arbeiter oder Bauer im real existierenden Sozialismus die Welt mit seinem ‹Trabi› durchreist, noch je sieben derartige Fortbewegungsmittel besessen, aber aufgrund der Lage auf dem Wohnungsmarkt wurde der Trabant gerne zur «Unkeuschheit» genutzt.[18] Dieses kam den alten Männern in der Führungsriege der SED sehr gelegen, denn: «Die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft erfordert prinzipiell den Übergang zur intensiv erweiterten Reproduktion.»[19] stand unverblümt im Parteigeschenk zur Jugendweihe zu lesen. Dieser Forderung nachzukommen, war nur durch maximale Ausnutzung der Innenraumkapazitäten des Geräts möglich. Betrachten wir den Satz nunmehr auf der formal logischen Ebene. Hier arbeitet das Autorenkollektiv mit der Methode der schlichten Behauptung[20] als einer für die Schlußfolgerung irrelevanten Prämisse: Im strengen Sinne der Aussagenlogik ist der Schluß (= Konzeption richtig) auch dann wahr, wenn die Prämisse (= große Erfolge[21]) falsch ist[22]. Daß das Autorenkollektiv hier bewußt vorgegangen ist, belegt die Tatsache, daß sie das Wort «Beweis» in den Mittelpunkt dieses Satzes gestellt hat. Damit konterkariert das AK auf geschickte Weise die umgekehrt formulierte Warnung Lenins, «falsche Schlüsse aus richtigen Voraussetzungen» zu ziehen. Bewundernswert diese Argumentationsfigur, die zeigt, daß nicht alles in der DDR so schlecht gewesen sein kann! Von der Ebene der formalen Logik geht das AK nunmehr im klassisch dialektischen Sinn auf die Ebene der emotional kontrastierenden Wertung über. Damit treibt die Betriebsanleitung auf ihren argumentativen Höhepunkt zu. Der Typ «Trabant» ist in seiner Klasse ein schnittiges, elegantes und temperamentvolles Fahrzeug. (S. 9) Zur Erleichterung des Übergangs zwischen diesen Argumentationsebenen bringt das AK zunächst den Begriff «Klasse» ins Spiel. Jeder Bürger der DDR gleich welcher Schicht wußte, daß er entweder Bauer oder Arbeiter ist. Er war gezwungen, sich zu einer der genannten Klassen zu bekennen. Um dem DDR-Bürger zu zeigen, daß nicht das Kollektiv, nicht die Klasse immer im Vordergrund stehen muß, daß es auch das Individuum gibt, definieren sie für dieses Gerät einfach eine eigenen Klasse und zeigen damit seine Einzigartigkeit, seine Unvergleichbarkeit auf. Sie stellen sich offen in Gegensatz zu Lenin, der apodiktisch behauptet: «Sozialismus ist Abschaffung der Klassen. Die Diktatur des Proletariats hat für diese Abschaffung alles getan, was sie tun konnte.» Genau dieses tut das AK nicht! Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Typ Trabant die Klasse[25] bilden soll, von der Lenin sagt: «Eine Klasse muß stark genug werden, um von ihrem Emporkommen das der ganzen Nation, von dem Fortschritt und der Entwicklung ihrer Interessen den Fortschritt der Interessen aller andern Klassen abhängig zu machen.» (S. 230)? Im übertragenen Sinne würde das bedeuten: «mit dem Trabanten zu Sternen», «per Trabantem ad astra»[26]. «Per aspera ad astra» ist der Wahlspruch der schwedischen Könige, die jahrhundertelang Mecklenburg-Vorpommern besetzt hatten. Handelt es sich hier um eine verdeckte Anspielung auf die SBZ, die «sowjetische Besatzungszone»? Fragen über Fragen! Die Qualität «temperamentvoll» fällt aus der rigiden Sprache normaler Betriebsanleitungen völlig heraus. Welches Temperament meint das AK? Seit dem ausgehenden Mittelalter gab es eine Einteilung der Temperamente in die vier Grundtypen: Melancholiker, Sanguiniker, Choleriker und Phlegmatiker.[27] Davon kommt für das Gerät nur das Temperament ‹phlegmatisch› in Frage. Diese Qualität dem Trabanten zu attribuieren, hat durchaus historischen Hintergrund: «da sach man mangen müden drabanten» urteilt man im Markgrafenkrieg um 1450 und «Blind und lam sind sin trabanten (1522)» sagt man 70 Jahre später. Implizit wird damit eine strukturell emotionale Homologie bzw. Automorphie zwischen dem Gerät und seinen Benutzern, den «Kriegern», die gezwungenermaßen oft «zu Fuß» gehen mußten, den Kämpfern an der Front des Sozialismus, hergestellt. Denn nur Phlegmatiker können die deprimierende Aussage: Die Antriebsquelle ist ein Zweizylinder-Zweitakt-Ottomotor mit Luftkühlung (S. 11) über lange Zeit hin ertragen und sich mit den Gegebenheiten des real existierenden Antriebaggregates widerspruchslos abfinden. Hier kann aber eine Freilandbeobachtung aus dem 16. Jahrhundert dem DDR-Bürger Trost und Hoffnung geben: «in disem land hab ich nie kein esel sehen trabanten haben, welche neben ihm einher traben.»[30] Der oft verlachte Marx kannte im Grundsatz das Problem: «Die Klagen jener alten Chroniken sind immer übertrieben, aber sie zeichnen genau den Eindruck der Revolution in den Produktionsverhältnissen auf die Zeitgenossen selbst.[31] Das gilt nach dem Allgemeingültigkeitsanspruch der Worte von Marx natürlich auch für die historische Warnung: «Was bedeuten wol Trabanten, als dass gross Gefahr vorhanden.»[32] Während hier noch etwas rhetorisch nach der Bewertung gefragt wird, wird diese schnell zur stabilen Qualität: «drabanten vil der boesen die findt man hie und dort»[33] Diese Warnung sollte später für die Sicherheit auf den gesamtdeutschen Autobahnen und für das Ozonloch eine ähnliche Bedeutung erhalten wie für die Handelswege des ausgehenden Mittelalters. Dazu mußte argumentative Kompensation gefunden werden. Ganz im Sinne einer «grünen» Politik betont das AK deshalb: Der automatisch wirkende Freilauf im 4. Gang schont den Motor und trägt zur Kraftstoffeinsparung bei. (S. 11) Da auch das ZK diesen dialektischen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit gekannt hatte und auf Ausgleich erpicht war, schrieb es sich vorsichtig ins Parteiprogramm: «Das Programm lenkt die Aufmerksamkeit darauf, die natürliche Umwelt zu erhalten und sie im Interesse der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen und einer effektiven Volkswirtschaft zu gestalten.» (S. 659) Um diesem Petitum zu folgen, hat sich das AK etwas ganz besonderes einfallen lassen. Sie wollen dazu das Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle nutzen, die zusammen ja schon 50 Prozent der Himmelsrichtungen der DDR ausmachen. Gewöhnen Sie sich deshalb an, das Fahrzeug im Gefälle durch kurzes und kräftiges Gasgeben auf die den Gegebenheiten entsprechende Geschwindigkeit zu bringen und dann den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. (S. 43) Das Fahrzeug rollt dann im Freilauf, wodurch Kraftstoff gespart und der Motor geschont wird. Für das Fahren mit Rückenwind gilt der gleiche Hinweis. (S. 43) Da die DDR in der Ostzone der braven Westwinde liegt, kommen so weitere 25 Prozent Himmelsrichtungen hinzu. Dieses Konzept ist eine geniale Meisterleistung der Ingenieurkunst, die die SED-Meinung «Die Deutsche Demokratische Republik verfügt über eine leistungsfähige Volkswirtschaft, über ein großes Wissenschaftspotential, über ein hohes Bildungsniveau.» (S. 179)[34] eindrucksvoll am konkreten Gegenstand bestätigt. Das war nur möglich, weil — wie der Generalsekretär des Zentralkomitees der SED, Erich Honecker, feststellt — «die SED mit ihrer Strategie und Taktik auf die Fragen des Lebens im Grunde stets die richtige Antwort gab»[35] schreibt sich die Partei die Leistung auf die eigenen Fahnen. Das AK betont in diesem Zusammenhang besonders die sozialistische Errungenschaft des «vierten Ganges». Dieser war dem aufgeschlossenen Mitteleuropäer natürlich bekannt: «ihm ist der gang ... ihrer trabanten nicht fremde»[36] lautet schon 1767 eine Zustandsbeschreibung menschlicher Kenntnisse zwischen Rhein und Memel. Aber: warum — stellt sich die Frage — gerade «vier»? Dem ging schon Otto Walkes in einer brillanten Persiflage einer Sonntagspredigt in der ARD der BRD nach. Es kann kein Zufall sein, daß gerade ein Ottomotor als Antriebsaggregat gewählt wurde. In bezug auf das Fahrwerk mußte das AK gegenüber der SED allerdings einen taktischen Rückzug vornehmen: Sie bringen den Begriff Progressivfederung (S. 11) ins dialektische Spiel: Da es in der Entwicklung der DDR ja wohl keinen Rückschritt geben konnte, mußte auch die Federung progressiv sein: «Sie ist die Erbin alles Progressiven in der Geschichte des Deutschen Volkes.»[37] steht im Programm zum IX. Parteitag der SED zu lesen. Danach jedoch macht das AK seinen Kotau vor dem Politbüro mehr als wieder gut und empfiehlt auf perfide Weise: Einen für den Motor kritischen Zustand können Sie herbeiführen, wenn Sie bei einer mittleren Geschwindigkeit infolge Bergabfahrt oder Rückenwind, zur Erhaltung der jeweiligen Geschwindigkeit, das Gaspedal nur noch gering betätigen und dies über längere Zeit tun. (S. 42) Man muß sich einfach einmal vorstellen, was mit der Infrastruktur der DDR passiert wäre, wenn alle Fahrer dieses Gerätes dieser Empfehlung gefolgt wären. Sie ist mehr als Sabotage, sie ist ein Aufruf zum aktiven Widerstand unter Anwendung systemimmanenter Manipulationsmöglichkeiten am volkseigenen Antriebsaggregat. Das AK erläutert auch gerne und genüßlich die Folgen: Der Motor erhält dann entsprechend der Drehzahl fast kein Frischgas und damit auch kein Schmiermittel, was für den Motor äußerst gefährlich ist.. (S. 43) Frischgas! Welch Wort! Frischfleisch und Frischobst waren nur über die sozialistische Wartegemeinschaft erhältlich, Sommerfrische gab es im FDGB-Heim mit Plaste-Tischdecken aus Zschopau. Frischmilch aus der LPG als Laktat von der volkseigenen Kuh war zum nationalen Kulturgut erklärt. Deshalb konnten die Arbeiter, weniger die Bauern, sich freuen, wenn sie per Fußdruck ein Frischprodukt erhalten konnten. Mit dieser Anspielung geht das AK hart an die Grenze des Machbaren der Ironie und Satire.[38] Eine weitere subtile Dialektik wird bei den Sekundärqualitäten des Gerätes eingesetzt: Die Straßenlage und die Beschleunigung Ihres "Trabant" sind ausgezeichnet. (S. 43) Diese Merkmale stehen in keinem kausalen Zusammenhang.[39] Deshalb benutzt das Kollektiv als Klammer den Ausdruck «ausgezeichnet»: Ausgezeichnet wurden oft kaum nachvollziehbar ein «Held der Arbeit», ein «Kämpfer am sozialistischen, antifaschistischen Schutzwall» oder ein «verdienter Kundschafter» im Kanzleramt.[40] Wer hat die Beschleunigung ausgezeichnet und warum? Denn Lenin hat doch schon lange vorher erkannt und daraufhingewiesen: «Man muß sich mit einem heilsamen Argwohn gegen die unbedacht schnelle Vorwärtsbewegung ... wappnen.»[41] Folgerichtig warnt an dieser Stelle auch das Autorenkollektiv ausdrücklich davor, auf die «Auszeichnung» von Straßenlage und Beschleunigung zu vertrauen: Das sollte sie jedoch nicht verleiten, leichtsinnig zu werden. Fahren Sie deshalb so, daß Sie jederzeit bei Auftauchen eines Hindernisses rechtzeitig anhalten können, wobei die Straßenverhältnisse (trockene, nasse oder vereiste Straßen) berücksichtigt werden müssen. (S. 43) Die Straßenverhältnisse in der DDR mit klimatisch bedingten Aggregatzuständen von Wasser erschöpfend darzustellen, belegt die tiefgründige Ironie des AK. Jeder Bürger hat angesichts der wahren Situation auf ihren Wanderwegen beim Lesen sofort schmunzeln müssen. Die ‹Welt› hätte formuliert: «auf den sogenannten Straßen». Welcher Schelm im AK hat letztlich in die Betriebsanleitung Vorderachsenaufhängung, Federung (S. 11) geschrieben? Jeder DDR-Bürger dachte bei Nennung des Wortes Achsen sofort an den kleinen rundlichen Mitglied des Politbüros Hermann Axen, eine besonders langlebige Variante des Typs Funktionär. Wenn wir diese zwei Worte zerlegen und in einer anderen Schreibweise darstellen, kommt dabei die Aufforderung heraus: «Forder: Axen, Aufhängung, Federung». Daß der Aufruf zu KuKluxKlan-Methoden der Zensurstelle der Stasi durch den Rost des Robotron-Rechners gefallen ist, entzieht sich vollends der Vorstellungsfähigkeit des Autors der vorliegenden Studie. Vielleicht hatte auch hier Markus Wolf seine konspirativ wirkenden Finger auf der Tastatur. Die Produktion des Trabanten wurde drei Jahre nach der Wende 1992 eingestellt. Die Warnung von Lenin fiel ins Nichts: «Jeder klassenbewußte Arbeiter, Soldat und Bauer muß sich aufmerksam in die Lehren der russischen Revolution hineindenken, besonders jetzt, Ende Juli, wo klar ersichtlich geworden ist, daß die erste Phase unserer Revolution mit einem Mißerfolg geendet hat.» [42] Resumée Wir müssen feststellen, daß das AK mit dieser Betriebsanleitung ein Dokument der Systemkritik, ein Manifest der Konterevolution vorgelegt hat. Der Trabant fungiert als Symbol des Widerstandes wie weiland der «Bundschuh», wie Martin «Luther, des duvels knecht, und siene dravanten»[43], Vorbereiter der Bauernkriege von der Wartburg.[44] In dieser Betriebsanleitung werden grundlegende Werte des real existierenden Sozialismus auf geschickte Weise in Frage gestellt. Sie ist ein historisch fundiertes Dokument des Widerstandes, eine auf der Grundlage des M/L basierenden Manifestation der Gewaltlosigkeit gegen verkrustete Strukturen, gegen Stasi, KGB und Politbüro. Zitieren wir zum Trabanten und der SED, dieser sozialistischen Entität von Plan und Gerät ein letztesmal Lenin: «Nein, vor einem solchen Apparat und selbst von Elementen dazu haben wir lächerlich wenig.»