Seid umschlungen, ihr Massen Zum hundertsten Todestage Beethovens 1927 Er war kein Komponist des Proletariats, und doch gehört seine Musik uns, der aufsteigenden Arbeiterklasse, nicht aber der Bourgeoisie. Beethoven lebte zu einer Zeit, wo erst die bürgerliche Revolution, nicht die proletarische, zu vollbringen war. Aber den gewaltigen Schwung der großen Französischen Revolution, das Dröhnen «Ça ira» des Revolutionsliedes der Pariser Sansculotten, den siegreichen Vormarsch der französischen Revolutionsarmeen gegen die vereinigten Mächte der europäisch-monarchischen Reaktion — den Schwung der jungen, starken, zuversichtlichen Revolution, den hat dieser Ludwig van Beethoven gekannt, verstanden, begrüßt und in Töne eingefangen. Beethoven stammt aus dem Westen Deutschlands, aus Bonn, vom Rhein. Fern von dem öden rohen Druck des verfaulenden preußischen Feudalismus, fern ab von dem mittelalterlichen kleinstaatlichen Stumpfsinn Mitteldeutschlands, nicht unter dem Joch der habsburgischen korrupten und erzreaktionären Beamten, lagen die Rheinlande unmittelbar an den Grenzen jenes Frankreichs, das damals das Herz Europas, das Herz der zivilisierten Völker wurde: das Frankreich der großen Revolution. Beethoven wurde im Jahre 1770 geboren. Sein Jünglingsalter fiel in die Zeit der Revolutionskämpfe. Welche Wirkung diese auf die Menschen ausübten, die eine ganze Generation später geboren wurden, aber doch in jenen von der Revolution befruchteten Rheinlanden ihr Nachzittern spürten, das sieht man so gut aus des jungen Heines Buch Le Grand. Hier tönt noch durch die laute Verherrlichung Napoleons die Revolutionshymne, die Marseillaise. Für den jungen Heine war Napoleon der General der Revolution. Für den reifen, im besten Mannesalter stehenden Beethoven war der Kaiser Napoleon der Verräter der Revolution. Es ist nicht nur von anekdotischem Wert, es ist viel mehr von tiefer Bedeutung für den Menschen und den Künstler Beethoven, daß er wütend die Widmung seiner Dritten Sinfonie zerriß, als er erfuhr, daß der Konsul Napoleon sich zum Kaiser gemacht hatte. Sie war gewidmet dem Konsul Bonaparte, dem General der siegreichen Revolution, dem siegreichen Feind des reaktionären Österreich. Sie hieß: die Heldensinfonie Eroica, und sie behielt diesen Namen auch, nachdem der Verfasser den Helden Napoleon ausgestrichen hatte. Ein Held war ihm Napoleon nicht als Feldherr schlechtweg, sondern als Feldherr der Revolution, als Führer des Krieges gegen jenes selbe Österreich, in dessen Hauptstadt Beethoven lebte. So war dieser Mann. Wenn er auch mit den kunstsinnigen Adeligen und Würdenträgern und der habsburgischen Monarchie äußerlich auf gutem Fuß zu leben schien, so scheute er sich doch nicht im geringsten, mitten im Kriege dem Todfeind dieser Monarchie sein neuestes Werk zu widmen, und er zog ebenso entschlossen die Widmung zurück, als sein Held ein Held der neuen Monarchie, ein Held auf eigene Faust, ein Held der Konterrevolution wurde. Die Eroica aber blieb das Werk eines Mannes, der immer wieder den Kampf und Sieg über Mächte der Finsternis besang. So sah der Mann aus, von dem die Spießbürger behaupten, daß sie ihn lieben. Unähnlich in jedem Zug einem anderen angeblichen Liebling der Spießbürger, dem Herrn Geheimrat Goethe, der in albernen Possen die große Revolution zu begreifen suchte, der dem Kaiser devot seine untertänigste Ergebenheit zu Füßen legte, der ein Fürstenknecht war und nie begriff, daß jene armseligen Despoten «von Gottes Gnaden», vor denen er tiefe Bücklinge machte, nicht wert waren, einem Manne von Geist auch nur die Schuhe zu putzen. Es ist wieder nicht nur von anekdotischem Wert zu wissen, daß Beethoven einst in Karlsbad mit Goethe promenierte und diesen, der vor irgendwelchen Fürstlichkeiten auf der Promenade lakaienhaft dienerte, zurechtwies mit der Bemerkung, daß nicht jene Tröpfe «Fürsten» seien, sondern die, welche etwas geleistet haben. Hut ab, ein ganzer Mann! So sah dieser Mann aus. Trotzig und unabhängig, verschlossen und stark, und doch nicht in sich eingekapselt und auf sich gestellt. Des reifen, noch jungen Beethovens Dritte Sinfonie verherrlicht den Helden der Revolution. Das Motto seiner letzten Sinfonie aber, der Neunten, des großen Werkes des Mannes an der Schwelle des Greisenalters, des tauben, äußerlich scheinbar ganz auf sich allein angewiesenen Komponisten ist: «Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt.» Die