Luthers Leistung Landauf, landab sind Werte wieder gefragt. Wo nichts mehr wird, steigt ihr Wert ins Unermeßliche. Der britische Historiker Harold James schlug den Deutschen neue Mythen vor: «Alles, was die Aufmerksamkeit von den engen Kalkulationen ablenkt, wird helfen, Stabilität zu erzeugen. Die Religion könnte das leisten, aber ebenso die Nation. Die Nation sollte uns sehen lassen, daß es im Leben um mehr geht als um Ökonomie und daß wirtschaftlicher Erfolg nicht der einzige Schlüssel zum Glück oder auch nur zur Stabilität ist.» Da hatte er freilich die deutschen Diskussionen der letzten Monate und Jahre schlecht verfolgt, denn von Nation und Patriotismus reden sie seit 1990 schon sehr lange und anhaltend, zuletzt auch der, der nach Kanzlers Wunsch nächstjährig für Fest- und Fensterreden zuständig sein will, die womöglich — um seine politischen Äußerungen einmal ganz außen vor zu lassen, so fundamentale Einsichten verbreiten wie «das Leben eines Menschen wird nicht ausschließlich geprägt von den politischen Umständen und schon gar nicht vom Materiellen». Was die Gräfin der Zeit Klage führen ließ, es gebe keine verbindliche Ethik und keine moralischen Prinzipien des Handelns mehr und sie «eine weit zwingendere Ethik als in früheren Zeiten» fordern ließ, was sie im gleichen Blatt schon einmal mit der Einführung eines Arbeitsdienstes buchstabiert hatte. Was das alles mit Luther zu tun hat? Da die Gräfin unter Ethik vornehmlich die des Protestantismus zu verstehen meint und der Kandidat ungebrochen der Zwei-Reiche-Lehre Luthers anhängt — sehr viel. Es darf gefragt werden, worin denn Luthers Leistung für die deutsche Geschichte bestand und welche Folgen seine Grundannahmen zeitigte. Was war die politische Grundüberzeugung Luthers, die — später in der Zwei-Reiche-Lehre systematisiert — zum Prinzip der Moral und Ethik des gesamten Luthertums bis in die Gegenwart wurde? Es war die Überzeugung, daß ohne obrigkeitliche Ordnung die Freiheit — auch, aber nicht nur die des Evangeliums — nicht möglich sei. Als Setzung Gottes als Weltregierung gewissermaßen sakralisiert und unangreifbar gemacht, ist obrigkeitliche Ordnung immer die je gegebene, egal welcher Qualität und Beschaffenheit, mit zwei Ausnahmen: Neue Ordnungen aus sozialen Bewegungen heraus — wenn man so will: revolutionär gestaltete — und die, welche sich sozialistisch-kommunistisch nannte, fielen nicht darunter. Aber das sind ohnehin vergessene Geschichten. Luthers Glück bestand darin, daß er seine Vorstellungen, kaum waren sie entwickelt, geschweige denn ausgereift, schon am historischen Exempel exekutieren durfte. Die ersten, die die protestantische Ethik mit voller Wucht traf, waren die aufrührerischen Bauern des 16. Jahrhunderts, die die Frechheit besaßen, sich auf Luthers Lehre zu berufen. Das in sehr naiver Form und aller Bescheidenheit; denn schaut man sich das Programm der Bauern, die Zwölf Artikel vom März 1525 an, so bleiben im Kern Forderungen nach Wiederherstellung der Alten Rechte im Sinne einer gemessenen Festsetzung von Abgaben und Diensten, der Wiederherstellung des gemeindlich genutzten Landes, der Abschaffung der Leibeigenschaft (keineswegs der Hörigkeit), kurzum des Zustandes, den die Feudalherren einseitig zu Lasten der Bauern in den vergangenen Jahrzehnten verändert hatten. Das Ganze war eingebettet in Versatzstücke einer von den Bauern für ihre Zwecke funktionalisierten Kirchenkritik, etwa der Wunsch nach freier Wahl des Gemeindepfarrers. Und zu Beginn der Auseinandersetzungen mit den Obrigkeiten ging es den Bauern auch keinesfalls darum, ihre Forderungen mit Gewalt durchzusetzen. Im Gegenteil: Sie ließen sich auf hinhaltende Verhandlungen mit den Fürsten ein, die diese weidlich nutzten, Truppen zusammenzuziehen, um die Niederschlagung der Gar-nicht-Aufrührer vorzubereiten. Luther hat sehr schnell auf die Zwölf Artikel reagiert. Gerade zwei Monate später formuliert er ein Weltbild, das so ganz aus dem Holz der Obrigkeit geschnitzt war. Den Bauern schlug er ernsthaft vor, wollten sie einen Pfarrer haben, ihn doch demütiglich von der Obrigkeit zu erbitten; die Rückkehr zu einer geregelten Abgabe des Zehnten war für ihn der Beginn der Expropriation der Grundherren, und die Abschaffung der Leibeigenschaft kommentierte er zynisch: «Denn ein Leibeigener kann wohl Christ sein und christliche Freiheit haben, gleichwie ein Gefangener oder Kranker Christ ist und doch nicht frei ist.» Die Belehrung der Bauern schloß mit der Aufforderung, sich doch an Recht und Gesetz zu halten, womit selbstredend das Fürstenrecht gemeint war. Nicht verwunderlich, daß Luther mit Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen, bei denen die Bauern schon aufgrund der schlechteren