[45] Facit: Wenn die Gauck-Behörde alle Dokumente aus der ehemaligen DDR, aus dem Gültigkeitsbereich der Reichsbahn in gleicher Weise so sorgfältig prüfte, würde es sich wahrscheinlich herausstellen, daß die Bürger der DDR vor 1989, so wie alle Deutschen vor 1945, einen Hort des Widerstandes gebildet haben. Literatur: Brednich, Rolf Wilhelm: Trabi-Witze. Ein populäres deutsches Erzählgenre der Gegenwart. Volkskunde in Niedersachsen. heft 1/1990 7. Jg. =(RWB) dtv-Lexikon Konversationslexikon in 20 Bänden. Band 18: Stra-Trir. Deutscher Taschenbuch Verlag dtv (=dtv) Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Abriß. Berlin: Dietz Verlag, 1978 (=SED) Grimm, Jacob und Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Elfter Band. I. Abteilung I. Teil T-Treftig. Bearbeitet von Matthias Lexer, Dietrich Kralik und der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches. Leipzig Verlag von S. Hirzel, 1935. (=GG) Klaus, G. und Buhr, M.: Philosophischer Wörterbuch. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut, 1976, BD. 1 (=PW) Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutsche Sprache. 21. unveränderte Auflage. Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1975. (=KL) Lenin, W.I.: Ausgewählte Werke Band II. Berlin: Dietz Verlag, 1976(=LII) Lenin, W.I.: Ausgewählte Werke Band III. Berlin: Dietz Verlag, 1976. Ökonomik und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats (=LIII). Marx, Karl und Engels, Friedrich: Staatstheorie. Ed.: Eike Hennig, Joachim Hirsch, Helmut Reichelt und Gert Schäfer.1974 Frankfurt/M. — Berlin — Wien: Verlag Ullstein GmbH, 1974 (=ME) Marx, Karl: Tausch, Arbeitslohn, Freiheit und Gleichheit,. (Text nach: K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (Rohentwurf), Berlin 1953, und Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23 (=MK). Röcke, Matthias: Der Trabant: Königswinter 1990 (S.21) (=RÖ) Vom Sinn unseres Lebens. Zentraler Ausschuß für Jugendweihe in der DDR (Hrsg.), Berlin: Verlag Neues Leben, 1983 (=SL) Wander, Karl Friedrich Wilhelm: Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. Vierter Band. Sattel bis Wei, Edition Weltbild, Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, 1876. (=WA) Anmerkungen 1 (Prawda Nr. 250, 7. November 1919) 2 VEB: Volkseigener Betrieb, IFA: Industrieverband Fahrzeugbau der DDR. Aus: Koblischke, H.: Kleines Abkürzungsbuch. VEB Bibliographisches Institut: Leipzig, 1980. 3 z. B: «Die Verbeßrung der Transport- und Kommunikationsmittel fällt ebenfalls in die Kategorie der Entwicklung der Produktivkräfte überhaupt.» (S. 466). (Karl Marx: Allgemeine Bedingungen der Produktion im Unterschied von den besonderen. In: Grundrisse der Kritik der Pol. Ökonomie (Rohentwurf, 1857-1858), Berlin: Dietz, 1953, S. 422) 4 Statt dessen hat sich das Autorenkollektiv: Alle Rechte vorbehalten (unpaginiert, Betriebsanleitung 1983). Diese Vorbehalte wurden — wie wir noch sehen werden — mit gutem Grund in das Dokument eingebaut. 5 Im Folgenden wird dieses Erzeugnis auch als «Gerät» bezeichnet (d. Verf.). 6 (KL S. 784). Der Volksmund liegt mit seinem Witz «Warum heißt der Trabi Trabi? — Wenn er schneller wäre, müßte er Galoppi heißen» gar nicht so falsch. (RWB, S. 31) 7 Begleiter von Planeten, Monde, dtv, S. 250 8 Man würde eine Fehlinterpretation vornehmen, wenn man glaubt, daß die Trabantenstädte in der DDR nach dem dort vorherrschenden Fortbewegungsgerät benannt wurden. 9 (LIII, S. 878) 10 SPEE trutzn. (1649) 40; (GG, S. 949). Damals muß der Himmel über der DDR noch recht durchsichtig gewesen sein. 11 (LIII, S. 880) 12 «Aufgrund seiner unverkennbaren äußeren Form, der charakteristischen Farbtöne, seines Zweitaktgeräusches, der Auspuff-Fahne und süßlichen Gestanks, den er hinterläßt, schließlich wegen der bedächtigen Fortbewegungsweise, gehört der Trabi zu den Fahrzeugen mit dem größten aktuellen Aufmerksamkeitswert.» (RWB, S. 20) 13 Um einen derartigen Mangel zu kompensieren, hatte Lenin empfohlen: «Einige vorgebildete und gewissenhafte Personen sollen nach Deutschland oder England geschickt werden, um Literatur zu sammeln und diese Frage zu studieren. England nenne ich für den Fall, daß eine Entsendung nach Amerika oder Kanada sich als unmöglich herausstellen sollte.» (LIII, S. 881) 14 GÖTHE 15, 1, 282 W. (Faust 10853), (GG, S. 946) 15 (GG, S. 661) 16 (LIII, S. 877) 17 KOLROSS (1532) in: schweiz. schausp. d. 16. jh.s 1, 88 (GG, S. 949) 19 Brednich (1990, S. 21) formuliert dezent: «daß dieser Wagen bei allen Eventualitäten des Lebens seinen Dienst getan hat und tut.» Dazu der Witz: Ein junger Mann betet zum Himmel: «Lieber Gott mach ihn krumm, daß ich aus dem Trabi kumm.» (RWB, S. 28) 20 (SL, S. 181) 21 H.-A. Oldenbürger: Die wichtigsten Methoden des wissenschaftlichen Arbeitens. 1980, unveröff. Manusk. 22 Aus diesen scheinbaren Erfolgen entwickelte sich im Volksmund für das Gerät die Bezeichnung «Rennpappe». Der Arbeiter- und Bauernmund witzelt: «Was ist ein Trabi mit Turnschuhen auf den Rücksitzen? — Die Ralleyausgabe.» (RWB, S. 21) 23 (PW, S. 178) 24 (LIII, S. 480). 25 Prawda Nr. 250, 7. November 1919. Unterschrift: N. Lenin 26 Im dialektischen Sinne gibt es zur Klasse auch einen Klassenfeind, der die Errungenschaften des Sozialismus sabotieren und untergraben will. Das feindliche Ausland, die westlichen Geheimdienste, der BND, die CIA und der MI5 waren aber nicht in der Lage, eine adäquate Antwort auf die Herausforderung aus Zwickau zu formulieren. 27 «millionen von sonnen ... jede von werdenden welten und ihren trabanten umringet» lautet die Prophezeiung aus dem 18. Jhdt ( ZACHARIÄ (1764) 4, 17. (GG, S. 950). 28 Marchand, Gyot: Calendrier des Bergers. Paris: 1493. Dort wird Phlegmatiker mit einem Schaf symbolisiert. 29 (H. ROSENPLÜT ged. v. Markgrafenkrieg 1450 bei LILIENCRON 1, 433, GG S. 944) 30 (N. MANUEL, 105 Bächt.; (GG, S. 949) 31 SEB. WILD in schausp. a. d. 16. jh. 1, 221 Tittm.; (GG, S.949); Dazu der Witz: «Warum hat der Trabi zwei Schlitze im Dach? — Damit die Dummköpfe, die ihn fahren, ihre Eselsohren hinausstecken können.» (RWB, S. 27) 32 (ME, S. 367) 33 (Gruter, III, 98; Lehmann, II, 864, 62, WA S. 1279) 34 HERMANN V. SACHSENHEIM sleigertüechl. in meister Altswert 254 lit. ver. (GG, S. 944-945) (SL, S. 179) 35 Erich Honecker: Auf sicherem Kurs. Zum 30. Jahrestag der Gründung der SED. In: Reden und Aufsätze, Bd. 4, Berlin 1977, S. 292 36 (N. D. GISEKE poet. w. (1767) 41; (GG, S. 950) 37 IX. Parteitag der SED, Berlin, 18. bis 22. Mai 1979 Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, SED, S. 5. 38 Der Autor der vorliegenden Studie auch! 39 Dazu die Witze: Der Trabi hat kürzlich im Windkanal einen Vergleich gewonnen. — Gegen wen? — Gegen eine Schrankwand; oder: Egon Krenz fragt beim Trabi-Werk an: «Ist es möglich, daß ein Trabi mit hundertzehn in die Kurve fährt?» Antwort: «Es ist möglich. Aber nur einmal!» (RWB, S. 27) 40 Sogar diese Betriebsanleitung wurde in einem VEB-Verlag gedruckt, der ausgezeichnet war für seine Qualitätsarbeit: VEB FACHBUCHVERLAG LEIPZIG Redaktionsschluß 30.6.1983. Gesamtherstellung: INTERDRUCK Graphischer Großbetrieb Leipzig. Betrieb der ausgezeichneten Qualitätsarbeit, III/18/97. KG B 3/84. 41 (LIII, S. 877) 42 Juli 1917, Nachwort am 6. (19.) 10/31.08. 1917 im Rabotschi Nr. 8 und 9, Unterschrift: in Nr. 8 N-kow, in Nr. 9 N. Lenin 43 DANIEL V. SOEST 225 Jostes (GG, S. 949) 44 (SL, S. 111), gleichnamig ein spätsozialistisches Konkurrenzunternehmen zum Trabanten. 45 (LIII, S. 877) Biographische Notiz aus dem Buch: Dr. hist. phil. Dr. rer. nat. Michael H. Schwibbe, Jahrgang 1948, Diplom-Psychologe und Volkskundler, ist Leiter der Stabsstelle EDV/Kommunikation im Deutschen Primatenzentrum (DPZ) in Göttingen, wo er auch lebt. Laubacher Feuilleton 10.1994, S. 12 und 13; wiederabgedruckt in Überall ist Laubach, München 1995, S. 136 – 150 Aus der (vagen) Erinnerung: Verfaßt hatte Michael H. Schwibbe diesen Text ursprünglich für eine interne Festschrift seines Instituts. Dessen Bruder hatte unserem Manfred Jander in der Stammkneipe Rheinpfalz davon erzählt. Und der Autor hat dem Verlag die Veröffentlichung schließlich genehmigt. Dafür auch bald zwanzig Jahre danach noch einmal herzlichen Dank.
Bouvard und Pécuchet im Wechselspiel Will der Clown Colombaiano einen Lacher hervorrufen, zeigt er auf seinen Bruder und schimpft ihn «Dilettant», Das Publikum lacht auch dann, wenn Colombaiano es ebenfalls «Dilettant» nennt. So durchsichtig das Spiel auch ist, man horcht doch auf. Dilettant, ähnlich wie Schwiegermutter, muß ein komisches Reizwort sein. Die Komik, eine mitleidlose, liegt, so scheint es, weniger im Halbwissen oder in der sprichwörtlichen Unfähligkeiten des Dilettanten als vielmehr in seinem Drang, über seine Verhältnisse zu leben. Er maßt sich sogar an, ein Clown zu sein. Hat aber Colombaiano seinen Lacher erzielt, streicht er sich mit der Linken affektiert übers Schläfenhaar und verkündet, mit der Rechten auf sich deutend: großer Künstler. Der Manichäismus ist perfekt, wobei natürlich auch dem großen Künstler Komik anhaftet. Allein, was der Clown, der Lacher sicher, vorführt, trifft zwar, wie alle Binsenweisheiten, zu; der Manichäismus allerdings ist in Bewegung geraten. Heute kann der Dilettant ein großer Künstler sein oder der große Künstler Dilettant. Dilettanten, wie sie im Buche stehen, stehen in einem Buch. Zunächst einmal sind Bouvard und Pécuchet Jammergestalten. Nicht ohne Ingrimm hat Flaubert sie anfangs «seine Idioten» genannt. Acht Jahre nach dem Erscheinen des Romanfragments schrieb ein Kritiker, es handele sich um die Geschichte von einem Faust, der gleichermaßen ein Idiot sei. Das Angelesene, über Gartengestaltung, über Astrologie, Agronomie, Literatur, Philosophie, Gymnastik, Geschichte, Okkultismus und Religion, setzt sich in eine hinfällige Praxis um und endet im Chaos. Die Denunziation läßt sich gradlinig an; ihr Ergebnis jedoch ist Resignation. Borges oder Chagraff sehen gar eine Versöhnung zwischen Flaubert und seinen Geschöpfen, dort zumal, wo es heißt: «Nun entwickelte sich in ihrem Geist ein erbärmliches Talent: die Dummheit zu sehen und nicht zu ertragen. Unbedeutende Dinge machten sie traurig; die Reklame in den Zeitungen, das Profil eines Bürgers, eine törichte Bemerkung, die sie zufällig hörten.» Tatsächlich sollte, wie es die nachgelassenen Notizen zeigen, eine Art Identität zwischen Flauberts schreibendem Ich und den fiktiven Zerrbildern zustande kommen. Wieder am Schreibpult tätig, hätten sie den sottisier, eine Sammlung dümmlicher Zitate, und das ebenfalls von Flaubert gesammelte Lexikon der Gemeinplätze abschreiben sollen. Der Doppelsinn, an den Schreibern demonstriert, ist exemplarisch. Auf die Frage, ob der Dilettant eine Spottfigur sei oder ein Nachfahr jenes Laien aus der Goethezeit, der eher als auf die Existenz von Himmel und Hölle sein Augenmerk auf ein Farnkraut oder ein Quecksilberthermometer lenkte, antwortet Flaubert mit einem Sowohl-als-Auch. In einer Welt der Banalitäten ist der ein wenig weniger Banale besser daran. So lächerlich es auch sein mag, daß der ganze Fachgebiete einem Do-it-yourself unterzieht: soll er die Hände in den Schoß legen und blindlings ein Fachwissen, das er ohnehin, wenn überhaupt, nur schwer versteht, akzeptieren? Denn Flaubert geht ebenso gern das Fachwissen an, dargestellt als eine Summe von Widersprüchen und Absurditäten. Die Tagebucheintragung des Harry Graf Kessler, wie ihm Einstein anhand eines Apfels die Relativitätstheorie erklärt, könnte von Flaubert stammen. Auch hat Flaubert mit seiner am Ende gewollten Mehrdeutigkeit eine Unterscheidung suggeriert. Der Laie nämlich, nicht nur der aus Goethes Tagen, nimmt sich, weil er aus seiner Unschuld keinen Hehl macht, anders aus als der Dilettant. Im Zweifelsfall wird er sich mit einer Passivität abfinden, die ihn immerhin davor bewahrt, sich, wie ein Dilettant, in den Kopf zu setzen, daß er, könnte er nur, wie er wollte, die Nachtwache zu malen oder die Recherche zu schreiben imstande wäre. Nebenbei: die sogenannten naiven Maler sind natürlich keine Laien: sie leben davon, eine infantile, am Zöllner Rousseau geschulte Sehweise professionell auf ganze Leinwandserien zu übertragen. Schließlich legt Flaubert eine gewisse Sympathie für den Autodidakten nahe. Das bißchen Erkenntnis, das Bouvard und Pécuchet aus ihren wirren Verrichtungen ziehen, kann als ein zurückgenommener Hinweis gelten: zumal im Bereich der Künste lernt man am besten selbst. So gesehen, hieße die nobelste Verkörperung des Autodidakten Paul Cézanne. Hans Platschek Laubacher Feuilleton 4.1992, S. 15, mit freundlicher Genehmigung des Autors; aus: Faust, der ein Idiot ist, in: Über die Dummheit in der Malerei, Suhrkamp Taschenbuch 1139, Frankfurt am Main 1984, S. 93 – 95; erstmals abgedruckt in: TransAtlantik Nr. 11, München 1982 Siehe auch: Hildegard Haberl Katharina Rutschky Stefan Zweifel Die Photographie mit dem Titel bouvard et pécuchet stammt von Ol.vier[H2vPk] und steht unter CC.