Neunte Sinfonie endet mit dem Schillerschen Hymnus an die Freude, und Freude mußte man im Zeitalter der Reaktion sagen, wenn man Freiheit meinte. Stark, siegesgewiß, jubelnd, zuversichtlich klingt dieses größte Werk Beethovens sinfonisch aus. Wir können mit vollem Recht sagen, daß seine Musik auch heute, hundert Jahre nach seinem Tode, dem Proletariat nahegeht, ihm Energien zuführen kann. Seine Musik ist männlich, auch dort, wo sie innig und weich ist, niemals zerfließend, formlos, dekadent. Fest gerundet, klar gegliedert sind seine musikalischen Gedanken. Oft, sehr oft verblüfft die große Einfachheit dieser Gedanken. Oft sind sie einem Volkslied entlehnt oder nähern sich in Rhythmus, Melodie und Form einem Volkslied. Und wo seine Form kompliziert, wo sie kunstreich wird, wo sich Eigentümlichkeiten zeigen, die manche romantisch nennen möchten, gerade da behält seine Musik trotz allem feste, zackige Konturen und drückt gerade dann zumeist (wie beispielsweise in der großen Fuge einer seiner letzten Klaviersonaten) starken, vorwärtsweisenden Willen aus. Aus der großen Anzahl seiner Werke heben sich drei Gruppen heraus. Er schrieb Werke für das Klavier allein, Kammermusikwerke, insbesondere Streichquartette, und Orchesterwerke. Außerdem schrieb er eine Oper Fidelio. Diese Oper ist wohl für die Zeit ihrer Entstehung wie auch heute noch ein ungewöhnliches Werk. Die Kunstgattung der Oper war von je auf höfischen Prunk und Schaugepränge gerichtet, oder aber sie behandelte irgendwelche belanglosen Liebesintrigen. Man hat oft den Fidelio das Hohelied der Gattenliebe genannt. Mit einer solchen Bezeichnung trifft man jedoch nur eine Seite des Inhalts. Die andere zeigt uns den Kampf gegen Tyrannei und Despotenwillkür, und das ist der eigentliche Inhalt dieser einzigen Oper Beethovens. Von seinen [Kammer-]Musikwerken ist den Arbeitern wenig bekannt, da die Kammermusik unrichtigerweise als eine «aristokratische» Kunstgattung betrachtet wird. Wenn erst die Kammermusikvereinigungen, und zwar die besten, sich der Aufgabe unterzogen haben werden, die Streichquartette Beethovens den Arbeitern vorzuspielen, wird sich sehr bald herausstellen, daß diese von den Arbeitern verstanden werden. Das gleiche kann man von seinen zahlreichen Klavierwerken sagen, die nur ohne Virtuosenmätzchen, aber mit vollkommener Beherrschung der Technik vorgetragen zu werden brauchen, um auf jeden musikalischen Hörer einen tiefen Eindruck zu machen. Von seinen Orchesterwerken wird von den Arbeitern das größte, die Neunte Sinfonie, vielleicht am ehesten verständlich empfunden werden. Hier tritt nach drei großen rein orchestralen Teilen im Schlußsatz ein großer Chor hinzu, gleichsam als ob der Komponist seine Empfindungen und Gedanken hätte unter allen Umständen in greifbare Worte kleiden wollen. Und wenn dieser gewaltige Hymnus an die Freude aufbraust, sich steigert und jubelnd ausklingt, dann kann und muß jeder klassenbewußte Arbeiter, mit Kraft und Zuversicht erfüllt, sich sagen können, diese Töne, die schon jetzt uns, den noch kämpfenden Arbeitern, Energien zuführen, werden erst recht uns gehören, wenn wir über die jetzt herrschende Klasse gesiegt haben werden und den Millionen Massen der bis dahin Unterdrückten mit dem Triumphgesang Beethovens zujauchzen werden: «Seid umschlungen, Millionen!» Hanns Eisler Laubacher Feuilleton 1.1992, S. 5 Aus: Materialien zu einer Dialektik der Musik Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1976, S. 33 - 36
Musikstadt München Zensur durch Tot-Schweigen. Ein exemplarischer Fall. Nachfolgender Leserbrief, den der Münchner Autor, Komponist und Kunsthistoriker Cornelius Hirsch im Dezember 1993 an die Feuilleton-Redaktion der Süddeutschen Zeitung sandte, scheint uns als exemplarisch für die vielfache Ignoranz der Tageszeitungen. Da eine solche Nichtbeachtung unserer Meinung nach eine Variante von Zensur ist, drucken wir diesen Brief von Cornelius Hirsch hier (leicht gekürzt) ab. An die Feuilletonisten der SZ! Schon wieder bin ich durch ihre Zeitung totgeschwiegen worden. Zum dritten Mal ist die Uraufführung eines meiner größeren Stücke nicht erwähnt, geschweige denn besprochen worden, obwohl ein Kritiker anwesend war. Ich könnte nun meinerseits dazu schweigen, mich in Stille ärgern, doch will ich es Sie persönlich wissen lassen, wie schlimm das dauernde Geschnittenwerden durch die Presse