Bewaffnung, mangelnder Organisation und Führung von vornherein die schlechteren Karten hatten, ausrastete und seine Vorstellungen von Ethik und Moral den Fürsten unmißverständlich in der Form andiente, «zu würgen, stechen, heimlich und öffentlich, weil nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann als ein aufrührerischer Mensch» (Martin Luther). So war die erste große Feuerprobe für Moral und Ethik bestanden und das Muster für die Bewältigung künftiger Krisen gefunden. Sie sollten sich in vielen Phasen der deutschen Geschichte noch bewähren, die nach Auffassung des Franzosen Pierre Gaxotte ohnehin die eines unglücklichen Volkes sei, weder Gleichgewicht noch Beständigkeit kenne, voller Kontraste und Extreme. In allen diesen Phasen hinterließ protestantische Ethik ihre Spuren. Nehmen wir nur die wohlbekannte Tatsache, daß in Deutschland die Aufklärung eigentlich nie stattgefunden hat, jedenfalls keine politische Wirkkraft entfalten konnte. Statt dessen wurden die preußischen Tugenden entdeckt, die zeitgemäße Ausformung der protestantischen Ethik. Zwar ist Preußen tot, doch von seinen angeblichen Tugenden, von Pflichterfüllung, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, gar preußischer Liberalität zu reden, hat nie aufgehört und erfährt gegenwärtig eine Renaissance. So viele Fremde habe das Land aufgenommen, Fremde, die anderswo ausgewiesen wurden. Wohl wahr, man nahm sie auf, die Intellektuellen und qualifizierten Facharbeiter, wie die Bundesrepublik ausländische Arbeitskräfte aufnahm, als und solange sie für die Wirtschaft von Nutzen waren. Aber war deshalb Preußen liberal, nur weil es eine effiziente Bevölkerungspolitik betrieb? Anderes wird und wurde ausgeblendet, was nämlich in erster Linie für preußische Politik stand, der Militarismus, der vorbereiten half Wege und Werte, die ohne große Umwege und Korrekturen in zwei Weltkriege führten. Von letzterem war nichts zu hören, als Kanzler und Bundeswehr Spalier standen, bei einem Staatsakt, der vielleicht nicht zufällig am Beginn eines wiedervereinigten Landes stand: Der Heimholung des Alten Fritz nach Potsdam. Einem zweiten Preußen widerfuhr erst neulich eine Wiedergeburt. Am 2. September 1993 wurde das Reiterstandbild Kaiser Wilhelms I. am Deutschen Eck in Koblenz wieder auf den Sockel gestellt, von dem es amerikanische Soldaten 1945 heruntergeschossen hatten. Die Zuschauer jubelten, Schiffsirenen heulten. Zufällig sei es gewesen, daß es gerade der 2. September war. Merkwürdiger Zufall, wurde dieser Tag doch bis 1918 in Deutschland als Sedanstag gefeiert, an dem des 1870 in Sedan errungenen Sieges über Frankreich gedacht wurde; und nicht nur gedacht: Schulfrei gab es, landauf, landab wurden nationalistische Feierlichkeiten abgehalten. Sebastian Haffner verglich seine damalige Bedeutung einmal mit Tagen, an denen Deutschland Fußballweltmeister geworden ist. Was sind das für Werte, für ethische Normen, die auf leisen Sohlen, zunehmend aber mit pomphaftem Getöse wieder zurückkehren? In der deutschen Geschichte waren es nicht diejenigen, die auf ein friedliches, ziviles Zusammenleben abzielten. Karl Marx formulierte einmal, geschichtliche Tragödien wiederholten sich als Farce. Das ginge ja gerade noch an. Martin Luther: «Weil denn nun die Bauern auf sich laden beide, Gott, und Menschen, und so mannigfaltig schon an Leib und Seele des Todes schuldig sind und kein Recht (auf ihrer Seite haben), sondern immerfort toben, muß ich hier die weltliche Obrigkeit unterrichten, wie sie hierin mit gutem Gewissen (ver)fahren soll. Erstlich, der Obrigkeit, die da kann und will, ohne vorhergehendes Erbieten zum Recht und Billigkeit, solche Bauern schlagen und strafen, will ich nicht wehren, obgleich sie das Evangelium nicht leidet. Denn sie hat das gute Recht, nachdem die Bauern nun nicht mehr um das Evangelium fechten, sondern sind öffentlich geworden treulose, meineidige, ungehorsame, aufrührerische Mörder, Räuber, Gotteslästerer, welche auch heidnische Obrigkeit zu strafen Recht und Macht hat, ja dazu schuldig ist, solche Buben zu strafen. Denn darum trägt sie das Schwert und ist Gottes Dienerin über den, der übel tut, Röm. 13,4.» Peter Adamski Laubacher Feuilleton 8.1993, S. 4; wiederabgedruckt in Überall ist Laubach. Berichte vom Nabel der Welt, München 1995, S. 111–115