Madame Bovary In der Verfilmung von Bukowskis Roman Das Leben und Sterben im Uncle-Sam-Hotel steht Ben Gazzara auf der Bühne und sagt: Alles, was man tut, muß mit Stil geschehen. Auch das Öffnen einer Sardinenbüchse. Stil unterscheidet den Menschen schließlich vom Tier. Ein Tiger hat den Gang eines Tigers, er kann nicht gehen wie ein Elephant. Nur Menschen können gehen wie Tiger oder Elefanten. Kreolen haben Stil, das fanden jedenfalls wir Inder in Surinam; dieser Gang, dieses Wippen mit dem linken Bein und das träge Schlingern der Arme, fleißig übten wir diese Bewegungen, wenn wir uns unbeobachtet glaubten. Aber mehr als ein Hinken brachten wir nicht zustande. So bedeutet Kultur im weitesten Sinne auch nichts anderes als eine Ansammlung von Stilen, von den kleinsten Eigenheiten bis zur allesumfassendsten Lebensart. Kultur ist ein Aggregat der Wissenschaft. Deshalb ist eine gelebte Kultur, wie die englischen Forscher Raymond Williams und E. P. Thompson vorschlagen, ein Ding der Unmöglichkeit. Denn wenn man in einer Kultur lebt, nimmt man diese als solche gar nicht wahr, sondern nur ein einziges Chaos aus Stilen. Der Unterschied zwischen den kurzfristigen, oberflächlichen Stilen, die ‹Mode› genannt werden, und den langanhaltenden, tiefgründigen Stilen, die wir, ja, frischauf, ‹Volkscharakter› nennen, ist gewiß nicht einfach zu bestimmen. Kultur ist grundsätzlich eine Beobachtung des Außenstehenden. Das Objekt der Beobachtung sieht nur Eigenheiten um sich herum: indische Kinder, die mit Kokosöl eingerieben werden, weshalb sie in der Sonne wie Glühwürmchen glänzen. Indische Jugendliche, die sich genauso modisch zu kleiden versuchen wie die Kreolen von Paramaribo, es aber in Sachen Größe und Schnitt zum Scheitern verurteilt sehen, weil sie für die westliche Konfektion zu klein und auf einen Schneider angewiesen sind, der zwar Rabatt einräumt, aber keinerlei Sinn für Mode besitzt. Indische Familien, die oft Curry essen, sich sonntags aber für gebratene Sardinen in Tomatensoße entscheiden. Ich erinnere mich an einen landesweiten Aufstand im Nachbarland Guyana, als die Regierung wegen eines Devisenmangels beschloß, den Import von eingebüchsten Sardinen zu verbieten. Man hatte den Indern den Sonntag verdorben! Doch an diesem gleichen Sonntag gehen die Inder treu ins Kino, in dem indische Filme gezeigt werden: Um von einem Indien ohne Slums, Bettler, Unrecht oder Gestank zu träumen. Sie genießen ihre Sehnsucht nach dem Land ihrer Herkunft, sie laben sich am Betrug, der ihnen aufgetischt wird, gerade weil sie wissen, daß es Betrug ist. Diese Sehnsucht, wie künstlich sie auch sein mag, gehört zur Erziehung des Inders. Darum lernt er einen indischen Dialekt, kennt die Filmstars und Sänger, liebt die Musik und praktiziert die Religion. Man muß sich seiner Herkunft bewußt sein, solange man keine Zukunft daraus machen will; kein Inder will zurück nach Indien. Der Volkscharakter des Inders, so heißt es, zeichnet sich durch Umgänglichkeit und eheliche Treue aus. Ich würde es eher Duldsamkeit nennen. Mahatma Gandhi machte die Gewaltlosigkeit zum Prinzip, aber der Durchschnittsinder duldet seine Prügel bloß in der Hoffnung, daß der Gegner der Prügelei irgendwann müde wird und von selbst damit aufhört. Und selbstverständlich denkt eine indische Frau niemals ernsthaft darüber nach, ihren Mann zu verlassen, wie schlecht er sie auch behandelt, weil sie wissen, daß eine alleinstehende Mutter von der gesamten indischen Gemeinschaft ausgeschlossen wird, gequält und verflucht. Sie ist vernünftig und bleibt bei dem brutalen Kerl, den sie zumindest kennt. Inder verehren die Alten, saufen schon um acht Uhr morgens, stecken alles Geld in den Sparstrumpf, bescheißen ihre Kunden, lachen nur über alberne Witze, neigen zum Melodram und hegen einen bedingungslosen Abscheu vor Negern. In der indischen Sprache ist die schmeichelhafteste Bezeichnung für einen Kreolen kaffrie, womit alles gesagt ist. Das sind nur ein paar der aberhundert Stilmerkmale und Kennzeichen, ohne daß man darin Kultur erkennen würde. Für uns in der Kolonie war das kleine Wort Kultur dem anderen Land vorbehalten, den fernen Niederlanden. Dort herrschte Kultur, dort tranken sie ordentlichen Kaffee, dort hatten Geschäfte eine Rolltreppe — bei uns in Surinam war nur ein einziger Laden mit dieser Modernität ausgestattet. Im Mutterland war alles übersichtlich. Aus der Lektüre holländischer Bücher haben wir gelernt, daß jeder in den Niederlanden unter einem Kriegstrauma leidet und die Menschen dort herrlich ungezwungen miteinander umgehen, nach einem kurzen Nicken zur Begrüßung hüpfen sie gleich miteinander ins Bett. Niederländer haben keine Eigenheiten und Stilmerkmale, so dachten wir auf dem Lyceum von Paramaribo, Niederländer haben Kultur. In diesem Sinne waren wir schon sehr früh Einwanderer, lange bevor wir unser Land verließen, schon, als wir auf die höhere Schule überwechselten, was automatisch bedeutete, daß wir einmal unser Land verlassen würden. Unser tägliches Leben war so geprägt von diesem Drang, alles zu verlassen, daß man vielleicht doch von einem stilistischen Problem sprechen sollte. Eher eine Eigenheit als eine Lebensart, eine triviale, marginale und persönliche Angewohnheit. Vielleicht habe ich deshalb das Gefühl, daß das, was ich hier in den Niederlanden zum Einwandererschicksal zu sagen habe, nicht feierlich und gewichtig genug ist. Das Gefühl also, daß das, was ich bereits mein ganzes Leben lang erfahre, zu banal ist, um darüber ein Wort zu verlieren. So ist das Einwandererschicksal nichts anderes als ein eingeöltes Ferkel, das man bei einem Fest im Saal losläßt: ein unfaßbares und hirnverbranntes Phänomen, dem wir keine würdige Bedeutung beimessen können. Eine alberne Abartigkeit, eine Hautkrankheit, wie Stephan Saunders es in Ai Jamaica nennt, eine Abartigkeit, die eher milde Nachsicht und väterliche Rührung weckt als aufrichtige und ernsthafte Anteilnahme. Das Einwandererschicksal ist eine Sache des Stils, und man kann sich ihm mit den verschiedensten Stilweisen nähern. Zum Beispiel mit dem akademischen Stil, wie Stuart Hall es in seinem Buch Het minimale zelf vorgeschlagen hat. Die moderne Identität des Bewohners der westlichen Hemisphäre hat sich zersplittert, ist auseinandergefallen in eine große Zahl von Subjektivitäten, die alle von einem anderen Diskurs angesprochen werden. Das führte zur kulturellen Orientierungslosigkeit, die für die heutige Zeit bezeichnend ist und die uns Einwanderer, ohne daß wir auch nur einen Finger zu rühren brauchten, zu den zeitgenössischsten Wesen der Postmoderne werden ließ — bei wem sonst läge die Zersplitterung tiefer? Der akademische Stil macht aus der Not eine angenehme Tugend, obwohl man sich fragen muß, ob ein Schild aus Strohgeflecht nicht praktischer wäre, wenn man von einem orientierungslosen Skinhead mit prämodernem Baseballschläger angegriffen wird. Man fragt sich auch, ob das überlegene Gefühl, ein postmoderner Held zu sein, nicht nur Lacktünche ist, die einen von außen glänzen, im Innern aber zittern läßt. Der akademische Stil gründet auf schwankendem Boden, weil in seiner Welt Skinheads und Baseballschläger nicht vorkommen. Es gibt auch einen politischen Stil, der aus dem Einwandererschicksal ein Mittel des blanken Antirassismus macht. Es ist ein böser, aggressiver Stil, mächtig und ohnmächtig zugleich, wie eine Boa Constrictor, die eine Seekuh erwürgen könnte, aber dem Pieksen einer Stecknadel nicht standhält. Ein Beispiel dafür ist der Protest gegen die Benetton-Reklame, auf dem ein weißes Mädchen mit Engelshaar neben einem schwarzen mit zwei aufrecht stehenden Zöpfen wie Teufelshörner abgebildet ist. Der politische Stil gebietet die erbarmungslose Verurteilung dieses Photos, wo das Schwarze wieder einmal das Böse symbolisiert. Der authentische surinamische Stil hingegen offenbart sich an diesem Beispiel in Form einer ungeheuer dicken Kreolin, die in der Metro dieses Reklameposter betrachtet und nachdenklich zu ihrer Freundin sagt: «Eins verstehe ich nicht, wie haben die die Zöpfe nur so hingekriegt?» Der einfache Volksstil hat die potentielle Gehässigkeit dieser Reklame wirkungsvoll zu einer technischen Glanzleistung mit Kraushaar umfunktioniert. Der politische Stil des Antirassismus aber will derartigen Naivitäten ein Ende setzen. Dabei zeigt man Gespür für dramatischen Effekt, doch nicht für Verspieltheit. Das Einwandererschicksal wird bedeutsam aufgewertet, indem es zu einem großen gesellschaftlichen Problem gemacht wird. Die trivialen Empfindungen eines Farbigen verwandelt sich zu einer Erfahrung des Rassismus, zu einem ethnischen Bewußtsein, einer Basis gegenseitiger Solidarität gegen die uns umgebende Feindseligkeit. Es spricht ja auch vieles dafür. Davon hat man wenigstens was, wenn man auf dem Boden liegt und den Baseballschläger auf sich zukommen sieht. Das Problem dabei ist, daß diese gegenseitige Solidarität nur auf Haßgefühlen zu gedeihen scheint. Die Anhänger des politischen, antirassistischen Stils haben eine Brigade gebildet. Dem irrationalen Haß, den man Rassismus nennt, setzen sie eine Art rationalen Haß entgegen. Dieser Antirassismus, ein Gegen-Haß sozusagen, beruft sich auf die Geschichte, auf die Vergangenheit, als schwarzen Völkern unsäglich viel Leid angetan wurde. Das sind die nicht-anerkannten Verbrechen, das ist der verschwiegene oder zur Bagatelle herabgewürdigte Holocaust; der Rassismus gehört zum Erbgut der westlichen Zivilisation. Zweifellos darf niemals vergessen werden, daß noch 1908 einige niederländische Biologen vorschlugen, einen Neger mit einem Gorilla zu kreuzen, weil man auf diese Weise vielleicht das «missing link» in Darwins Theorie finden könnte. Zweifellos darf niemals vergessen werden, daß die Briten ihre aufständischen Sklaven zur Strafe nach Surinam schickten, weil die Holländer über ausgesprochen ausgeklügelte Foltermethoden verfügten. Wer seine Vergangenheit nicht kennt, kennt sich selbst nicht. Aber warum sollte ausgerechnet ich den Bewohnern der westlichen Zivilisation diese Vergangenheit klarmachen müssen? Weshalb sollte ich den Europäern zu ihrer Selbstfindung verhelfen? Ich hab's doch wahrlich mit der eigenen Vergangenheit und dem eigenen Stil schon schwer genug. Wie richtig es auch sein mag, die Weißen auf ihre Schuld hinzuweisen, eine Empfindungslosigkeit gegenüber allen Weißen, wie sie der politische Stil an sich hat, ungeachtet, ob diese bereit sind, ihren Teil der white man's burden zu tragen oder nicht, darf nicht die Folge davon sein. Einmal vertraute mir ein schwarzer Antirassist flüsternd an, daß jeder weiße Antirassist grundsätzlich der fünften Kolonne angehöre. Käme es hart auf hart, so fuhr er fort, würde es doch jeder Weiße für den anderen aufnehmen. Ein etwas extremer Fall, das gebe ich zu, vielleicht war er ein Idiot, vielleicht aber auch nur die Spitze eines Eisbergs. Diese Empfindungslosigkeit, die an Sadismus grenzt, ist bei der politischen Aufarbeitung des Einwandererschicksals merkwürdig genug mit Überempfindlichkeit gepaart. Es sei an die Benetton-Reklame erinnert: Die Boa Constrictor fühlte sich doch ordentlich gepiekst. Dennoch halte ich die Anhänger des politischen Stils für sehr wichtige Leute, zum einen aus rein opportunistischen Gründen bezüglich des Strohschilds und des Baseballschlägers, zum anderen aber auch aus einfacheren, freundschaftlicheren Gründen. Wir alle haben zusammen in der Kolonie gelebt und geträumt, zusammen die Überfahrt gemacht und uns gegenseitig gefragt, was wohl mehlige Kartoffeln sein könnten und was man gegen kalte Füße tun könne. In der Kolonie gehörten wir der Mittelklasse an, waren Kinder von Lehrern und Beamten, dazu bestimmt, einst dicke Magisterarbeiten über die Sklaverei und Vertragsarbeit zu verfassen. Wir haben Frantz Fanon gelesen, Malcom X, das Tagebuch Che Guevaras, 500 Jahre Conquista. Die dritte Welt im Würgegriff von Eduardo Galeano, Afrika: Die Geschichte einer Unterentwicklung von Walter Rodney, mindestens zwei Taschenbücher von James Baldwin und Alice Walkers Die Farbe Lila. Der politische Stil setzt nun einmal ein überentwickeltes historisches Bewußtsein voraus. Aber warum geht es fast immer einher mit einem unterentwickelten sozialen Bewußtsein? Die Grimmigkeit, die Wut und Verbitterung führen eher zu Gleichgültigkeit als zu Solidarität. In ihrem Grabenkrieg hinterlassen die Antirassisten auf allen Seiten Opfer, nur nicht auf seiten des echten Feindes. Verleugne ich die Notwendigkeit eines politischen Stils, der gegen Vorurteile und negative Stereotypen ankämpft? Keineswegs. Ich bezweifle nur den Erfolg der gewählten Methode. Ist es denn wirklich nur eine Frage des Stils? Ja, es ist wirklich nur eine Frage des Stils, das sagte Bukowski doch schon. Ein anderer, weniger verbitternder Stil, sein Einwandererschicksal aufzuarbeiten und in Worte zu fassen, ist der literarische Stil. Und um der Banalität dieses Problems zu entgehen, will ich mich ihm so feierlich wie möglich nähern und Hilfe suchen beim größten Stilisten der Welt, welcher eine Romanfigur schuf, mit der wir Einwanderer uns vollständig identifizieren können. Dieser Schriftsteller heißt Gustave Flaubert, und bei der Romanfigur handelt es sich natürlich um Madame Bovary. Es mag weit hergeholt scheinen, einen Einwanderer ausrufen zu lassen: Madame Bovary, das bin ich. Aber die Vorstellung hat mich nicht mehr losgelassen, seit ich dieses Buch in Surinam las, in einer verfehlten Übersetzung und inmitten einer nicht minder verfehlten Lufttemperatur. Nicht, daß ich begriffen hätte, warum dieses Buch mich so ansprach. Hatte Flaubert dies beabsichtigt? Es ist recht unwahrscheinlich, daß er mich als Leser ins Auge gefaßt haben mag. Damals, als er das Buch schrieb, herrschte in Surinam noch die Sklaverei, und meine Vorfahren plagten sich noch auf den Reisfeldern von Uttar Pradesh. Was wußte Flaubert überhaupt von der Dritten Welt? Daß man sich dort die Syphilis holen konnte. Mit neunundzwanzig reiste er nach Kairo und verlor unverzüglich seine europäische Reinheit an eine ägyptische Kurtisane. Vier Jahre vorher hatte er geäußert, Brahmane werden zu wollen, kam also meiner Meinung nach der Sache doch schon beträchtlich nahe. Aber nicht lange davor wollte er ein Schwein werden, oder Eseltreiber. Allzu ernst sollten wir also Flauberts Absichtserklärungen nicht nehmen. Flaubert war bereits zweiunddreißig, als er zum ersten Mal einen echten schwarzen Menschen sah. 1853 schreibt er in einem Brief: «Es waren Kaffer, die man gegen ein Entgeld von fünf Centimes in der Grande Rue besichtigen kann. Wilde Tiere mit Tigerfellen auf dem Rücken, die unartikulierte Schreie ausstießen und wie die Affen um einen Topf