Alpenvorlandlüftchen Der Föhn von innen Von den alten Chinesen stammt die Weisheit, daß man sich in ein Lebewesen, in ein Tier, in eine Pflanze hineinversetzen muß, um es zu verstehen. Man kann das bei einiger Übung und Konzentration auch mit einem Frühstücksei machen, sich sozusagen gedanklich mit ins kochende Wasser begeben und dann spüren, wenn es soweit ist. Doch das ist schon etwas für Fortgeschrittene, während die nachfolgende Föhn-Übung kaum mehr als etwas Phantasie verlangt. Stellen Sie sich also vor, Sie sind eine Luftmasse, befinden sich südlich der Alpen, sagen wir in Oberitalien, was schon für sich etwas Erfreuliches ist; dazu sind Sie mäßig gesättigt — in unserem Falle nicht mit Tortellini oder Costata lombarda, sondern mit Wasserdampf. Während Sie es sich also gutgehen lassen, passieren jenseits der Alpen Dinge, die Sie in Ihrer Ruhe stören werden. Die Luft in den Alpentälern und im Alpenvorland beginnt nämlich durch tiefen Druck im Norden oder Nordwesten abzufließen und muß, nach einem Naturgesetz, ergänzt werden. Also kommt das Kommando von oben (wie immer — hier jedoch geographisch gemeint): Auf, über den Alpenhauptkamm, gen Germanien! Nur ungern setzen Sie sich in Bewegung, denn vom letzen Mal wissen Sie noch, daß Anstrengendes bevorsteht. Während Sie nun den schwierigen Aufstieg über die südlichen Voralpen, das Veltlin oder Südtirol beginnen, kühlen sie zunehmend ab, fühlen sich immer schwerer vom Wasserdampf, bilden dicke, schwere Wolken, bis Sie ‹es nicht mehr halten› können und sich von der, mit steigender Höhe ständig zunehmenden, Last befreien. Drunten regnet's. Fachleute nennen das Kondensation, aber das nützt Ihnen wenig, denn die eigentliche Höllenfahrt steht Ihnen eigentlich erst noch bevor. Das einzige, was Sie beim Aufstieg bis zum Alpenhauptkamm, über die Gletscher des Ziller- oder Ötztals ein bißchen bei guter Laune hätte halten können, wäre die Schadenfreude gewesen, daß die Menschen schon jetzt vor Ihnen, unter Ihnen zu stöhnen beginnen; sie spüren den ‹Vorföhn›, aktivieren ihre Migräne oder ärgern sich mit Operationsnarben herum. Noch aber sind Sie ein ganz gewöhnlicher Luftstrom, noch immer kein Föhn. Erst nach dem Abladen der Regenlast und dem Überschreiten der höchsten Alpenkämme dürfen Sie sich so nennen; denn jetzt geht's los. Erstes Angriffsziel: das Inntal, quer zur Windrichtung, relativ schmal und eigentlich leicht zu überfliegen. Sie würden auch lieber friedlich hier oben bleiben und im kühnen Flug über die Alpen hinweg bis zu den deutschen Mittelgebirgen oder gar zur Nordsee strömen, aber da unten ist ein Vakuum, alles Widerstreben nützt nichts, Sie müssen sich hinunterstürzen wie Lützows wilde verwegene Jagd. Also raus aus der Föhnmauer und hinein ins Tal. Während Sie sich auf die armen Tiroler stürzen, werden Sie je 100 Meter Höhenunterschied um ein Grad wärmer; trocken, weil ja abgeregnet, sind Sie schon, und also kommen Sie unten bis zu 20° Celsius ‹wärmer› an, als Sie es oben waren. Auf Ihrem Sturzflug ins Tal werden Sie immer schneller, wirbeln viel Staub auf, türmen die Wellen auf kleinen Alpenseen zu atlantischen Brechern hoch, schüren müde dahinflackernde Herdfeuer zu lodernden Bränden und machen — nicht zuletzt — die Leute total verrückt. Die überfahren rote Ampeln, raunzen ihre Nachbarn an, brechen einen Ehestreit vom Zaun oder treiben sonst etwas aus inzwischen heiterstem Himmel. Aber darauf können Sie als voll entwickelter Föhnsturm mitllerweile keine Rücksicht mehr nehmen. Manchmal, wenn der Sog, der Sie ins Tal zieht, nur schwach ist, verlieren Sie hier allmählich die Lust, zu toben, und schlafen langsam ein. Aber als richtiger Föhnsturm geben Sie sich nicht zufrieden mit dem, was Sie schon angerichtet haben; lassen sich auch nicht verführen, gemütlich im Inntal entlangzuwehen, um schließlich bei einem Viertel Tiroler Rotem alle Dynamik auszuhauchen, sondern jetzt geht es wieder aufwärts. Mit der ganzen Gewalt des Fallens über einige 1.000 Meter in die Tiefe, brausen sie nun wieder in die Höhe, über die Kalkalpen hinweg hinaus ins bayerische Oberland. Jetzt haben sie schon Geschmack gefunden an Ihrem Tosen und Toben, jetzt stehen auch keine Berge mehr quer zur Windrichtung, jetzt können Sie zeigen, was trotz allem Auf und Ab noch in Ihnen steckt. Auf dem Walchensee lehren Sie erst einmal die Surfer das Fürchten, dann erschrecken Sie die Segelboote auf dem Chiem- oder Starnberger See, die alle Sturmwarnungen in den Wind geschlagen haben, weil der Himmel ja so ‹grüabig› aussah, und schließlich fegen Sie durch die Sraßen der Städte im Alpenvorland, daß den Leuten die Papiertüren um die Ohren und die Würstl vom Grill fliegen. Mit Genuß an der gestifteten Verwirrung lassen Sie's nun genug sein, spätestens an der Donau ist alles zu Ende, und Sie legen sich mit dem beruhigenden Gefühl nieder, es denen da unten mal wieder richtig gezeigt zu haben. Darüber können Sie leicht vergessen, daß dieses Ende Ihrer brausenden Fahrt nicht ganz freiwillig war. Inzwischen ist das Tief nämlich von Nordwest nach Nordost gewandert, der Wind hat sich gedreht, und gegen die nun von Nordwesten heranstürzenden kalten Luftmassen haben Sie keine Chance. Die sind schwerer und feuchter als Sie und drängen Sie kurzerhand beiseite. Und manch einer, der unter Ihrer Trockenheit und Wärme gelitten, dem die Schleimhäute — und das Hirn! — ausgedorrt sind, freut sich gar darüber. Am besten, Sie lassen sich von den nördlichen Strömungen über die Alpen zurücktreiben, setzen sich in Italien wieder gemütlich an eine gut gedeckte Tafel und warten in aller Ruhe das nächste Kommando in Richtung Norden ab. Bis dahin: alles Gute ... Jürgen Brauerhoch ••• Die Redaktion des Laubacher Feuilleton dankt(e) dem Autor Jürgen Brauerhoch 1994 in Arthur Tuschaks Zentner in der Schellingstraße, eine Zeitlang Planungsbüro für Anschläge auf die Leser, für die freundliche Abdruckgenehmigung, bei einem oder auch zwei Gläser ordentlichen Weines (oder war's Weißbier?). Der Föhn wurde offensichtlich neu aufgelegt: Frisch wie damals, blankgeputzt der Himmel über München. Er sei gepriesen, vor allem von denjenigen, die nicht (mehr) unter ihm zu leiden haben (siehe oben). Hermann Weiß notiert dazu in der Welt vom 11. November 2007: «Um sich gar nicht erst dem Verdacht auszusetzen, an einer Legende stricken zu wollen, zieht man sich als eingeborener Münchner am besten auf die Definition des Deutschen Wetterdienstes zurück. Der Föhn ist demnach ‹ein warmer, trockener Fallwind, welcher im Allgemeinen auf der der Luftströmung abgewandten Seite eines größeren Gebirges auftritt. Er entsteht bei Wetterlagen, bei denen eine großräumige Luftdruckverteilung erscheint, die eine Luftströmung quer zu dem Gebirgszug zur Folge hat.›» Jürgen Brauerhoch Föhn. Ein erlösendes Brevier Laubacher Feuilleton 10.1994, S. 15
Lethes Freibrief An der Eingangstür der Buchhandlung im Universitätsviertel hing ein weißer Zettel: «Suche Student, der lesen und schreiben kann, für einfache Arbeiten und für länger.» War das ein Witz? Weshalb dieser Einschub? Weshalb diese fast uneinlösbaren Voraussetzungen für einen Hilfsjob? Student, Lesen, Schreiben; das sind doch Synonyme. Sogar ich selber kann mich noch gut an meinen ersten selbstgeschriebenen und vorgelesenen Satz erinnern: «Otto und Else werfen den Ball.» Dieser Satz könnte als Präambel für die gesamte Philosophie des dialogischen Diskurses stehen. Man muß ihn nur deuten. Was aber hatte den Chef der Buchhandlung zu dieser mit Verzweiflung und stiller Resignation unterfütterten Tautologie verleitet? War es die Legende um Diogenes, der am helligten Tag mit einer Laterne über die Athener Agora spazierte und gefragt wurde: «Was tust du mit dem Licht?» und dann erwidert haben soll: «Ich suche Menschen!»? Das Lamentieren über den sozio-kulturellen Qualitätsverlust im allgemeinen gehört zum geriatrischen Habitus wie die Kritiklosigkeit in die juvenile Unbedarftheit. Nach außen hin Wohlgehütetes — wie Selbsterhöhung und versteckte Kapitulation vor dem Neuen — finden hier ihren romantisch-melancholischen Auslaß in eine Wertegemeinschaft, die alles vergessen hat, was nicht vermünzbar ist. Das Gefühl, mit seinen Qualitätsansprüchen alleine dazustehen, hat für alle Völker und Individuen jedoch etwas Olympisches. Es unterstellt dem Großteil biotischer Wesen, mehr aus Spreu denn aus Weizen zu bestehen, wobei die eigene Zugehörigkeit unterschwellig gleich mitdefiniert wird. Aber der ‹Club der vor die Säue perlenden Individuen› (CSI) fürchtet einzig und allein um ein göttlich' Prinzip: das heißt Macht. Macht ging über in Menschenhand, als die einem Gott zugeschriebene firmamentige Sternenschrift mit der Erfindung der Schriftzeichen durch tabubrechende Individuen konvertiert werden konnte. Das große ‹W› der Kassiopeia fand Aufnahme in viele Alphabete und hat sich bis zur Einrichtung der Internetadressenanfänge verkleinert verdreifachen können. Sternenschrift, für deren Deutung die Babylonier eine ausgeklügelte Konstellationsdeutung erfanden, gelang in Menschenhand wie damals das Feuer, das Prometheus auf die Erde brachte. Ohne Erlaubnis! Als aber Salomo Saturn fragte: «Sage mir, wer zuerst die Buchstaben ritzte!» war die Antwort: «Mercurius, der Riese.» Warum gerade dieser geschäftige Kaufleutegott, der dem Merkantilismus seinen Namen gab? Dieser Finanzjongleur, der mit Buch und Buchung gleichermaßen geschickt umzugehen versteht. Besaß er etwa den Ball von Otto und Else? Die Anmaßung des graphologischen Tabus hatte die kosmologische Sky-Screen, den ersten kollektiven TV-Monitor der Menschheit, zum Ausgangspunkt einer Spracharchitektur des Buchstabenbaus gemacht. Malen, Ritzen, Kerben waren ihre Anfänge. Die Geschichte der Schrift ist eine Geschichte vom Kerbholz, das Joy-Stick werden durfte. Ihr Hauptanliegen war das Fixieren dessen, was man über die Konstruktion Zeit als Geschehen durch Erleben