glühender Kohlen hockten. Vier waren es, scheußlich anzusehen, übersät mit glitzernden Amuletten und Tätowierungen, mager wie Skelette. Ihre Haut hatte die Farbe einer zerrauchten Pfeife, sie hatten ein plattes Gesicht, weiße Zähne und riesige Augen, ihre verwirrten Blicke waren Blicke des Kummers, des Erstaunens und der Dumpfheit, und kauerten um die glühenden Kohlen wie ein Nest Kaninchen. [...] Ich schien die ersten Menschen der Welt vor Augen zu haben. Sie waren eben geboren und krochen noch mit den Kröten und den Krokodilen um die Wette.» Einer der Wilden, eine Frau von ungefähr fünfzig Jahren, verliebte sich sofort in Flaubert: «Sie näherte sich mir in unzüchtiger Weise», schreibt Flaubert, «und wollte mich umarmen, was die übrigen Zuschauer ziemlich entsetzte. Ich blieb eine Viertelstunde, und sie war eine einzige Liebeserklärung der primitiven Frau an mich.» War Flaubert Rassist? Diese Schlußfolgerung wäre übereilt, denn im selben Brief fährt er fort: «Was habe ich nur an mir, daß alles, was schwachsinnig, verrückt, idiotenhaft und wild ist, auf den ersten Blick in Liebe zu mir entflammt? Erkennen die armen Geschöpfe mich vielleicht als einer der ihren? Spüren sie, daß es zwischen uns irgendein Band gibt? Das wird es wohl sein.» Flaubert versprach, dieser ethnischen Frage auf den Grund gehen zu wollen. In Madame Bovary merken wir noch nicht allzu viel davon, das Gespräch zwischen dem Apotheker und Léon vielleicht ausgenommen, wo letzterer sich fragt, wie es wohl wäre, mit einer Negerin ins Bett zu gehen. Ach, antwortet der Apotheker, das sei wohl eher was für Kenner. Aber ich bleibe dabei, daß man Madame Bovary als frühe Allegorie dessen lesen kann, was man später das Einwandererschicksal nennen wird. Wer das Buch nur oberflächlich gelesen oder Chabrols Verfilmung des Romans gesehen hat, mag glauben, Madame Bovary handele vorwiegend von der Liebe. Weit gefehlt, das meinte auch Jonathan Culler bereits 1974: Die Liebe sei nur eine Metapher für die Sehnsucht, und im Grunde gehe es in der Madame Bovary um die Zweieinheit aus «Langeweile» und «Enttäuschung». Ist man sich einmal dessen bewußt, findet man auf jeder Seite Beweise für diese Sichtweise. Aus reiner Langeweile geht die junge Emma ins Kloster, auf der Suche nach Gott, über den sie so viel gelesen hat. Das ist der Vorgeschmack auf ein immerwiederkehrendes Thema: Lesen. Es bedeutet, Erfahrungen in der Phantasie zu sammeln. Und wer diese imaginäre Erfahrung in der Wirklichkeit erleben will, muß sich am Ende betrogen sehen. Also ist Emma enttäuscht und verläßt das Kloster. Wieder zu Hause, langweilt sie sich, die Flaubertsche Langeweile, die nichts mit Müßiggang oder Faulheit zu tun hat, sondern mit unerfüllten Erwartungen, mit Sehnsüchten, die einst von der Literatur geweckt worden waren. Wann wird endlich eintreffen, worüber sie bisher so viel gelesen hat? Als sie Charles Bovary, den Dorfarzt, trifft, glaubt Emma sich am Ziel ihrer Sehnsüchte. Jetzt endlich wird sie erfahren, was Verzückung, Leidenschaft und Rausch zu bedeuten haben, Worte, die ihr in den Büchern so gefallen hatten. Aber man weiß, daß Emma die Gespräche mit ihrem Mann schon nach ein wenigen Tagen «flach wie einen Bürgersteig» findet, «über den Allerweltsgedanken in Alltagskleidern schlendern, kaum imstande, irgendein Gefühl zu erwecken oder ein Lachen, eine Träumerei». Emma fängt an, Charles zu hassen, aber mehr noch haßt sie ihre eigene Passivität und Orientierungslosigkeit. Wieder gibt sie sich der schicksalsträchtigen Beschäftigung hin: dem Lesen. Sie liest über die andere Welt, über Paris, die Aristokratie, die Stadtmode, sie liest über Stil, Musik und Tanz, über berühmte Menschen und wie sie sich die Zeit vertreiben. Aber das alles hat nur eine panikartige Sehnsucht zur Folge. Da lernt sie den gutaussehenden, reichen, eleganten, abenteuerlichen und galanten Rodolphe kennen, und die Frage stellt sich, ob es diesen Rudolphe auch wirklich gibt oder er nur eine Figur aus jener Schundliteratur ist, die Emma ihr ganzes Leben lang verschlungen hat. Ich folge hierbei der Deutung Woody Allens. In seinem Buch Nebenwirkungen findet sich die Geschichte über einen gewissen Professor Kugelmass, deren Grundidee im übrigen zu dem Film The purple rose of Cairo umgearbeitet wurde. Emma, so suggeriert Allen, begeht Ehebruch mit jemanden, der eigentlich in ein Buch gehört. Im Grunde hatte Emma schon lange Ehebruch begangen und war ihrem Gatten, jedesmal, wenn sie ein Buch las, untreu geworden. Aber Emma ist sich dessen nicht bewußt und weiß auch nicht, daß der Ehebruch mit Hilfe der Literatur um so vieles reizvoller ist als der Ehebruch im Grünen mit einem Mann aus Fleisch und Blut. Emma vertauscht Traum und Wirklichkeit, sie will zu einer Romanfigur wie Rodolphe werden, will mit ihm fliehen und in einem niedrigen Haus mit flachem Dach wohnen, überschattet von einer Palme — also in einem Haus in den Tropen? Keineswegs, das ginge zu weit. Ein Mensch kann die Literatur noch so sehr lieben, aber er kann niemals zu Literatur selbst werden. Wer Traum und Wirklichkeit durcheinander bringt, wer zu sehr in der Welt der Literatur aufgeht, begeht eine Torheit. Er wird irre oder im günstigsten Falle unglücklich. Flaubert hatte eine Schwäche für Torheiten, und Emma Bovary ist im Grunde die vollkommene Schöpfung einer törichten Person. Glück ist eine Folge der Unschuld und des Mangels an Selbstbewußtsein, der Unwissenheit. Menschen, die das Lesen lieben, sind grundsätzlich unglücklich. Sie leben in einer Realität, die es nicht gibt, sie ahnen, wie der Pudding schmecken muß, ohne einen Bissen von ihm nehmen zu können. Warum behaupte ich nun, daß Einwanderer die vollkommenen Emmas sind? Das liegt geradezu auf der Hand: In den Kolonien verschlangen wir Bücher niederländischer Autoren wie Hermans, Reve, Wolkers, Arthur van Schendel, Bordewijk, Slauerhoff, Bomans und Carmiggelt. Wir erfuhren eine Welt, die nicht die unsere war, eine Traumwelt, von der einen Happen nehmen wollten, sooft wir zur Bibliothek gingen. Die Geschichten aus dem Mutterland halfen uns dabei, dem Wirrwarr aus Eigenheiten zu entkommen, in dem wir gefangen waren; wir träumten von einem Leben ohne Kokosöl auf der Haut, von Kleidern mit passendem Schnitt, von einem Beefsteak statt Sardinen, von Filmen, die kein verlogenes Bild einer Vergangenheit, sondern ein ehrliches Bild der Gegenwart lieferten, von einer Welt ohne Gewalt und rassistisch begründetem Abscheu. Auf dem Lyceum wurden wir buchstäblich getriezt für die Reise in die andere Welt. Uns wäre nicht im Traum eingefallen, bei unserem Charles, dem Vaterland Surinam, zu bleiben. Ich gebe zu, daß wir einen Augenblick lang stolz und glücklich waren, als das Land unabhängig wurde, aber sehr rasch wurden die Gespräche darüber flach wie ein Bürgersteig. Das Land war nichtig, schwach und banal. Ich gehöre einer Generation an, die zwanghaft Ehebruch begehen wollte, wir waren von der gleichen verderbten Art wie Emma Bovary und so von der Welt der Literatur besessen, daß die ganze Kolonie nur eine nagende, quälende, irremachende, Flaubertsche Langeweile war. Jeder echte Einwanderer weiß deshalb genau, was es zu bedeuten hat: ein Leben voller unerfüllter Erwartungen und Sehnsüchte, die immer stärker werden. Wir gierten und verzehrten uns nach unserem Rodolphe; entführe mich, riefen wir im Chor und machten die große Überfahrt. Wir zogen in die Welt, wo es «ein starkes und schönes Wesen gab, eine tapferne Natur, leidenschaftlich und zartfühlend zugleich, eine Dichterseele in Engelsgestalt, eine Leier mit bronzenen Saiten, die wehmütige Hochzeitslieder zum Himmel emporsandte»; Flaubert war ein großartiger Stilist, und im Übertreiben war er auch nicht schlecht. Aber Sie haben es ja inzwischen begriffen: Es hat sich nicht gelohnt, dieses Wesen zu suchen. Und Emma Bovary begreift es im letzten Kapitel, als sie über ihr Leben nachdenkt, schließlich auch: «Alles ist Lüge. Jedes Lächeln verbirgt ein Gähnen der Langeweile, jede Freude einen Fluch, jeder Genuß seinen Ekel, und die heißesten Küsse hinterlassen auf den Lippen nur das unstillbare Verlangen nach noch höherer Wollust.» So fanden wir im Ehebruch nur die ganze Gewöhnlichkeit aus der Ehe mit Charles wieder. Das Leben in den Niederlanden war beileibe nicht das, was die Bücher uns vorgespiegelt hatten, die Bewohner des Mutterlandes erwiesen sich nicht als generös, scharfsinnig, offenherzig und freundlich. Im Gegenteil, sie waren steif, argwöhnisch, kalt, nüchtern, bärbeißig, voreingenommen und so einsam, daß sie lange Gespräche mit ihren Haustieren führten. Außerdem machte uns das Mutterland auf eine kränkende Weise klar, daß es nicht gerade auf uns gewartet hatte und wir niemals mehr als null und nichtig sein würden. Von der Flaubertschen Langeweile gerieten wir in die Flaubertsche Enttäuschung. Hatten Hermans, Reve, Slauerhoff und all die anderen uns das versprochen? Am Ende weiß jeder Einwanderer, daß er betrogen ist, und zwar vor allem von den eigenen Erwartungen: Den himmlischen Hoffnungen aus den Kolonien, als wir noch unwissend waren, als wir noch an Träume glaubten. Jetzt erst sehen wir die Wirklichkeit: die kühle Art, miteinander umzugehen, die nüchterne Lebensart. Kultur? Wohl kaum. Jetzt herrscht im Mutterland das Stilchaos, der Mischmasch verwirrender Eigenheiten. Und dort, im verlassenen, beklagenswerten Vaterland, sehen wir nicht mehr bloße Stilmerkmale, sondern erkennen eine echte Kultur. Das Leben zwischen zwei Kulturen ist das Leben zwischen Traum und Wirklichkeit und somit zwischen Langeweile und Enttäuschung: Das Einwandererschicksal scheint endgültig in dem der Verbitterung zu enden. Aber warum, so frage ich mich, sollten wir von der Enttäuschung nicht wieder zurück können zur Langeweile? Wir wußten doch, daß Träume niemals wahr werden, hat das uns am Träumen gehindert? Julian Barnes sagt in Flauberts Papagei, Flaubert habe auf meisterhafte Weise vorgeführt, daß die zuverlässigste Form des Genusses die Vorfreude darauf ist. Was nütze es jemanden, auf den trostlosen Dachboden der Befriedigung zu steigen, fragt er sich und spielt damit auf die Passage in Madame Bovary an, in der Emma ihre schönen, tränenglänzenden Augen zur Zimmerdecke richtet und seufzt: «Wenn Sie wüßten, was ich mir alles erträumt habe!» Aber ist Emma in den vergangenen hundert Jahren vielleicht nicht doch klüger geworden? Gibt es wirklich keinen Weg zurück, wenn man einmal den Schritt von der Illusion zur Realität gemacht hat? Ich glaube schon. Wir Einwanderer, die zugeben, Emma Bovary zu sein, brauchen nicht wieder verirrte Träumer zu werden — obwohl dagegen auch nichts einzuwenden wäre. Aber wir können lernen, auf unserem trostlosen Dachboden zu leben, und zwar mit Stil, wie Rushdie, Naipaul, Ghosh, Okri und viele andere es uns vormachen. Vielleicht ist es das Los derer, die in zwei Kulturen leben: daß sie zweimal entführt werden müssen. Anil Ramdas Kurzschrift 1.1999, S. 21 – 33 Aus: Anil Ramdas, De papegaai, de stier en de klimmende bougainvillea, Amsterdam 1992, S. 100 – 111; aus dem Niederländischen übersetzt von Ira Wilhelm; mit freundlicher Genehmigung des Autors Das photographische Portrait von Anil Ramdas stammt von roel1943 unter CC
Stille Oder: Warum es beim Stillsein laut sein kann, aber beim Lautsein nicht still Stille macht beredt. Jeder weiß genau, was das ist. Aber keine Erklärung stimmt mit einer anderen überein: Bachfugen, ist doch klar. Es gibt manchmal so einen Moment mitten im Straßengewühl. Nachts allein in einer Schneelandschaft. Vor einem Gemälde von Giotto. Allein in den eigenen vier Wänden auf dem Fußboden liegend. Nur unter Wasser. Nach einem Rockkonzert ... Regen, Wind und andere Phänomene sind einfacher zu fassen. Stille gibt es nicht. Jedenfalls nicht als Abwesenheit von Geräusch. Denn alles, was lebt, macht Geräusch. Und wer sich einschließt, in einen von allen Geräuschen isolierten Raum, der hört um so lauter das eigene Herz schlagen, hört diesen Leib rumoren, der nie still ist. Und draußen, selbst bei großer Ruhe, selbst bei jener vielbesungenen ‹Stille der Natur›, nimmt dieser Leib, an den nun einmal unsere Wahrnehmung gebunden ist, jedes kleinste Geräusch auf, denn er ist auch das, nicht nur durchpulste Hülle, auch Resonanzkörper. Ist aber die ‹Stille der Natur› damit schon gestört? Besteht sie nicht im wesentlichen aus Störungen, aus einem Astknacken, einem Insektenbrummen, selbst dem Heulen einer Kreissäge im Tal? — Sind es nicht diese kleinen Geräusche, die den Bogen, den Raum der Stille aufspannen und erst Stille erkennbar werden lassen? Wie aber kommt es, daß sie dann nicht für jeden erkennbar ist? Und für den, der sie erlebt, wie leicht ist sie tatsächlich zu stören, wie leicht ist sie zu verlieren. «Avoir perdu le silence, le regret que j'en éprouve est sans mesurea» — die Stille verloren haben, das schmerzt mich unendlich, heißt es bei Maurice Blanchot (L'Arrêt de mort). Trügerisch ist sie, die Stille, wie das Glück, mit seinem reimenden Augenblick. Und tatsächlich kann ihr Verlust schmerzen, so wie der Verlust von Glück. Und wie das Glück, wie das Erleben von erstaunlichen Zufällen, ist sie abhängig von der subjektiven Erfahrung, von jenem Resonanzkörper, der allein ihr Auftreten möglich macht. Schweigen? Einsamkeit? Jeder kennt wohl Momente, die angefüllt sind mit einem Schweigen, das erst recht alle Sinne weckt. Solche Momente sind für manche oftmals dann ein Erlebnis von Stille, wenn sie von spiritueller oder sakraler Kontemplation aufgeladen sind. Oder überborden von emotionaler, erotischer Fülle. Was aber ist dann mit dem verzweifelten Schrei, mit dem aufbegehrenden Lärmen, das einen Menschen anfüllt, der in Folterhaft zum Schweigen verurteilt ist? Das Schweigen allein reicht wohl nicht als allgemeine Voraussetzung für Stille. In seinen Attacken gegen den Surrealismus schreibt Joan Mirò über André Breton, was ihm am meisten fehle sei die Fähigkeit, «de recevoir la surprise», also wörtlich eine Empfänglichkeit für die Überraschung. Vielleicht läßt sich dieses Bild auf die Stille übertragen. Und damit ist eigentlich gesagt, was zu sagen ist, nämlich, daß die Stille Teil eines subjektiven Dialogs ist. Außerhalb dieser subjektiven Erfahrung kann sie nicht in Erscheinung treten. Vielleicht aber könnte man hier auch beginnen und einen Nebensatz von Blanchot zum Motto machen: «tout commence, là ou je m'arrête» — alles fängt da, wo ich aufhöre (L'Arrêt de mort). Denn vielleicht gibt es eine noch ganz andere Stille als jene, die so oft verstanden wird als eine glückhafte Seelenverfassung. ‹Stillwasser› bezeichnet nicht etwa eine glatte Wasseroberfläche, sondern jenen kurzen, kaum existierenden