wahrnahm. Zugriff auf Vergangenes und Planungsvorsprung für die Zukunft waren Vorteile, die die rein verklingende Wirklichkeit von Sprache beliebig verzeitlichen konnte. Die Konsequenz: Das ausschließliche Erleben in der Gegenwart, das Hier und Jetzt, wurde durch Schrift für lange Zeit aufgehoben. Das Erleben hat sich durch Schrift ein kollektives Gedächtnis geschaffen, das große Kapazitäten von unerlebten Zeiträumen reproduzieren kann. Bilder konnten das nie leisten. Bilder sind analoge Prägungen von Zeitschnitten und fransen hermeneutisch leicht mehrwertig aus. Wörter dagegen sind gestellte Staben, die erst in ihrer sinnvollen Reihung und der dechiffrierenden Lesung Aussagekraft bekommen. Das Bildfreie der Texte war für den Analphabeten Zauber und Ausschluß zugleich. Früh schon bedeutete Schrift- und Lesekundigkeit, Anteil am ‹Amtlichen Gedanken› zu haben. Zeigefinger und Daumen (digitus) wurden Lesemodi unterstützende Werkzeuge, ob von links nach rechts, von rechts nach links, von oben nach unten, von unten nach oben. Die Ordnung der Staben eines Textes wurde durch kenntnisreiches Kombinieren so betrieben, daß Information, die den Aggregatzustand und seinen Träger gewechselt hatte, verlustfrei abgeleitet werden konnte. Informant und Informierter, in augurierter Konspiration, lösten sich von den Idiotes ab. Kultur war entstanden. Ein kognitives Zweiklassensystem war geboren, das der kulturellen Welt Macht über die mythische geben konnte. Nomos und Logos hatten sich vom Mythos abgesprengt. Die an Volksmythologien, spät erst Aberglauben genannt, gebundene Welt blieb auf ihren Bildvorstellungen sitzen, erhielt sich aber dadurch das Kindliche an der Phantastik. Das Resultat war Regierbarkeit durch die Inaugurierten, die das, was sie weitergeben wollten, wieder in Bilderbücher rückübersetzten. Die biblia pauperum steht für eine erste, bewußt produzierte Infiltrationsdidaktik für das analphabetische Volk. Das Prinzip Computer ersetzt sie heute genauso flächendeckend wie unkritisch. Chiffrieren und Dechiffrieren, Codieren und Dekodieren, Pervertieren und Konvertieren, Legieren und Delegieren, Lektieren und Selektieren — alles hängt mit Schreiben und Lesen zusammen, sind Macht- und Gesetzesparameter. Eine Choreographie der Daumenstellung. Göttlicher Kult und erdenschwerer Ritus wurden durch eine Art anthropozentrische Black-Box geschickt, um im Schriftsinn das Wissen der Welt zu speichern und gegebenenfalls zu reproduzieren, während sich die Welt der Kleinen Leute von Generation zu Generation weiterhin Märchen erzählen mußte, um einen vagen Überblick über ihr kollektives Seinsverständnis zu erhalten. Das phonetische Erbe, das generative Hinüberziehen der Geschichten im ursprünglichen Sinn, heißt Tradition. Im Laufe der Zeit hat das tradierte Bewußtsein jedoch den Erzählspeicher der Analphabeten gesprengt und verlangt nach erdkreisverspannender technischer Dienstleistung. Nun hat das literarische Bewußtsein auch noch die Grenzen der bioanthropologischen Kapazität erlangt. Kein Mensch ist mehr in der Lage, als uommo universale über die Enzyklopädie des Weltwissens zu verfügen. Die hirnmäßigen Kapazitäten haben sich durch die Zugriffstechnik auf Surrogatspeicher erweitern lassen: unendlich brachliegendes Wissen als potentielle Energie mangelnder Denk- und Memorierleistung. Wieder droht Machtverlust. Da auf einmal waren sie da, die beiden epochemachenden Erfindungen: Halbleiter und Mikroprozessor. Elektro-digitale Technik zur Entlastung der bioanthropologischen Merkfähigkeit. Was Humboldt, Herder, Lessing, Goethe nach der mythisch-literalen Einfalt der Edda und der teutschen Zupfgeigenhansellyrik an Dichtung und Wahrheit aufgeforstet und was die Grimms fein dokumentiert und inventarisiert hatten, fiel einer Libatio mit Lethes Nepenthes anheim und wurde zu einem Synonym des Identitätsverlustes durch ‹Alzheimer›, jener schwarzlöchrigen, cerebralen Degeneration, die sich einstellt, wenn das Gehirn nicht mehr gebraucht wird. Denn jedes Organ (im weitesten Sinne) stellt seine Tätigkeit ein, wenn es sich überflüssig vorkommt oder schlecht behandelt wird. Aus schreibenden und lesenden Denkern hat die Technik User gemacht, die viel vom handling, briefing und banking verstehen, aber die große kollektive Legierung mit dem Weltverständnis über Bord geworfen haben. Deshalb verstehe ich die Not des Buchhändlers, der nach einem Studenten sucht, der lesen und schreiben kann. Er sucht ja nur einen Menschen! Herbert Köhler Kurzschrift 3.2000, S. 51 – 54