Moment zwischen Ebbe und Flut, wenn die Gezeiten wechseln. Wenn man lange genug an einem Nordseeufer sitzt, kann man ihn wahrnehmen, diesen eigentlich unmöglichen Augenblick: Für den Bruchteil einer Weile stehen die Bojen aufrecht, kerzengerade und ganz still, bevor sie dann in den Winkel der anderen Wasserrichtung gezogen werden und sich wieder senken. Genauso wie ein Ball, der, in die Luft geworfen, einen winzigen Augenblick stillsteht, bevor er, der Schwerkraft folgend, wieder fällt. Genauswo wie an der Grenze zwischen Wachen und Schlafen, das Bewußtsein für ein paar Sekunden in einem Zwischenbereich verharrt. Mit jedem Atemzug tragen wir diesen unmöglichen Augenblick mit uns — zwischen Ein- und Ausatmen entsteht er jedesmal neu, dieser kaum wahrnehmbare Hiatus, das Innehalten. Anders als eine Pause, die in einem Musikstück die Stille als Schweigen der Musik markiert, ist dieser Moment in der Musik etwa mit jenem angespannten, kurzen Innehalten vor dem Einsatz des Hauptinstruments in einem Solokonzert zu vergleichen oder mit dem emotionalen Zögern, dem kurz aufseufzenden Stocken im Tango, bevor die Musik wieder in ihren Rhythmus fällt. Es ist ein angespannter Moment, ein verheißungsvoller Augenblick, nicht irgendein Zwischenraum, sondern der Zwischenraum, der einen Auftakt markiert, wie jene Sekunde, wenn im Süden die Luft stillsteht, kurz bevor die Zikaden einsetzen. So eine Stille ist mehr als ein Seelenzustand. Sie hat die absolute Qualität eines Nullpunkts, eines kurzen Heraustretens aus Ort und Zeit. Ein privilegierter Moment, der mehr noch als dem Glück, der Ekstase gleicht. Anders aber als die Ekstase, trägt dieser Nullpunkt nicht hinweg, sondern sammelt gerade alle Sinne, alle Wachheit. Wenn man vor den kinetischen Skulpturen von Rebecca Horn steht, etwa vor dem Piano, das mit der Tastatur nach unten von der Decke hängt, und darauf wartet, daß gleich, gleich etwas passiert, bis man dann die herausfahrenden Tasten wie eine befreiende Entladung erlebt, mag dieser Nullpunkt im angespannten Zwischenraum erfahrbar sein, als ein Moment von höchster Geistesgegenwart. Keine Stille als träumerischer Seelenzustand oder Glückserfahrung also, sondern ein Nullpunkt, der sich öffnet auf ein Terrain, wo das Neue, das Andere, das erwartete Unerwartete auftreten kann. Eine Art punktuelles Niemandsland, könnte man vielleicht sagen, wo für ein paar Sekunden die ganze Wahrnehmung gebündelt auf die eigene Wahrnehmung geworfen ist, alle Sinne für einen Augenblick bei sich sind, eine momentane ›tabula rasa‹ schaffend. Stille also als eine Art des sich Freimachens, Lossagens, als eine Voraussetzung für einen Wendepunkt. «Stummheit, aufs neue, geräumig ein Haus —: komm, du sollst wohnen. Stunden, fluchschön gestuft: erreichbar die Freistatt. Schärfer als je die verbliebene Luft: du sollst atmen, atmen und du sein.» Das Gedicht von Paul Celan (In die Ferne) zeichnet dieses Bild einer Stille als Freiheit, von der neue Räume sich öffnen können. Vielleicht könnte man von zollfreien Bewußtseinsmomenten sprechen, die für einen Moment nicht nur aus Ort und Zeit, sondern aus den Konventionen unserer erlernten Kultur heraustreten. Celan formuliert aber vor allen Dingen im Zusammenhang mit einer Situation von Stille die Erfahrung des auf sich selbst Geworfenseins. Seine Aufforderung vom «du sein» ähnelt seiner Auffoderung aus anderen Gedichten: «[...] gib dich auch hier zu erkennen, hier, in der Mitte des Marktes. Ruf's, das Schibboleth, hinaus in die Fremde der Heimat: Februar. No pasaràn.» Nun ist aber dieses Schibboleth-Rufen, eine Form von Individuation, allerdings eine, die auf einem dialogischen Prinzip beruht, das Martin Buber grundsätzlich entwickelte, auf dem Emmanuel Lévinas aber dann seine entscheidende Onthologie begründete, die mit einem im Du, in der Verantwortung verfaßten Ich, über Heidegger hinausging. Das Schibboleth-Rufen entspricht bei Buber einer Ich-Gründung im Grundwort «Ich-Du», in der menschlichen Zwiefalt, wie Celan sie in seinen Gedichten anlegt. «Je mehr der Mensch, je mehr die Menschheit vom Eigenwesen beherrscht wird, um so tiefer verfällt das Ich der Unwirklichkeit. In solchen Zeiten führt die Person im Menschen und in der Menschheit eine unterirdische, verborgene, gleichsam ungültige Existenz — bis sie aufgerufen wird», postuliert Buber. Und deshalb bezeichnet er das Schibboleth als das eigentliche, das menschliche ‹Ich›. Das mit Celan neugewonnene Verständnis von einer Stille als «Freistatt» öffnet also eine ganz neue Dimension, nämlich die eines punktuellen Freiraums, wo das Ich auf sein Du geworfen wird, beides zusammenfällt zu einer Ich-gründenden Zwiefalt. Von dieser Perspektive aus wird die Stille zu einer individuellen Freiheit, zu einem Ausgangspunkt, dessen Parameter erst erfunden werden müssen. Schließlich öffnet sich damit, ganz im Gegensatz zu den Vorstellungen einer Stille, als einer Seelenverfassung, eine aktive politische Komponente. Denn, wenn der beschriebene Nullpunkt einen Moment von höchster Geistesgegenwart bedeutet, dann heißt das auch eine höchste Wirklichkeitserfassung und damit die Fähigkeit zur Veränderung und zum Handeln. Stille — so verstanden — hätte dann nichts mehr zu tun mit dem träumerischen «Über allen Gipfeln ist Ruh», sondern würde sich annähern an das Benjaminsche Aufwachen, vielleicht an das Aufwachen zur Revolution. Doris von Drathen Kurzschrift 1.1999, S. 9-13
Max Havelaars Wasserfallphobie oder: Weshalb die Frauen von Arles und Nîmes sich nicht die Nase putzen dürfen Ira Wilhelm Was geschieht, wenn ein Dixhuitièmistin, also eine Fachkundige des achtzehnten Jahrhunderts, und eine deutsche dazu, ihre Nase mehr oder weniger tief in ein Buch steckt, das sie eigentlich nur des Vergnügens wegen lesen wollte? Eben glaubt sie sich noch mit Hilfe der Einbildungskraft ins Indonesien des Neunzehnten Jahrhunderts versetzt, da liest sie plötzlich über die ästhetische Theorie aus dem Deutschland des Achtzehnten. Es geht nicht nur den Dixhuitièmisten so, man kennt es allgemein: Beschäftigt man sich mit einem Gegenstand ausführlichst, und zudem mit gewisser Begeisterung, springt einem dieser Gegenstand stets und überall, aus und an den unerwartetsten Flecken, Stellen und Orten entgegen. Aber die deutsche Ästhetik im 11. Kapitel von Multatulis Max Havelaar, dem J'accuse der Weltliteratur gegen das Kolonialgebaren der Niederländer? Anfangs schien es nur etwas befremdlich, daß der Autor sich entschied, den Verfasser des Max Havelaar einen jungen Deutschen sein zu lassen: Ernst Stern «ist ein artiger Bursche. Er scheint gewandt und tüchtig, aber ich glaube, daß er ein bißchen schwärmt.»[1] Und daß er das tut, schwärmen nämlich — ein Begriff im niederländischen Original deutsch belassen und typisch für das deutsche achtzehnte Jahrhundert der Empfindsamkeit — setzt ihn sogleich in aussagekräftigen Gegensatz zu den bekannten charakterlichen Einschränkungen der als kleinbürgerlich, bigott und knickerig, als typisch niederländisch charakterisierten Krämer- und Kaufmannsseele Batavus Droogstoppel, Makler in Kaffee — wohnhaft in der Lauriergracht No. 37 — einer anderen Hauptperson des Buches. Und auch in Schalmanns Paket, dem Leben Max Havelaars in überlassenen Papieren, darunter niemals gedruckte Abhandlungen über 144 doch recht launige Themen wie zum Beispiel ... • Ueber die Strafbestimmungen, Kindesmord betreffend • Ueber die Ursachen des Aufstandes der Niederländer gegen Spanien, nicht zu suchen in dem Streben nach Gewissensfreiheit und politischer Freiheit • Ueber die Schwere des Lichts • Ueber den Rückgang der Kultur seit dem Entstehen des Christentums • Ueber die Kraft der Vorurteile, sichtbar an Krankheiten, die durch Zug verursacht sein sollen • Ueber die Stelle, wo der Tag beginnt • Ueber das Essigmachen • Ueber die Unsittlichkeit des Angelns • Ueber die Sünden der Europäer außerhalb Europas ... fallen der aufgescheuchten, zurückblätternden, nicht allein mehr zum Vergnügen lesenden deutschen Dixhuitièmistin, gleich mehrere Schriften ins befremdete Auge: • Ueber die Verehrung von Schiller und Goethe im deutschen Mittelstande • Ueber Gefühl, Mitgefühl, «sensiblerie», Empfindelei u.s.w. • Ueber Baukunst als Ausdruck von Ideen • Ueber die Armut der Malkunst • Ueber die Schönheit der Frauen zu Nîmes und zu Arles, mit einer Untersuchung über das Kolonisierungssystem der Phönicier.[2] Was Multatuli aber wirklich mit den Deutschen des Achtzehnten Jahrhunderts zu tun? Nun, was die Größen betrifft, so weiß man, daß er ihnen, wie sich auch aus dem verächtlichen Titel der genannten Abhandlung schließen läßt, nicht viel abgewinnen konnte. Goethe und Schiller waren ihm wenig sympathisch, suspekt sogar, Goethe noch mehr als Schiller. Multatuli hat dem größeren der deutschen Großdichter den enormen Erfolg rein menschlich wohl geneidet, doch abgesehen davon hielt er ihm als «Hauptfehler» vor, wenig oder — mehr noch — überhaupt nicht gelitten zu haben.[3] Multatuli, Nom de plume von Eduard Douwes Dekkers (1820 – 1887), bedeutet ‹der Vielgelittene›, und so hat er sich wohl schlichtweg für ein Kompliment zu Goethe gehalten oder umgekehrt Goethe für seins. Lessing war ihm lieber, Jean Paul übrigens auch, und vielleicht, was noch schöner wäre, weil es ein Steckenpferd der dies verfassenden Leserin ist: Johann Jakob Wilhelm Heinse. Dem zum Trotz ist einer der ersten Deutschen, auf den wir im Max Havelaar stoßen, wiederum — wenn auch nur mittelbar — Goethe, und zwar in einer Kurzausführung der in Schalmanns Paket eingeschlossenen Abhandlung zur Baukunst als Ausdruck von Ideen. «Werter Leser ...», klärt der Autor oder Ernst Stern oder Max Havelaar, das ist nicht immer ganz klar, den neugierigen Leser auf: «... es gibt keine Türme. Ein Turm ist ein Gedanke, ein Traum, ein Ideal, ein Ersonnenes, unerträgliche Übertreibung! Es gibt halbe Türme, und Türmchen.» Und fährt fort zu erläutern, daß der Betrachter sich angesichts eines gewaltigen sakralen Bauwerks Rechenschaft abgeben müsse «von der Kraft des Innenlebens, das solch einen Koloß nötig hatte, um als sichtbarer Ausdruck des unsichtbaren religiösen Gefühls zu dienen».[4] Mit der sichtbaren Versteinerung der unsichtbaren gottesfürchtigen Idee ist der sich damals gerade im Fertigbau befindliche Kölner Dom gemeint. Havelaar fährt fort: «Es liegt eine tiefe Kluft zwischen Erwin von Steinbach und unseren Baumeistern! Ich weiß, daß man seit einigen Jahren daran ist, diese Kluft auszufüllen. [...] Doch nicht ist für Geld feil das irrende und doch ehrerbietungswürdige Gefühl, das in einem Bauwerk eine Dichtung sah, eine Dichtung von Granit, die laut sprach zum Volke, eine Dichtung in Marmor, die dastand wie ein unbewegliches, unaufhörliches, ewiges Gebet.»[5] Die Nennung des Namens Erwin Steinbach legt die Vermutung nahe, daß es sich bei dem Inhaber des verirrten Gefühls um Johann Wolfgang Goethe handelt. Dieser hatte seine 1772 entstandene Abhandlung Von Deutscher Baukunst[6] Erwin von Steinbach gewidmet, dem Erbauer des Straßburger Münsters — und somit nicht des Kölner Doms. (Entweder hatte Multatuli ursprünglich für diese Stelle das Münster in Erwägung gezogen und sich erst später für den Kölner Dom entschieden, wobei er bei der Redaktion die Tilgung des Namens Steinbach vergessen hatte, oder er hat Steinbach einfach irrtümlich für dessen Erbauer gehalten.) Aber erst in seinem zweiten Aufsatz zur Baukunst, 1795, vertritt Goethe die Ansicht, daß die Architektur als eine Dichtung in Stein zu betrachten sei.[7] Er bezieht sich dabei auf die idealistische Grundauffassung von Architektur, die diese nicht als nachahmende, sondern als eine fiktiv schaffende, auf abstrakten Gegebenheiten gründende Kunst versteht. Die These von der Idee als Ausgangspunkt aller Architektur formulierte auch die damals vielfältig diskutierte, auf Vitruv zurückgehende, sogenannte Urhüttentheorie des Abbé Marc-Antoine Laugier (1713 – 1769). Gegen ihn hatte Goethe in seinem frühen Baukunst-Aufsatz aber noch polemisiert: «Was soll uns das, du neufranzösischer philosophierender Kenner, daß der erste zum Bedürfnis erfindsame Mensch vier Stämme einrammelte, vier Stangen drüber verband, und Äste und Moos drauf deckte?»[8] Einem architekturtheoretischen Rousseauismus verhaftet, glaubte Laugier, die hochentwickelte Kunst des griechischen Tempelbaus habe in den Formen der Natur ihren Ursprung. Multatuli muß, vielleicht vermittelst Goethe, diese Theorie gekannt haben, denn folgende Stelle, womit Max Havelaar seine Ideengeschichte der Architektur fortsetzt, ähnelt in verblüffender Weise der Version Goethes: «Nach einem Hut mit breitem Rand, einem Regenschirm oder einem hohlen Baum ist eine Pendoppo gewiß der einfachste Ausdruck der Vorstellung ‹Dach›. Denkt euch vier oder sechs Baumbuspfähle in den Boden gerammt, die oben an den Enden durch weitere Bambusstangen miteinander verbunden sind, worauf dann eine Bedachung von den langen Blättern der Wasserpalme gesetzt ist, die in diesen Gegenden ‹atap› heißt, und ihr werdet euch die sogenannte ‹pendoppo› vorstellen können.»[9] Multatuli ironisiert durch seine Variation die Laugiersche Theorie und verlegt die Wiege der klassizistischen und damit aller abendländischen Baukunst ohne viel Aufhebens in den indonesischen Archipel. Mehr nicht. Dies alles fällt der Leserin wieder ein, als sie beim Nachttischgespräch im elften Kapitel des Max Havelaar angelangt ist, und ihr vorahnender Versuch, die ästhetische Theorie aus dem Achtzehnten Jahrhundert darin wiederzuerkennen, macht es zum Quell eines teuflischen Vergnügens. Nach einem ausgiebigen Mittagsmahl in seinem Haus mitten im indonesischen Urwald führt Max Havelaar ein kurzweiliges Verdauungsgespräch, allerdings mit zwei wahrhaften Simplexen: Duclari und Verbrugge. Der Soldat und der Kolonialbeamte im Dienste der niederländischen Majestät können den theoretischen, etwas verstiegenen Ausführungen des Selbstdenkers Havelaar in keiner Weise folgen, und ihre Unbedarftheit hebt den komischen Gehalt der Szene um ein Beträchtliches. Denn Havelaar will den beiden in seiner Rede nichts Geringeres darlegen als das Wesen der Schönheit, sei es der von Miss Mata Api oder der Frauen von Arles und Nîmes, und dabei bedient er sich — zuerst einmal der Wasserfälle: Muß man ›Donnerwetter!‹ sagen. Havelaar gesteht: «Sehen Sie sich zum Beispiel die Wasserfälle an, von denen man so viel spricht und schreibt. Was mich betrifft, ich habe wenig oder nichts empfunden zu Tondano, zu Maros, zu Schaffhausen, am Niagara.»