Die regenerierte Unschuld Es ergibt sich nach so viel an Vorwurf folgerichtig die Frage, wo denn der Verfasser vor Anker zu gehen gedenke und was, wenn nicht den Rückfall in eine prämoderne Erlebnis- und Erscheinungspoesie er anempfehlen möchte. Nun, da wird vieles auf Bescheidung und Moderation hinauslaufen und an sturer Grundsätzlichkeit manches vermissen lassen. A b e r, wenn es gleich nur um literarischen Revisionismus geht — kaum geeignet Sensation zu machen und nicht einmal für den Moment verblüffend — so verhehlt es doch die Behauptung nicht, daß nur ein neues Verhältnis zur naturalen und sozialen Wirklichkeit unsere zeitgenössisch-zeitentzogene Poesie aus ihrem ästhetischen Provinzialismus herausführen könnte. Eine revisionistische Ästhetik wird also mit langem Finger auf die so sträflich vernachlässigte Wirklichkeit, auf den Gegenstand als Widerstand verweisen und sich nicht scheuen, den altbackenenen Einwand vorzutragen, daß eine Leugnung der Bedeutungsdimension des Wortes keineswegs apriorisches Plus ist, sondern: vorerst Beschneidung, vorerst einmal Abtrag. Ein sehr großer Verlust sogar, da dem Wort mit seiner niedersten Funktion sein Geist genommen wird und mit seinem Geist sein Hauch und sein Basta. Es sei in diesem Zusammenhange nicht verkannt, daß die Absischt, das Wort durch eine Abdestillation seines flüchtigen Sinns dingfest zu machen, nicht einer gewissen theoretischen Zielstrebigkeit entbehrt — es ist aber gar keine Frage, daß die materielle Wertigkeit des Wortes nur außerordentlich gering veranschlagt werden kann. Das Prinzip Reduktion führt zu Schwundstufen des Literarischen, die nichts als die Krankheitssymptome auf ihrer Seite haben und überhaupt nur durch ihre Mängel ins Auge fallen. Eine Reinzüchtung ästhetischer Teilqualitäten strebt über Karg- und Kümmerformen unaufhaltsam auf die bilderlose Malerei, die lautlose Wortkunst zu, kurz, auf das blanke Blatt Papier, in dem ja junge Leute hin und wieder eine originelle Kundgabe des schöpferischen Offenbarungseides sehen. Was ist da zu raten? Sicher nicht das Abstehen von der intellektuellen Produktion oder Koproduktion überhaupt — wir leben nun einmal nicht mehr in jenem Arkadien, wo dem Dichter die Formulierungen wie gebratene Tauben in den Mund fliegen — wohl aber, daß er das in aller Mund geschundene Wort synthetisch zu regenieren trachte, daß er Aug in Aug mit der Wirklichkeit experimentier; daß er bastardisiere, mische, kreuze, Reibetöne und Interferenzen erzeuge, daß er auf die Relationalität der Sprache setze, Relationalität in des Wortes wachligster Bedeutung! Hier die Sprache, dort die Welt, das will doch immer wieder als Bruch erfahren sein, als ständige Unsicherheit akzeptiert, als Problem der Schreibweise vorausgesetzt werden, und erst nach und nicht neben der Dissoziationen beginnt die Lösung des Gedichtes. Eine Lösung, die sicher nicht in Stutzformen und herkömmlichen Harmonien besteht, sondern in der Stiftung ganz neuer Balanceakte: statt des goldenen Schnitts der goldene Bruch! Das könnte dann so aussehen, daß just die höchste Verstiegenheit zur Unschuld des Singens zurückfindet; daß ein Verlust, über die hohe Kante gebrochen, in den reichsten Farben blinkert und irisiert; daß sich eine Vereinsamung munter und gesellig gibt; daß etwas aus dem Schmerz kommt und vielleicht allen Ernst vermissen läßt. Kunst, so würde es hier heißen, hat einen ihr eigenen Fortschritt, und der liegt sicher nicht im Abseits und unter der Käseglocke, sondern dort, wo die Spannungen geschürt und die Skrupel gefördert werden — immer in der Hoffnung, daß da ein Weg führe über das Bewußtsein und über das Experiment zu einer transmechanischen Grazie und einer zweiten Einfalt. Peter Rühmkorf Auszug aus: Selbstredend und selbstreimend. Gedichte — Gedanken — Lichtblicke, Auswahl und Nachwort von Peter Bekes, Philipp Reclam jun. Stuttgart 1987, S. 80 – 81; Original in: Akzente, 8. Jhg. 1961, S. 36 – 38. Mit freundlicher Genehmigung von Peter Rühmkorf für Laubacher Feuilleton 2.1992, S. 10
Willkür — des Willens Kür Showdown am Flughafen Casablanca, Bogie erschießt den Bösewicht, leistet im weltpolitischen Interesse Verzicht auf seine Dulcinea, ein Polizeipräfekt läßt ‹die üblichen Verdächtigen verhaften›, und das ist dann auch noch der Beginn einer wunderbaren Freundschaft ... Gute Willkür bei allen Beteiligten, aber wohl eine Szene kaum aus dem Leben, wo sonst Polizisten gummiknüppelnd Dienst tun samt ihren Vor- und Vorvorgesetzten, Potentaten mit Willen zur Macht allemal. Unerschöpflich aber, ausufernd scheint der Katalog weitestmöglicher Willkürphänomene: eine Frau scheitert an der Nominierung zum Außenminister (zu kleine Ohren), ein Mann scheitert am Frauenparkplatz (Bukowski), Rohigkeit, Frivolität, Zwischenbeinliches gar, Begehrlichkeiten einer (Text-)Glieder losenden Liebe (ja!), die menschliche Intermittenz im Chaos (universell), der Torschrei auf den Lippen des Erfinder-Täters (Heureka), der Zufall, immer noch dem helfend, der sich seiner bedient (corriger la fortune), grüner Punkt und blauer Umweltengel auf rezyclierten und sinnentsorgten politischen Reden (Adenauers Enkel), Prometheus, den Göttern das Feuer klauend und daraus noch den ästhetischen Funken schlagend (peng), Nietzsche, Lüge wie Wahrheit im außermoralischen Sinne betrachtend und letztere kurzerhand zu einem beweglichen Heer von Metaphern, Metonymien und Anthropomorphismen erklärend (1 Hammer!), der Würfelwurf auf den Grund der Dinge tauchender Dichter nach dem Absoluten (Wurzel aus einer Minuszahl) ... Kapriolen, die die Willkür geistiger Ordnungen schlägt, mag ein Zitat von Borges illustrieren, der wiederum nach einer chinesischen Enzyklopädie die Einteilung des Tierreiches zitiert: «a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.» Dem nun doch verstörten Ordnungshüter fällt dann noch ein altes Hausrezept ein: das Wörterbuch der Gebrüder Grimm, sprachmusealen Wilderern, die sich von Wörtern zuschneien ließen und sie dann samt ihrer Verwendung alphabetisch ordneten (digitale Willkür!). Unter unserem Stichwort verzeichnen sie einen erst im neueren Gebrauch ‹tadelnden› Sinn von Willkür, zu unterscheiden von der sonst eher ‹nichttadelnden› oder gar ‹lobenden› Verwendung: «die grundbedeutung ist freie wahl oder entschlieszung» und mit dem Hauptgewicht zu solchem «handeln», nämlich als «wahlfähigkeit». Auch ‹willküren› oder das Substantiv ‹willkürer› sind belegt — ein Schiedsrichter, aber auch ein Eklektiker kann damit bezeichnet werden, der wiederum ein treffendes Bild abgibt für den Autor von Essays wie für deren Arrangeur. Essays wie auch deren Komposition in der feuilletonistischen Spielwiese sind Mischprodukte, die jedem Purismus die Nase drehen, sind Dokumente von Beweglichkeit, die gegen jede repressive Ordnung aufsteht: laut Adorno läßt der Essay sich sein Ressort nicht vorschreiben, sind ihm Glück und Spiel wesentlich, sind weder «seine Begriffe von einem ersten her konstruiert noch runden sie sich zu einem Letzten». Wenn jetzt noch eine Kurzdidaxe folgt, zwischen Chancen und Risiken räsonnierend, dann zur Rechtfertigung des Feuilletons: Brüche dort zu belassen, wo sie sind, keinen harmonischen Organismus zu bauen, der Sinntotales verspricht und dem Leser das Denken abnimmt, sondern zerstückelnd zu arbeiten und des «Willens Kür» (Goethe) von Ideen tranparent zu machen, macht heute noch einen guten Willen zum Schreiben aus. Kein Ende des vielen Essaymachens und der Textbegehrlichkeiten! Denn immer könnte alles doch noch anders sein. Ralph Köhnen Laubacher Feuilleton 2.1992, Editorial, S. 1
Dreistein Ein Feuilleton-Feuilleton Dreispalter, Vierspalter. Fünf Spalten und eine Illustration. Freilich nehmen wir auch die ganze Seite. Denn die Schlagzeilen, jene aufreißerisch verdichteten Schlagseiten, muten glaubwürdiger an, wenn wir ihnen dort, wo die Basis zittert und flattert, etwa im Blockabsatz kurdischer oder schiitischer Minoritäten, ein paar Cicero mehr einräumen. Andererseits: Ob Welt- oder Geldpolitik, ob Hussein oder Husten, ob profan oder sakral — Qualität kommt nicht von ungefähr, jedenfalls kommt sie vor Quantität. So mag die Nachrichten-Situation verführerisch duften oder penetrant riechen, ganz nach Lage der Dinge und Stand der Personen, wir wollen beharrlich kommentieren, was Alltag und Allnacht bescheren. Dabei stolpern wir, die Feuilletonisten, immer wieder in die Grauzonen, fernab jeglicher Dialektik. Denn die Kunst der wissenschaftlichen Gesprächsführung und das Denken in Gegensatzbegriffen hat uns, schon vor fünfundzwanzig Jahren, der Endspieler Theodor W. Adorno genommen, rigoros und aussichtslos, versteht sich. Unvergessen seine Klage, die damals, im Jahr 1967, den ersten Achtundsechzigern anti-etablish-halb-nihilistischen Rückenwind spendierte: «In der zeitgenössischen Kunst», mäkelte Adorno, «zeichnet sich ein Absterben der Alternative von Heiterkeit und Ernst, von Tragik und Komik, beinahe von Leben und Tod ab.» Derlei Schwarzmalerei, grundiert mit Leinöl aus dem Hause Beckett («Lachen über die Lächerlicherlichkeit des Lachens»), steht im Widerspruch zur Pop art oder zum Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch. Oder doch nicht? Alles eine Frage der Interpretation? Also Sprache? Die, so wußte ein anderer Vor- und Nachdenker der Nation, versagt bisweilen: Wenn's um Bach oder Schubert ging, dann verkündete Einstein, mit der Geige unterm Arm, die große Leidenschaft: «Musizieren, Lieben - und Maulhalten!» Das Maul halten — Respekt vor der Note, Skepsis in Sachen Wort. Einstein, Zweistein, Dreistein; Einspalter, Zweispalter, Dreispalter — oder mehr? Ja, die ganze Seite, die ganze Lust! Und dabei, aus dem