[10] Multatuli macht seinen Havelaar dadurch nicht nur zu einem etwas ungefühligen Reisenden, sondern beendet mit einem Handstreich ein anderes Kapitel der europäischen Ästhetikgeschichte, und zwar das Kapitel: Wasserfälle in der Literatur, mit dem Rheinfall von Schaffhausen im besonderen. Der schweizerische Katarakt war im achtzehnten und auch noch im neunzehnten Jahrhundert ein äußerst beliebtes Reiseziel und vielfältiges Objekt von Schilderungen, sei's bildlicher oder literarischer Art, der Besuch ein unbedingtes Muß für jene zahlreichen, die auf dem Weg ins gesegnete Italien waren. Goethe, Wilhelm Heinse, Graf Stolberg, J. H. Campe, William Cox, John Ruskin, um nur einige zu nennen. Havelaar aber hat es satt: «Man muß die Nase in seinen Baedecker stecken, um dabei da vorgeschriebene Maß von Bewunderung über ‹soundsoviel Fuß Fall› und ‹soundsoviel Kubikfuß Wasser in der Minute› bei der Hand haben, und wenn dann die Ziffern hoch sind, muß man ‹Donnerwetter!› sagen.»[11] Der Rheinfall von Schaffhausen war im ästhetischen Sinne von zweifachem Zweck. Einmal war er Symbol für die im achtzehnten Jahrhundert sich im Schwange befindliche Naturphilosophie, daß alles Bewegung und nichts als Bewegung sei, und zum anderen übten sich die reisenden Schriftsteller bei der Beschreibung seiner in dem, was nach Lessing der Literatur Eigenstes ist: in der Darstellung von Bewegung mit poetischen Mitteln. Unter anderem bereits erwähnter Wilhelm Heinse: «Er sieht ganz wild und ernst aus, und stürmt trotzig über die Felsen hin, kühn und sicher nicht zu vergehen. Es ist eine erschreckliche Gewalt; und man erstaunt wie die Felsen dagegen aushalten können. Das Wasser scheint von der heftigen Bewegung zu Feuer zu werden und raucht; aber sein Dampf ist Silber, so rein wie sein Element ist. [...] Es ist der Rheinstrom: und man steht davor wie vor dem Inbegriff aller Quellen, so aufgelöst ist er; und doch sind die Massen so stark, daß sie das Gefühl statt des Auges ergreiffen, und die Bewegung so trümmernd heftig, daß dieser Sinn ihr nicht nach kann, und die Empfindung immer neu bleibt, und ewig schauervoll und entzückend.»[12] Indem Havelaar programmatisch verkündet, von Wasserfällen ein für allemal genug zu haben, distanziert er sich prometheusisch-selbstbewußt von solcher Art schon fast genormter Naturerfahrung: Er will dem ciceronisch diktierten und literarisch vielfach strapazierten Soll-Gefühl nicht länger gehorchen: «Ich werde mir niemals wieder Wasserfälle ansehen, wenigstens nicht, wenn ich deshalb einen Umweg machen soll. Diese Dinge sagen mir nichts!»[13] Warum aber sagen sie ihm nichts? Das könnte nun wiederum viel mit Lessing und seinem Laokoon von 1766 zu tun haben, und außerdem mit dem Lachen La Mettries. Julien Offray de La Mettrie, seines Zeichens Materialist und von Multatuli bewundert, hatte sich — von Friedrichs II. berühmten Kupferstecher Georg Friedrich Schmidt — als lachender Demokrit portraitieren lassen. Lessing zufolge lacht er aber nur beim ersten Betrachten: «betrachtet man ihn öftrer, und es wird aus einem Philosophen ein Geck; aus seinem Lachen wird ein Grinsen»[14], das heißt, La Mettrie macht sich — im erhabenen achtzehnten Jahrhundert eine allzu leichte Sache — unsterblich lächerlich. Leidenschaften, so Lessings Schluß, können, ob heiter oder ernst, in den bildenden Künsten nun einmal nicht dargestellt werden. Weil eine Statue, die den Schmerz in Stein gehauen zeigt, für ewige Zeiten schreien und damit das ernsthafte Gefühl auf die Dauer wie das Lachen kompromittieren würde, dürfe aus dem geöffneten Mund der Statue zwar ein Stöhnen, ein Atemholen, aber niemals ein Schrei ertönen.[15] Des Grinsens als einprägsamer Ausdruck der Häßlichkeit bedient sich auch Havelaar am Bild einer Tänzerin, die in der Bewegung einhaltend auf dem linken Bein verharre und dem Publikum applausheischend zugrinse.[16] Selbst Verbrugge muß bestätigen, daß dies «absolut häßlich» sei.[17] Nun, ganz ähnlich verhält es sich mit den Wasserfällen, sie sagen Havelaar nichts, weil sie nicht sprechen, und sie sprechen nicht, weil sie dauernd schreien, und dazu noch immer dasselbe: «Sie rufen: hrru ... hrru ... hrru, und niemals etwas anderes: Rufen Sie mal sechstausend Jahre oder länger: hrru, hrru ... und sehen Sie zu, wie wenige Sie für einen unterhaltenden Menschen ansehen werden.»[18] Darauf will es Duclari allerdings lieber nicht ankommen lassen. Die Vorliebe für die Bewegung und die Behauptung, daß weder Architektur, noch Malerei noch Bildhauerei im Grunde schön sein können, weil Bewegung ihnen nun gerade am meisten fehlt, teilt Havelaar mit besagtem Wilhelm Heinse. «Natur ist Bewegung; Wachstum, Hunger, Denken, Fühlen ist Bewegung ... Stillstand ist der Tod! Ohne Bewegung kein Schmerz, kein Gefühl, kein Empfinden!»[19] Man müßte es wohl mehr als Zufall nennen, wenn Multatuli hier nicht wörtlich den Vitalisten des achtzehnten Jahrhunderts, Heinse, zitiert, der seine Hauptperson Ardinghello im gleichnamigen Roman ausrufen läßt: «Nichts wirkt recht auf den Menschen, was stille steht; aller Stillstand wird bald Tod.»[20] Daß Multatulis Übersetzer bei der Aufzählung, wozu Bewegung noch unerläßlich sei, den Genuß unterschlägt, mag vielleicht pure Gedankenlosigkeit gewesen sein, aber er unterschlägt damit einen für Multatuli zentralen Begriff. Genuß ist eine Tugend lautete der Titel eines Vortrags, den Multatuli am 19. März 1878 in aller Öffentlichkeit hielt und womit er — wie der Arnhemsche Courant am 20.3.1878 meldete — beim Publikum «ohrenbetäubenden Jubel» erntete. Genuß war nicht nur La Mettries tödliches Schicksal, der, um Freunden seine «Genußkraft» zu demonstrieren, eine riesige Pastete verschlang und daran zugrundeging. Genuß war auch Wilhelm Heinses Lebens- und Kunstziel. Auch er sah ihn mit der Bewegung in engem Zusammenhang — wenn er ihn auch nicht ausschließlich auf Kunstdinge begrenzt: «... ich habe von dem Menschen, außer der wirklichen Vermischung, hauptsächlich Genuß durch seine Reden und Handlungen, durch Worte und Bewegungen; beydes kann mir die bildende Kunst nicht geben». Heinse läßt im folgenden ebenfalls, um Bewegungslosigkeit als Urgrund der Häßlichkeit eindrücklich werden zu lassen, jemanden erstarren: «Man stelle sich seinen Freund auch in dem interessantesten Moment der Freundschaft auf einmal wie zu einer Büste versteinert unveränderlich mit seinen Mienen und Gebehrden vor! mit Erinnerung der Worte aller vor und nach dem Moment wird das Bild gewiß lieblich in die Seele leuchten, und anfangs einen Freudenschauer erregen. Aber wie die Erinnerung sich schwächt, wird es nach und nach immer weniger bedeuten, und, bey den Gedanken an hundert andre Scenen, endlich leer, und sogar Spott werden.»[21] Ja, aber warum, will Duclari insistierend von Havelaar wissen, warum fände er denn Wasserfälle nicht schön, da sie sich doch durchaus bewegten? Weil sie sich nicht veränderten, weder in der Lautfolge noch im Ort, lautet die Antwort Havelaars, und weil sie sich noch weniger bewegten als ein Schaukelpferd[22], auf der Stelle, aber nicht mal hin und her, seien sie die Häßlichkeit selbst. Bewegung sei zudem auch Geschichte, Bewegung in der Zeit also, und die hätten die Wasserfälle überhaupt nicht aufzuweisen. Duclari murmelt ein «meinetwegen» läßt die Wasserfälle sein und erkundigt sich, ob denn ein Gemälde schön sein könne? Im Grunde schon, gesteht Havelaar zu, was uns zu einem anderen ästhetischen und für das Achtzehnte Jahrhundert typischen Problem führt, zu den Lessingschen «Schranken der Kunst» und zur Multatulianischen Umschreibung davon: Die Armut der Malerei. Als Gegenstand der Malerei taugen die Wasserfälle nun am allerwenigsten. Auch das hatte bereits Heinse festgestellt: «Und überhaupt ist es Frechheit von einem Künstler, das vorstellen zu wollen, dessen wesentliches bloß in Bewegung besteht. Tizian zeigt klüglich allen Wasserfall nur in Fernen an ...»[23] Havelaar hatte die Bewegungs- und Geschichtslosigkeit als Hauptmakel von Architektur und bildenden Künsten erkannt, und Lessing für die letzteren schon längst gefordert, daß sie, weil ihr Wesen so sei, sie dies durch die Wahl eines «fruchtbaren Augenblick[s]»[24] kompensieren müßten. Dann könne ein Gemälde durchaus schön sein, meint Havelaar, führt dann aber anhand eines historischen Gemäldes, das Maria Stuart kurz vor ihrer Enthauptung darstellt, vor, wie sehr andererseits ein in Dauer gefaßter, furchtbarer, falsch gewählter, weil nicht «transitorisch[er]»[25] Augenblick den Betrachter malträtieren könne. Dieser könnte am Ende sogar «Mitgefühl für den Henker»[26] empfinden, weil er für alle Ewigkeit verdammt sei, mit schmerzhaft hocherhobenem Arm stehenzubleiben, und sich wünschen, er möge Maria Stuart doch nun endlich den Kopf abhacken, damit die Geschichte nicht nur für den Henker, sondern auch für das Opfer ein gutes Ende nehme. Das ist eine ins Komische gewendete Perversion der Erfahrung von Kunst und Schönheit , deren alleiniger Sinn und Zweck nach Havelaar darin bestehe, uns dazu zu bringen, «gut zu sein».[27] Uns gut sein lassen, könnten seiner Ansicht nach aber eher und gewisser als bildende Kunst und Wasserfälle: Die schönen Frauen von Arles und Nîmes. Im achtzehnten Jahrhundert gab es hinsichtlich der weiblichen Schönheit einen Gemeinplatz. Wollte man der Mühe entgehen, eine schöne Frau zu beschreiben, so wurde sie kurz schön wie ein Weib aus Georgien oder Circassien genannt.[28] Havelaar verlegt die klimatisch begünstigte Brutstätte schöner Menschenart nach Frankreich. Eine schöne Frau sei «Die Schönheit in abstracto [...] als sichtbares Bild des Wahren, des Unstofflich=Reinen»[29] und käme «dem Ideal des Göttlichen am nächsten».[30] Göttliche, übernatürliche, vollkommene Idealschönheit war die Auszeichnung aller erhabenen, antiken und der nachahmend klassizistischen Kunst. Um zu beschreiben, wie die Kunst der Alten, die Statue einer Venus zum Beispiel, im Idealfalle auf den Betrachter wirken sollte, hätte man sich auch ohne weiteres der Worte Havelaars bedienen können: «Denn so edel waren die Züge, daß man etwas wie Scham fühlte, nur ein Mensch zu sein und nicht ein Funke [...], ein Strahl — nein, das wäre stofflich! [...] ein Gedanke!»[31] Winckelmanns ‹Edle Einfalt und stille Größe› als Schönheits- und Moralkodex tönt hier zweifellos mit. Beim Anblick schöner Statuen sich zu schämen, lediglich Mensch zu sein und zugleich den Entschluß zu fassen, wenn schon, dann einer ihrer besten zu werden, war symptomatisch für die Rezeption antiker Kunst. Das Vollkommene ist übermenschlich, außermenschlich, göttlich u. ä. m., abstrakt wie die Idee, die der Erfindung eines Pendoppos oder eines Kölner Doms zugrundeliegt. Für einen einfachen Geist wie Duclari ist das alles kaum zu begreifen, und er erwartet von einem «vollkommenen» und schönen Gemälde nur, daß er davon «ganz denselben Eindruck haben [müsse] wie von der Wirklichkeit».[32] Während Verbrugge, Havelaars Definition eingedenk, daß unsere auf Bewegung gerichtete «Schönheitssucht» nicht zufrieden sei mit «einem Blick auf das Schöne», sondern «das Bedürfnis nach einer sich anschließenden Reihe von Augengenüssen fühlt»[33], womit er eine andere Forderung klassizistischer Kunst, nämlich daß diese mit einem einzigen Blick erfaßbar sein müsse, für ungültig erklärt, was ich hier aber nicht näher ausführe, weil das nun wirklich zu weit ginge, während Verbrugge sich also abschließend nun die Frage stellt: «Aber was ist denn für eine Bewegung in der Schönheit der Frauen in Arles?»[34] Diese bestehe aus der Geschichte in ihren Gesichtszügen, erläutert Havelaar. Als er ihrer vor vielen Jahren ansichtig geworden sei, hätte er auf ihrer Stirn vieles «erlesen» können. Nicht, was man von der Schönheit lange Zeit wie selbstverständlich erwartete: die Geschichte und Schönheit griechischer oder römischer Antike, ihrer Menschen, Götter, Landschaften, Kunst etc, sondern — zwar auch etwas Altes, aber vollkommen anderes und für Havelaar völlig Naheliegendes: Karthago, wie es «blüht und Schiffe [baut ...] den Hannibalschwur gegen Rom […] da flechten sie Sehnen für die Bogen […] da brennt die Stadt»[35] und natürlich, man muß sich erinnern, einiges «über das Kolonisierungssystem der Phönicier».[36] Doch den edlen Duktus des Erhabenen, den Havelaar in dieser Beschreibung der Frauen von Arles und Nîmes anklingen läßt, beendet er, zur Enttäuschung seiner Frau Tine, allzu brüsk: «Aber […] dann saß da plötzlich ein Bruder oder ein Vater neben diesen Frauen, und […] Gott bewahre mich, ich habe eine gesehen, die sich schnäuzte.»[37] Wer göttlich schön bleiben will, darf sich so wenig die Nase putzen wie Laokoon schreien darf. Ist's wirklich möglich, daß Multatuli sich im elften Kapitel seines Max Havelaar teuflisch lustig macht über die gesamte idealistische Kunsttheorie, über die Schwärmerei, über die lächerliche Erhabenheit von deutscher Klassik und des Klassizismus im allgemeinen, der das weltlich-niedrig Menschliche als Gegenstand der Kunst ausschloß, weil es zu häßlich sei? Und daß er sich dafür noch äußerst raffiniert der im achtzehnten Jahrhundert beliebten Form des Kunst-Gesprächs bedient, von denen übrigens auch im Ardinghello mehrere geführt werden, wobei er das Muster ins Absurde ausreizt, weil Havelaars Mitstreiter von Kunst und Schönheit nicht die leiseste Ahnung haben? Vielleicht. Bleibt noch die Frage, ob Multatuli Heinses Ardinghello gelesen hat? Die Bibliotheksverzeichnisse zu Multatulis Bibliothek weisen ihn nicht auf, aber selten war eine leere Stelle in einem Bücherschrank ein schlagender Beweis. Da also Wasserfälle sowieso nicht das sind, was sie scheinen, der Kölner Dom eigentlich das Straßburger Münster ist, die Frauen von Arles und Nîmes eigentlich aus Georgien und Circassien stammen, da die einhaltende Tänzerin, der schlagfertige Henker oder das Graunen des Wasserfalls nichts weniger darstellen als La Mettries Grinsen und das Naseschneuzen tönt wie ein Schrei der Qual, ordnen wir das Ganze vielleicht doch lieber den Hirngespinsten zu, lassen es wie einen Gedankenschatten folgenlos an uns vorüberziehen und lesen den wundervollen Max Havelaar wieder des reinen Vergnügens wegen. Kurzschrift 2.1999, S. 57–69 Die Photographie stammt von estorde unter CC