Niederländischen, wieder eine Erinnerung: «Lust lokt lust», Lust macht Lust! Kraftfutter für schwindsüchtige Frontberichterstatter und für ihre wohlgemuten Gegenspieler aus dem Krisenlager westlicher Wohlstandsentsorgung. Butterberge und Bilderberge, Mozartkugeln im Dutzend, zwischendurch eine Stasiakte oder einen Leninkopf ohne Körper; am liebsten — das haben wir von aspekte gelernt — eine grellgrüne Nacht, halb Bürgerkrieg in Kambodscha, halb Sylvesterfeuerwerk in Dingskirchen. Außerdem: Resteverwertung Angola — nach 15 Jahren, der Untergang in Kroatien, der Widerstand in der Sowjetunion. Ereignisse, die nichts, gar nichts mit Unterhaltung zu tun haben, die dennoch den Feuilletonisten rufen. Nur er hat, in Zeiten überall aufflammender Unfreiheit, die Chance zum freien, unbekümmerten Blick, zum Urteil zwischen allen Disziplinen und Fraktionen. Freilich begibt er sich dabei ins Risiko: Allzu schnell kann er nämlich ins Niemandsland der Maulhelden geraten, wo alles versprochen und nichts gehalten wird. Doch angesichts der großartigen Möglichkeit, zwischen Lust und Last (Adorno zum Trotz) neues Terrain zu erobern, ist das Risiko des Scheiterns gering. Und wenn wir dorthin schauen, wo Hermanns Prinzendorfer Schlachtfeld längst blutige Realität geworden ist, dann können wir ohnehin nur beschämt aufs blütenweiße Manuskriptpapier blinzeln — und unsere Berufung in Frage stellen. Motto: Wem die Stunde schlägt. Just dieser Hemingway, dieser Einstein der Kriegsberichterstattung, tröstet den frustrierten Feuilletonisten: «Mich tröstet man nicht. Verstehen Sie? Nein, mich nicht. Mich nie mehr.» Hoffnung? Hoffnung auf kollektives Überleben? Schön wär's. Karlheinz Schmid Laubacher Feuilleton 1.1992, Editorial, S. 1
Frühnostalgie Damals! Damals! Damals in den 70er Jahren, als alles so frei war, in der grauen Vorzeit der 60er Jahre, der wunderbaren Welt der 50er Jahre, in den 40er Jahren, in denen ein Mann ein Mann, ein Schuß ein Schuß und eine Kugel Zyklon B 1000 Menschen waren, in den 30er Jahren, in denen alles schon nicht mehr so war, wie es einmal war, in den 20er Jahren, als der Alkohol prohibitierte, Tee Marihuana war, das Opium langsam in die Pfeife tropfte, Quecksilber die Syphilis auch nicht heilte, in den 10er Jahren, in denen das Journal des Luxus und der Moden ganze Adelsstämme in genußsüchtige Bourgeois' verwandelte, die Psychoanalyse mysteriös war, der Qualm der Dampflokomotive die Gesichter rußte, Cézanne schon tot war, Rilke noch lebte. Damals war alles anders! Was wie Elogen einer hoffnungslos überalterten, vergreisten Stammtischrunde klingt, ist die schonungslos offene Piedestalisierung der Väter- und Großvätergeneration, in der Hoffnung, ein Hauch sinnlicher Freude, haptischer Erregung streife das technoid-sinnentleerte Hirn des Frühnostalgikers. Der Frühnostalgiker zündelt nicht am Zunder des Fortschritts. Das kann der Computer besser, er ist in jedem Kaufhaus als Programm zu kaufen; deshalb banal es auch den Terminator treibt: vom 21. Jahrhundert zurück in die Gegenwart/Vorvergangenheit — er gibt sich hemmungslos dem Forschergeist hin; er forscht nach den Strukturen einer Draußen vor der Tür-liegenden unvollendeten Vergangenheit, hebt mit seiner ganzen Macht und Lust die aufs Podest, die einst mit Gewalt und Kraft alle vom Sockel gestoßen, Zöpfe abgeschnitten, die alten Säcke verscheucht haben. Der Frühnostalgiker ist ein Rächer der Verderbten! Er fährt nach Wien, schaut sich im Kino sämtliche Folgen von Raumschiff Orion an, suhlt sich im Erstaunen darüber, was da schon möglich war, ergötzt sich an Eva Pflugs Frisur. Er fährt nach Paris auf den vagen Spuren intellektueller Erneuerer, die abgeschieden in Chambres de Bonnes in ihrer Vergangenheit dahinvegetieren oder nichts mehr von ihr wissen wollen. In Kunstausstellungen wird er den Bezug zu lebenden, aber vergessenen Äquivalenten suchen, denn ach (!) heute werden ja alle so alt und stehen so lange noch in Saft und Leben. Und sie waren gut, die Alten, wahre Künstler, die kompromißlos ihrer Zeit enteilten, um von Mode, Geld und Markt überrannt zu werden. Der Frühnostalgiker ist Rächer der Gerechten! Der Frühnostalgiker zollt der Langlebigkeit Tribut, er will keine guten Künstler, weil tote Künstler. Lebend und live sollen sie erzählen, zeigen, vorführen, wie es damals war. Der Frühnostalgiker kennt Alte nur als vegetierende Masse in U-Bahn und Altersheim und weiß, daß es das alles nicht gewesen sein kann. Wer wie Wim Wenders 1991 einen Film dreht, der 1999 spielt, der ist alt und hoffnungslos aus der Mode! Anne Maier Die Autorin, Jahrgang 1955, war Schauspielerin, Journalistin, ist Pressereferentin in Berlin. Laubacher Feuilleton 1.1992, S. 5
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