Das Wetter Als Gesprächsgegenstand des small talk ist es verpönt, weil es im Verdacht steht, allzu offensichtlich Verlegenheiten zu überbrücken, sich dabei aber nur auf das Nächstliegende bezieht, das sowieso jeder sieht und nicht kommentarbedürftig ist. Dabei könnte sich der Gesprächssuchende auf eine breite kulturelle Tradition berufen. Zeus schleudert Blitze, bei Shakespeare zeigt es immer das Wetter an, wenn der Säftehaushalt im Mikro- oder Makrokosmos nicht stimmt, und auch Musils renommierlicher Mann ohne Eigenschaften beginnt mit einem Wetterbericht: «Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen ... Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.» Das ist das ‹setting› des Romans, und es kommt dem zeitgenössischen Wetterbericht schon ziemlich nahe: Dargelegt wird am meteorologischen Gegenstand der Möglichkeitssinn auch für alle anderen Redeformen, das Wetter ist diskutabel, und es ist hier Exempel für die Relativität von Sprechen, für das Bedürfnis nach Be-Sprechen der Dinge überhaupt. Das Wetter-Gespräch ist auf anderer Ebene also noch und wieder diskursfähig und hat in neueren Zeiten der Erlebnisgesellschaft noch andere Qualitäten bekommen. Was einst Karl-Heinz Köpcke (der Köpcke in uns allen) als erholsames Nachrichtenanhängsel erledigte, wird heute als selbständiger Bereich ausgegliedert und beschäftigt ein ganzes Team: Die Nachrichtenhosteß kündigt den Wetterbericht an, Diplom-Meteorologen sind die Gewährsleute für den wissenschaftlichen Anteil der ‹message›, und im Nachspann nimmt der Moderator noch einmal Bezug, verknüpft und leitet über. Nun etabliert sich der Wetterbericht immer mehr als eigene Sendung, präsentiert von Tengelmann, Bitburger, immer jedenfalls von der Ernährungsbranche (im Morgenmagazin, nach einem Werbeblock abends im ZDF oder als Sendung vor den Nachrichten bei ARD). Zunächst gibt es einen Tagesrückblick, der uns noch einmal erzählt, was wir ohnehin gesehen, erlebt oder erlitten haben. Dann erst gibt es den Ausblick, und der ist breit gefächert: Als Dreingabe kommt der Wochenend-Reise-Bergsteiger-Skifahrer-Paragliding-Wetterbericht, die Pollenflugvorhersage oder der Autofahrerservice. Die ursprünglich nur prognostische Funktion wird also erweitert, und das ist ein erstes Indiz für die narrative Qualität, für das «schöne Gespräch», wie es bei Thomas Mann das längst allen Bekannte auf spielerische Weise variiert und aufbereitet. Weitschweifig wird die Rede jedenfalls, und sie eignet sich alle möglichen Arten des Erlebnisberichts an, ein bißchen militärischen Diskurs («beruhigte sich nachmittags allmählich die Situation»), spontan-lebhafte Stilbrüche treten auf (ein Schneetreiben «entbehrt nicht einer gewissen Geilheit»), von einer «süßen Temperatur» ist da die Rede (Jörg Kachelmann). Ein weiteres Indiz für das Erzählen des Wetters: Die Wetterhochs und -tiefs bekommen Namen (die kalte Sophie, der schöne Fridolin), wobei sich Feministinnen über die Zuordnung weiblicher Namen zu den Tiefs lautstark empört haben. Der Orkan Alfred (eigentlich der Kumpel von nebenan) verwüstet einige Städte an der Westküste, wobei die Diskrepanz zwischen der Vermenschlichung des Wetters und den empirischen Folgen auffällt. Die Behandlung solch elementarer Dinge wie die des Wetters tritt aber nicht primär mit Erkenntnisanspruch auf, sondern als umfassende Narration. Jeder soll die Chance haben, selbst die meteorologische Meinungsbildung nachzuvollziehen und beim erzählenden Deutungsspiel sich zu beteiligen. Dieses wie auch alle anderen Spiele ermöglicht es ja, mit kleineren Energiequanten Situationen vorwegzunehmen oder aufzuarbeiten, und beim Wetterbericht geht es um nicht weniger als die Bannung, Beschwichtigung oder Beeinflussung numinoser Verhältnisse. Die Zufälle, den Terror der Natur erklärbar und beherrschbar zu machen dadurch, daß man sie im Erzählspiel behandelt, ist dessen vielleicht wichtigstes Motiv, und Mensch ist der Mensch im vollsten Sinne ja nur dort, wo er spielt — so Schiller in seinen Ästhetischen Briefen. Schlimm nur, wenn die Dinge mal aus den Namen herausfallen — doch das ist bei aller Präzision der Vorhersagen eher ein Sonderfall. Seriöse Anlässe gäbe es ja genug, die Frage nach dem Wetter unter globalen Aspekten gründlicher zu stellen, einstweilen gilt aber: Schönen guten Abend ... — das Wetter ...! Ralph Köhnen Laubacher Feuilleton 13.1995, S. 1
Faxismus Wenn der Postmann nicht mehr zweimal klingelt oder die Papierzunge des Zauberdrachens Eine Anekdote: Der stolze Neubesitzer eines Telefaxgerätes erprobt den Apparat zum erstenmal, und beim Empfänger kommt ein und dasselbe Jungfernfax zehnmal, fünfzehnmal an. Beim zwanzigstenmal telephoniert der genervte Adressat mit dem Absender, um den Grund für die unendliche Geschichte zu erfahren, und kriegt zu hören: «Mein Faxgerät muß defekt sein, das Blatt kommt bei mir aus dem Ding immer wieder heraus ...» Aller Faxanfang ist schwer — unkt ein Faxgerätehersteller in seinem Werbeprospekt. Wohl wahr; auch wenn das Faxen selbst später dann kinderleicht ist. Mein Faxgerät kam als Geschenk ins Haus; zwar funktionierte ‹das Ding›, nachdem es ans Telephon- und Stromnetz angeschlossen war, problemlos, aber leider fehlte die Gebrauchsanweisung, die unentbehrlich ist für die Programmierung der Kennung (Name und Anschlußnummer des Absenders, Datum und Uhrzeit), denn fast jedes Modell hat seine ungenormten Extravaganzen. Über die Faxgerätezulassungstelle der Deutschen Telekom in Saarbrücken ließ sich der Importeur des Irgendwo-made-in-Asia-Gerätes erfragen, der auch prompt 2 Meter Bedienungsanleitung — wie anders — faxte: Glückseligkeit — das erste eigene empfangene Fax! Jedoch auch mit Gebrauchsanweisung stellt die Programmierung der Kennung den Intelligenzquotienten auf eine harte Bewährungsprobe: eine Stunde Lebenszeit sollte man dafür schon einkalkulieren — ich kenne sogar Leute, die brauchten dafür etliche verzweifelte Stunden, ja, Wochen, Monate! Nur ein genialer Irrsinniger kann sich den Programmiermodus ausgedacht haben — Genie und Wahnsinn logieren immer noch unter demselben Dach. Nun gehöre ich also auch zur glücklichen Faxgemeinde in Deutschland. Faxten hierzulande 1983 nur 13.200 Avantgardisten, so waren es 1993 bereits 1,32 Millionen, eine Verhundertfachung! Und Wir werden jeden Monat 20.000 mehr, inzwischen dürfte längst die 1,5-Millionen-Grenze überschritten sein. Laut Telekom werden jährlich rund drei Milliarden DIN-A-4-Seiten durch die deutschen Leitungen gejagt, jeder Anschluß kommt — statistisch gesehen — auf rund 2.000 Blatt. Aber immer noch muß die traditionelle Briefpost jährlich an die 16 Milliarden Sendungen befördern. Mein Telefax-Zauberkasten hat die Größe einer Reiseschreibmaschine und wiegt etwa drei Kilo, das Gehäuse ist schwarz. Nur fünf Tasten hat das Gerät und sieben Funktionsblinklichter. Mit der ersten Taste entscheidet man, ob die sogenannte Faxweiche automatisch aktiviert werden soll, wenn über dieselbe Leitung ein Telephonat oder ein Fax ankommt; mit der zweiten Taste kann man bei verminderter Übertragungsgeschwindigkeit die Übermittlungsqualität, etwa bei graphischen Darstellungen, optimieren; mit der dritten Taste läßt sich für den Hausgebrauch photokopieren. Wenn man mit der Rückseite nach oben ein Blatt in den schmalen Schlitz eingelegt hat — und nur Freudianer haben abwegige Assoziationen —, druckt man den daumengroßen grünen Trapezknopf — und ab geht die Post! Eine warnrote dreieckige Stoptaste für den Fall, daß das Alarmlicht blinkt und ein klagendes Piepsen ertönt — dann ist die Leitung zum Empfänger nicht zustande gekommen, oder die Rolle mit dem eigenen Faxpapier ist mal wieder zu Ende. Natürlich gibt es wesentlich elegantere (und also teurere) Faxgeräte als meins, die haben ein chices Display, in dem die gewählte Empfängernummer ablesbar ist, haben ein integriertes Telephon, was außer im Büro kaum überbietbar unpraktisch ist, wie man hämisch feststellen muß: nur ein Büromensch läßt sich fesseln. Aber einen unbestreitbaren Vorteil besitzen Luxus-Faxgeräte (ab ca. 1.200 Mark) schon: sie funktionieren mit Normalpapier per Tintenstrahl- oder Laserdrucker und nicht mit diesem ekelhaften fludderigen Thermopapier von der Rolle per Hitzedruck, das sich so zombiehaft anfühlt, bei dessen Berührung jeder Ästhet Krätze kriegt, auf dem die Schrift so rasch verbleicht und das höchst umweltschädlich ist. Der Schweizer Schriftsteller Matthias Zschokke: «Ein Fax ist unter unserem ästhetischen Niveau: es hat nichts zu tun mit rahmengenähten Lederschuhen, English Lavender, Seidenunterhosen usw. — es ist schäbigste Fast-Food-Korrespondenz!» Der interessierte Laie möchte selbstverständlich wissen, wie das Telefaxen technisch funktioniert. Ich auch. Da schreibt man am besten doch bei der Deutschen Telekom ab: «Das Telefax-Gerät wandelt Ihre Schrift- oder Bildvorlage fotoelektronisch in Rasterpunkte um, die als elektrische Signale übertragen werden. Das Empfangsgerät kehrt den ganzen Vorgang wieder um, und der Empfänger erhält eine originalgetreue Kopie, ein fernkopiertes ‹Faksimile›.» Eine wunderbare Erklärung, so knapp und einleuchtend, daß sie auch 80jährige Mütter begreifen. Und als ein vom altsprachlichen Gymnasium Gebeutelter füge ich noch hinzu: tele, aus dem Griechischen, heißt soviel wie fern (Television, Telegraphie, Telepathie), und fac simile, aus dem Lateinischen, bedeutet mache ähnlich! Aber trotzdem weiß ich immer noch nicht (auch wenn mir durchaus klar ist, daß Faxbotschaften nicht geschreddert auf die Reise gehen), wie die winzige Frau in mein Faxgerät hineingekommen ist, die mit quäkender Stimme plärrt: Bitte warten Sie! Ihr Anruf wird weitergeschaltet! Möchten Sie ein Fax senden, drücken Sie jetzt die START-Taste! Ich mache kein Hehl daraus, daß ich das Telefaxen für eine der wunderbarsten Erfindungen der Menschheit halte, vergleichbar mit technischen Innovationen wie Glühbirne, Telephon, Rundfunk, Fernsehen, Ton- und Bildaufzeichnung. Auch mit dem Telefaxen vergewissern wir uns, daß wir nicht mehr auf den Bäumen sitzen (auch wenn es manchmal doch noch diesen Anschein hat: auf den modernen Schlachtfeldern). Es ist kaum bekannt, daß die Anfänge des Telefaxens bis tief ins 19. Jahrundert reichen, bis in die Urzeit des Industriezeitalters, dessen technischer Visionär poetisch Jules Verne war. Die Gelehrten sind sich uneins, wer denn nun der wahre Erfinder ist. Die Telekom nennt in ihren Unterrichtsblättern für den Nachwuchs den Engländer Frederic Collier Bakewell, der 1847 erste Übertragungsversuche mit «Copiertelegraphen» zwischen London und Slough unternahm. Das britische Fernsehen hingegen favorisierte den Schotten Alexander Bain, der sich 1843 ein elektromagnetisches Gerät patentieren ließ, dessen bewegliche Teile aus Rinderknochen bestanden, das jedoch erst 23 Jahre später zwischen Paris und Lyon ausprobiert wurde. Der sogenannte Pantélégraphe arbeitete mit beschichtetem Eisenblech statt Papier und war schneckenlangsam, so daß er mit dem Telegraphen von Samuel Morse nicht konkurrieren konnte. Immerhin inspirierte er den Spiegel noch 150 Jahre später zu der Titelei «Fax mit Knochen». 1869 präsentierte der Franzose Gyot d'Arlingcourt einen «Copiertelegraphen», der folgendermaßen funktionierte: «Das zu übermittelnde ‹Telegramm› wurde mit nichtleitendem Firnis (Lack) auf eine Metallfolie geschrieben oder in eine lacküberzogene Folie eingekratzt, auf eine drehende Trommel aufgespannt und von einem Abtastgriffel, der [...] längs der Trommel bewegt wurde, abgetastet. An der Empfangsstation wurde ein mit blausaurem Kalium getränkter und mit verdünnter Salzsäure befeuchteten — und damit leitender — Papierbogen auf die Walze aufgepannt und der Abtastgriffel entlang der rotierenden Trommel bewegt. Durch elektrolytischen Stromdurchflug wurde das Aufzeichnungspapier eingefärbt.» In Deutschland taten sich — erst Anfang dieses Jahrhunderts — die beiden Physiker Arthur Korn und August Karolus bei der Entwicklung des Telefaxens hervor; 1928 war erstmals das «Wetterfax» des Dr. Bodo Hell aus Kiel im Einsatz («Hellschreiber»), 1929 wurde ein «öffentlicher Bildtelegraphendienst» eingeführt. Und am 1. Januar 1979 begann in Westdeutschland die Einführung des Telefaxdienstes und wurde in Frankfurt am Main ein Telefax-Test-Center eingerichtet — das Kind ist also noch nicht einmal volljährig, hat sich inzwischen aber zu einem Riesenbaby ausgewachsen, obwohl die technische Entwicklung von der deutschen Industrie verschlafen und Japan überlassen wurde. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die ‹Gelbe Post› in Deutschland von der Papierzunge des Zauberdrachens verschlungen sein wird. Momentan stehen in Postdiensten 100.000 Briefzusteller, die jährliche Personalkosten von (vorsichtig geschätzt mindestens fünf Milliarden DM verursachen; insgesamt dürften die Aufwendungen für Briefbeförderung im zweistelligen Milliarde-DM-Bereich liegen. Es ist absehbar, daß sie in naher Zukunft nicht mehr rentabel sein wird, wenn nicht horrende Porti! verlangt werden. Wirtschaftlicher lassen sich die 35 Millionen bundesdeutschen Haushalte mit Schriftpost via Telefax versorgen (31 Millionen Telephonanschlüsse sind bereits verfügbar). Selbst wenn die Telekom, die dann die klassische Post-Aufgabe übernähme, jedem Haushalt im Lande ein Faxgerät kostenlos (oder gegen Kostenbeteiligung) zur Verfügung stellte, hätte sich eine solche Investition binnen kurzem amortisiert, wenn man bedenkt, daß es schon jetzt ein ‹Volks›-Faxgerät bei der Firma Saturn zum absoluten Dumping-Preis von 220 Mark gab, wobei sich dieser Preis bei massenhafter Verbreitung gewiß noch um mehr als die Hälfte reduzieren ließe. Dann würden die gesamten Investitionskosten nicht einmal zehn Milliarden DM betragen. Längst ist das Faxgerät kein Luxusgegenstand mehr für Priviligierte, sondern bereits heute fast Gebrauchs- und Wegwerfartikel wie CD-Player, Kaffeemaschinen oder Staubsauger. Es lebe der Faxismus! Schon jetzt ist die Übermittlung eines Briefes per Telefax billiger als auf traditionellem Weg: eine DIN-A-4-Seite, in den entferntesten Winkel der Republik gefaxt, wofür die gängigen Faxgeräte mit einer Übertragungsgeschwindigkeit von 9600 Baud/sec. ungefähr eine Minute brauchen, kostet ab 1996 tagsüber fünf oder sechs Telephongebühreneinheiten, also 62 – 70 Pfennig, zum Billigtrif nachts sogar nur 12 – 36 Pfennig. Noch günstiger sieht es im Ortsnetz aus: für nur zwei Gebühreneinheiten lassen sich zum Normaltarif etwa drei Seiten faxen, zum Billigtarif für 12 Pfennig vier Seiten, was an Porto zwei Mark kosten würde. Und — momentan noch sehr teure — Faxgeräte der jüngsten Generation schaffen bereits die Übermittlung einer Seite in zehn Sekunden. Trotz der Geschwindigkeitshexerei macht die Deutsche Telekom satte Gewinne beim Faxen, und sie wären immens, jagte sie die Briefbeförderung ihrer unbeliebten Schwester Deutsche Post AG gänzlich ab, die dann aufs Frachtpost-Volumen einschrumpfte, unternehmerisch verschlankt von gegenwärtig 28,6 Milliarden Umsatz auf zur Zeit 4 Milliarden. Oder aber freie private Unternehmen bieten diese Dienstleistung an — ist die Deutsche Post ein Auslaufmodell? Ohne Frage: in ihrer jetzigen Struktur bestimmt. Und keine Angst: auch das Faxgeheimnis soll wasserdicht werden wie das Briefgeheimnis. Jüngst präsentierte die Firma Siemens ein Zusatzmodul für Faxgeräte: mittels einer Chipkarte wird die Übermittlung des Faxes verschlüsselt, so daß kein Unbefugter die Leitung anzapfen und mitlesen kann. Und im Büro und im familiären Bereich lassen sich eingehende Faxe speichern und erst durch ein Paßwort des befugten Empfängers abrufen. Auch das schon heute vielfach praktizierte papierlose Faxen von Computer zu Computer läßt Diskretion walten. Rechtlich sind noch nicht alle Fax-Probleme gelöst. Zwar kann kann man per Fax rechtsverbindlich Kaufverträge abschließen oder Warenbestellungen vornehmen, aber wenn das Gesetz die Schriftform vorschreibt, muß ‹die Urkunde› nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch ‹eigenhändig› unterschrieben sein, reicht die Kopie der Unterschrift nicht aus, etwa bei Bürgschaftserklärungen, Vollmachtserteilungen etc. Auch bei einen Mahnbescheidsantrag muß das amtliche Formular im Original eingereicht werden (ein milder Trost; dasselbe sollte künftig, wenn der Faxismus monopolisiert ist, auch für Parkstrafzettel, diese gräßlichen ‹Knöllchen›, gelten). Und wichtig zu wissen noch: Als Beweismittel vor Gericht reicht das Sendejournal mit Datum, Faxnummer des Empfängers und technischem ‹OK›-Vermerk nicht aus, da sich eine solche ‹Quittung› leicht manipulieren läßt. Die Abschaffung der traditionellen Briefpost hätte ein paar kuriose Nebenwirkungen: für Philatelisten gäbe es keine deutschen Briefmarken mehr zu sammeln (Paketpost wird ja nicht frankiert, sondern direkt am Schalter bezahlt), aber tränenüberströmte Sammelwütige könnten ja auf dann einzuführende Paketmarken, auf Telephonkarten oder Kaffeesahnedeckel umsteigen, um größere psychische Schäden zu vermeiden; und kläffende bißfreudige Köter müßten sich andere Waden als die der Briefträger suchen; auch werden die Beine der deutschen Menschheit schrumpfen, wenn der elastizierende Fitneß-Gang zum Briefkasten oder zur Post entfällt; und es gibt keine in Büchern veröffentlichten Briefwechsel von Dichtern mehr, denn wer will schon Gesammelte Faxe lesen? Aber als Ausgleich gibt es inzwischen ja bereits eine Fax-KUNST. Ein Sonderproblem stellt die allseits so beliebte Postkarte dar. Da muß noch die flexible einseitige Faxkarte erfunden werden. Warum nicht? Wenn man eines Tages auch allgemein in Farbe faxen können wird (die Technik existiert bereits) ... — natürlich wird es in jedem besseren Hotel der zivilisierten Welt einen Faxautomaten geben! Tante Waltraut in der Heimat braucht einen Gruß ihrer Lieben nicht zu entbehren! Man muß also kein großer Prophet sein, um fürs 21. Jahrhundert das Ende des traditionellen Briefverkehrs vorauszusagen. Der Postmann wird nicht mehr zweimal klingeln, wie ja auch die transzendentale Herkunft der Postboten, der einst als angelos vom Himmel fiel, längst anachronistisch ist, in entgotteten Zeiten. Den Platz der Metaphysik hat triumphierend die ‹Elektrophysik› übernommen (mein Faxgerät hat den ingeniösen Transit-Kamen TELESUS). Die Wirtschaft hat die Vorzüge des Faxens für die geschäftliche Komminikation auf Anhieb erkannt und realisiert. Auch aus dem Pressewesen ist das Faxen intern nicht mehr wegzudenken (hochsensible Redakteure in kulturellen Elfenbeintürmchen allerdings murren noch — aber schon leiser). Andererseits bietet seit Oktober 1995 die Süddeutsche Zeitung in Zusammnarbeit mit der Financial Times einen Wirtschaftsdienst per Fax an: «SZ-Finanz» heißt das elektronische Medium, das über Finanzmarkt-Ereignisse, die erst spätabends oder nachts bekannt werden, brandaktuell informiert. Es braucht noch etwas Zeit, bis auch traditionalistische Individualisten die Vorteile des Faxens erkennen und sich von ihm nicht mehr bloß in ihrer privaten Ruhe gestört fühlen (das war bei der Einführung des Telephons nicht anders). Selbst ein wertkonservativer Schöngeist wie der bereits oben zitierte Autor Matthias Zschokke mußte schließlich einräumen. — «... habe mich an das Gerät gewöhnt und es angenossen (es ging mir wie Katzen, die sich erst bis aufs Blut bekämpfen — und irgendwann nehmn sie sich an und lieben sich bis ans Lebensende).» Faxen ist auch ein demokratisches Medium: Rundfunk und Fernsehen haben das längst erkannt, indem sie Meinungen ihrer meist jüngeren Klientel per Fax abfragen; ebenso läßt sich einen unfähigen Politiker mit einem Fax kurz und bündig der Marsch blasen; und als Verbraucher kann man dem Hersteller stante pede den Unmut über ein miserables Produkt ins Auftragsbuch schreiben («Ihr matschiger versalzener Thunfisch aus Ecuador kann mit dem knackigen aus Indonesien in keiner Weise konkurrieren!») — alles Aktionen, für die ein Telephonat zu intim und ein postalischer Brief zu aufwendig wäre. In seinem Buch Die Schrift (Frankfurt am Main 1992) handelt der Kulturphilosoph und Zukunftsforscher Vilém Flusser im 13. Kapitel über das Phänomen Briefe, analysiert luzide und mit kritischer Sorge die radikalen Umwälzungen, die in diesem Bereich der Kommunikation auf uns zukommen werden: «Netze, die sich nicht mehr auf die Erde stützen müssen, sondern die stützenlos in Feldern schwingen, sind Träger intersubjektiver Botschaften geworden. Die Festlichkeit und das Geheimnis des Briefeschreibens lösen sich auf. Die existentielle Einstellung des Wartens, des Abwartens, des Erwartens ist angesichts der kosmischen Simultaneität der elektromagnetisch übertragenen Botschaft überflüssig geworden. Hoffen ist nicht mehr Erwarten, es ist Überraschtwerden geworden. Es hat allen Sinn verloren, Briefe zu schreiben. [...] Die Kunst des Briefeschreibens verlernen wir, während wir die neue Kunst der Intersubjektivität, die Computerkunst, noch nicht gelernt haben. Man entzieht uns den Brief (wobei dieses ‹man› gesichtslos ist, aber verschiedene Masken trägt), und wir fallen in die bezugslose Masse; gleichwohl erahnen wir, daß die Massenmedien sich in intersubjektive, briefartige Medien zu verzweigen beginnen. Nur diese dumpfe Ahnung, für die das Wort Hoffnung zu stark ist, erlaubt uns, dem Untergang der Briefe und der Post entgegenzusehen.» Niels Höpfner Laubacher Feuilleton 18.1996, S. 3
Phänomen Charme Eines der größten Mysterien in dieser Vernunftzeit ist das Phänomen Charme. Wir gebrauchen den Begriff in all seinen sprachlichen Erscheinungsformen ziemlich gedankenlos, aber höchst bewundernd oder sehnsuchtsvoll, wie es scheint — als ob es um eine Adelung ginge oder zumindest um eine Ordensverleihung besserer Klasse. Was ist Charme? Laut Wörterbuch hat man darunter ein «bezauberndes, gewinnendes Wesen» zu verstehen. Etymologisch läßt sich Charme herleiten vom lateinischen carmen, und dieses Wort bedeutet nicht nur «Gesang, Lied, Gedicht», sondern auch «Zauberspruch, Zauberformel». Also: Simsalabim! Eine Sie oder ein Er «hat viel Charme», «besitzt hinreißenden Charme», der manchmal sogar «ererbt» ist (von einem geheimen Nummernkonto der Ahnen: steuerfrei). Dieser «eigene, persönliche» Charme ist ein Kapital, denn er «gewinnt alle», weil er «so liebenswürdig, unwiderstehlich, verführerisch» ist und im schlimmsten Fall «natürlich». Dabei handelt es sich keineswegs nur um den berüchtigten «diskreten Charme der Bourgeoisie», die ihn «lässig ausstrahlt», «gepaart mit Chic» und «voller Eleganz». Oscar Wilde meinte, in seinen besseren Zeiten: «Alle charmanten Leute sind verwöhnt, darin liegt das Geheimnis ihrer Anziehungskraft.» Es gibt aber auch Personen, die «nicht ohne» Charme sind, von denen «ein gewisser» Charme ausgeht, und die müssen gar nicht erst ihren «ganzen Charme spielen lassen, entwickeln, aufbieten». Einem solchen Charme kann man ebenso «erliegen», wenn nicht sogar «verfallen». Diesen Reiz über nicht nur Menschen aus. Auch Städte und Landschaften «entzücken» mit ihren Charme: Wien, zum Beispiel, das auf Charme geradezu abonniert ist, oder Paris, das traditionell sowieso Charme hat, von der Toscana ganz zu schweigen. Dagegen hat Gelsenkirchen es schwer. Einer, der Charme «verströmt», wird Charmeur genannt. Das ist ein «Mann, der die Frauen durch sein gewinnendes Wesen für sich einzunehmen versteht», laut Wörterbuch (für das die Welt heterosexuell noch in Ordnung ist). Besonders hüte man sich vor den «ausgesprochenen» Charmeuren, die schon als solche bekannt sind: gern werden sie auch als «Charmebolzen» bezeichnet, wenn sie «charmant plaudern» können und sich auch sonst «von ihrer charmanten Seite» zeigen. Kommen sie in die Jahre, gelten sie bestenfalls als «alte Charmeure» oder verzehren ihr Gnadenbrot als «charmante Großväter». Nicht gerade sehr charmant geht die Sprache, gehen ihre Erfinder und Benutzer mit dem weiblichen Pendant des Charmeurs um. Als Charmeuse bezeichnet man «maschinenfeste Wirkware aus Kunstseide oder synthetischen Fasern», aus der Unterwäsche hergestellt: Dessous. So sieht also die Reverenz vor der Frau aus, der wir — mutmaßlich — das Wort charmant verdanken. Aber sie ist ja auch eine Mann-Phantasie. 1696 — vor 300 Jahren! — erschien Christian Reuters abenteuerlicher Schelmuffsky-Roman, in dem der Titelheld für eine «Dame Charmante» entflammt, und die ist eine ziemlich lockere Lose, um nicht zu sagen: schockcharmant. So hat Grimms Wörterbuch für charmant und charmieren auch nur spärliche sechs Zeilen übrig: dort ist «die charmante, die geliebte»; und auch Zitatbeispiele wie «charmante Seele» oder «er hat ihr einen charmanten Brief geschrieben» richten ja wohl kaum Unheil an. Etwas skandalöser erscheint da schon die eigenwillige Charme-Vorstellung Arthur Schopenhauers: «A.: Wissen Sie schon das Neueste? B.: Nein, was ist passiert? A.: Die Welt ist erlöst! B.: Was Sie sagen! A.: Ja, der Liebe Gott hat Menschengestalt angenommen und sich in Jerusalem hinrichten lassen: dadurch ist nun die Welt erlöst und der Teufel geprellt. B.: Ei, das ist ja ganz scharmant.» Vorsicht Charme! Er ist etwas sehr, sehr Suspektes. Die Filmschauspielerin Cathérine Deneuve, die nicht nur schön ist, sondern anscheinend auch gescheit, befand: «Charme und Perfektion vertragen sich schlecht miteinander. Charme setzt kleine Fehler voraus, die man verdecken möchte.» Diese Erkenntnis ließe sich mit einem ähnlichen Bonmot konkretisieren: «Charme ist jene Gabe, die andere vergessen läßt, daß man aus dem Munde riecht.» So scheint Charme (auf den solipsistische Eremiten sicher gern pfeifen) eigentlich nie interesselos und zweckfrei zu sein: Wenn jemand «alle Register seines Charmes zieht», dann müßten im Grunde rote Warnlichter aufblinken und sämtliche Sturmglocken läuten, bevor wieder ein verhextes Opfer — im Büro oder im Schlafzimmer — aufs Kreuz gelegt wird und auf der Strecke bleibt. Charme kennt kein fair play. Nach Spinnenart «wickelt er ein». Curt Goetz: «Ob die Liebe ein Glück ist? Jedenfalls ist sie das charmanteste Unglück, das uns zustoßen kann.» Na ja, immerhin. Charme hat etwas mit unseliger Operettenseligkeit zu tun: «Ich küsse Ihre Hand, Madame ...» — fehlt nur noch Johannes Heesters im Frack. Der polnische Dichter Witold Gombrowicz möchte uns mit seinem bösartigen Theaterstück Operette dieselbe austreiben. Eine der Hauptfiguren heißt Graf Charme. Der ist sehr anachronistisch und dekadent. Man liebt ihn auf der Stelle. Deshalb soll Max Frisch nicht so schweizerisch-säuerlich tönen: «Charme zur Haltung gemacht, ist etwas Fürchterliches. Waffenstillstand mit der eigenen Lüge.» Klar: Lüge. Natürlich alles Lüge. Aber Hauptsache, sie ist charmant. Niels Höpfner Laubacher Feuilleton 17.1996, S. 3
Vom Warten Godot, der Flegel Anscheinend gehört das Warten zur Conditio humana wie die Wespen zum Pflaumenkuchen. Religionsgläubige warten inbrünstig aufs erlösende Heil im Transzendentalen, und wir gewöhnlichen Atheisten kommen auch nicht ungeschoren davon. Bauern warten meistens auf besseres Wetter, und in den unwirtlichen Städten wartet man an roten Ampeln: wer hier täglich nur vier Minuten wartet, hat im Monat zwei Stunden Lebenszeit verplempert und im Jahr einen vollen Tag. Ganz zu schweigen vom Warten in Autobahnstaus, vom Warten vor Supermarktkassen und amtlichen Schaltern, vom Warten auf Straßenbahnen und Busse (nicht Buße), Züge und Flugzeuge, vom Warten darauf, daß etwas anfängt: ein Konzert, eine Theateraufführung, ein Kinofilm — das dürfte jährlich schon ein paar Wochen kosten. «Wer warten kann, hat viel getan», raunt ein Sprichwort — und impliziert das Wartenkönnen auch noch als vermeintliche Tugend. Die deutsche Sprache differenziert sehr subtil überdachte Örter des Wartens: Wartezimmer, Wartesaal und Wartehalle. Um dies unseren ausländischen Freunden, die gerade einen Deutschkurs besuchen, paradigmatisch zu verdeutlichen: Im Wartesaal des Arztes waren weniger Leute als im Wartezimmer des Flughafens oder in der Wartehalle des Bahnhofs. Alles klar? Im Spanischen ist unser ordinär-deutscher Wartesaal eine Sala de espera (im Französischen gibt's eine Analogie), und das Wort espera bedeutet auch Hoffnung: wer wartet, hofft, erwartet etwas. Und plötzlich umweht uns der Hauch des Existentiellen. «Im Wartesaal zum großen Glück, da warten viele, viele Leute — so tönte, ziemlich depressiv, vor Jahrzehnten ein Chanson (meistens im Radionachtprogramm) und dürfte nicht ohne Einfluß auf die Selbstmordstatistik geblieben sein. Existentielles Warten: Schlimm genug, wenn man den Freund oder die Geliebte bei einer Verabredung warten läßt; wesentlich ätzender noch, wenn ein Petent, ein Arbeitsloser zum Beispiel, auf seine Bewerbung monatelang keine Antwort erhält — da wird die Warteschlange leicht zur finalen Schlinge. Ein Großmeister der Wartefolter ist Samuel Becketts ominös-numinoser Godot, der seine Klienten Estragon und Wladimir ad infinitum warten läßt. Godot, Archetyp des Jahrhunderts offenbar, ist ein sadistischer Flegel. Wer wartet, mutiert im Grunde vom aktiven Subjekt zum passiven Objekt, denn er wird gewartet, ist, im philosophischen Sinne, ein Gewarteter. Jemanden warten zu lassen, ist eines der gemeinsten Herrschaftsinstrumente der Mächtigen. Grausame Vorzimmerdiktatur. Nicht selten sind Mächtige selbst von langem Warten gekennzeichnete (und also ungeneröse) Emporkömmlinge; auch in Amt und Würden bleiben sie, was sie immer waren: Proleten ohne Manieren. Den ehernen Grundsatz Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige (sogar bei ihrer Hinrichtung, früher) kennen diese häßlichen Demokraten naturgemäß nicht. Warten wir also auf bessere Zeiten. In der postkapitalistischen Gesellschaft wird — selbstverständlich! — auch das Warten abgeschafft sein. Alles gibt's dann für alle gleich, sofort, auf der Stelle — und wer's nicht glaubt, den sollen die Pflaumenkuchenwespen stechen! Niels Höpfner Kurzschrift 1.1999, S. 15f.
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