meiner Heimatstadt empfinde: Die Anerkennung durch nur eine Person (Josef Anton Riedl) in einer Stadt vom kulturellen Kaliber Münchens sichert das Überleben eines Künstlers nicht. Auch wenn mir Riedl im Rahmen seiner Reihen ‹NEUE MUSIK München› und ‹Klangaktionen› seit nunmehr über vier Jahren immer wieder Gelegenheit gibt, meine neuesten Stücke erstmals zu präsentieren, erfährt die Öffentlichkeit nichts vom Münchner Komponisten Cornelius Hirsch, da seit meiner — wie ich glaube berechtigten — Beschwerde über eine unzulängliche Kritik (u. a. auch meines Stückes ‹Verhältnisse einer Truhe›) in Ihrer Zeitung keines meiner von J. A. Riedl in den genannten Reihen gebrachten Stücke besprochen worden ist. — Nicht weniger als elf Stücke von mir wurden in den letzten paar Jahren in München uraufgeführt — und nur drei einer Besprechung wert gefunden. Daß dies an den Stücken liegt, halte ich für unwahrscheinlich, bedenke ich Artikel über in anderen Städten aufgeführte Werke (Bonn, Kiel, Hof, Köln, Amsterdam, Aix en Provence, Berlin oder Frankfurt am Main) und die positiven Publikumsreaktionen — auch in München. Die Konsequenz: Als Künstler kann ich in München nicht die notwendige Anerkennung der öffentlichen Medien finden. Ihre Haltung mir gegenüber ist geschäftsschädigend. (Ich konnte z. B. in meine Pressemappe keine Berichte wichtiger Uraufführungen neuerer Stücke eingliedern.) Also werde ich in München nur noch Zweitaufführungen plazieren können, was mich als hier geborener, aufgewachsener und ausgebildeter Künstler zwar schmerzt, doch unvermeidbar ist, will ich meine Arbeit öffentlich beachtet sehen. Ein schwacher Trost ist es für mich, daß die Stadt mit Bedeutenderen als mir auch schon borniert und ignorant umgegangen ist, was man im Fall von Mozart, Reger und Orff heute allerdings nicht mehr wissen will. Traurig ist es, nach jahrelanger Erfahrung mit den Münchner Medien feststellen zu müssen, daß ihnen die Vernissage einer Kulturwerkstatt in Hinterdupfing und die Aufführung eines Blockflöten- oder Akkordeonkreises am Biedermann-Gymnasium wichtiger ist als die Besprechnung lebendiger und freier Musikexperimente oder historischer Erstaufführungen durch teilweise international anerkannte Interpreten. Sollte es wirklich stimmen (was man ja nicht gerne glauben will), daß das Feuilleton denjenigen bevorzugt, der am ausdauerndsten Klinken putzt, zu Sekt einlädt oder die Industrie im Rücken hat? Oft erfährt man ja, warum der eine oder andere Name Erwähnung findet und der andere nicht ... Wer nur ein Hundertstel von Celibidaches Gage pro Abend bekommt und dennoch weiter professionell arbeitet, wird von den Medien höchstens mitleidig belächelt. Wer Ungewöhnlicheres und Subtileres als einen lautsprecherverstärkten Bolero am Königsplatz bietet, verdient eben auch weder fünf- bis sechsstellige Summen noch die Wertschätzung einer total eingedummten Kulturbenutzermasse, der nichts besseres mehr einfällt, als in ohnmächtiger Anbetungsgeste vor ihren Königen zu erstarren. Für eine solche Öffentlichkeit werde ich nicht schreiben! Für wen Sie schreiben, haben Sie selbst zu entscheiden. Ihre Entscheidung wird zeigen, ob das Feuilleton der SZ tatsächlich in der Lage ist, über den Horizont eines ‹Rondo Veneziano› hinauszudenken. Ob die SZ-Redaktion sich des konzeptionslosen Fast-Food-Journalismus' entledigen will und kann, den sie sich seit einigen Jahren in Annäherung an die übrigen Münchner Blätter erlauben zu können glaubt? Fatal, daß sie seine Folgen nicht zu ahnen scheint. Laubacher Feuilleton 12.1994, S. 4
Poesie der Musik Unter allen morgenländischen Völkern übertrafen die Juden in der Tonkunst die übrigen weit. Sowohl in der Vokal- als Instrumentalmusik hatten sie sehr frühe schon große Meister oder, wie sie selbige nannten: Menatzeachs aufzuweisen, die wir in unserer Sprache Virtuosen nennen würden. Und wenn die Dichtkunst eines Volkes mit der Tonkunst immer gleichen Gang zu halten pflegt, so läßt sich schon daraus unwiderlegbar schließen, zu welcher Höhe die Musik bei den Juden gestiegen sein müsse. — Lowth (De sacra poesi Hebraeorum)* hat zwar vieles von hebräischer Poesie gesagt, aber bei weitem nicht den tausendsten Teil, den der Kenner empfindet. In allen Gattungen der Dichtkunst waren die Hebräer Meister; da aber hier nur die lyrische in Betracht kommen kann, so läßt sich auch schon aus dieser auf die Vollkommenheit der hebräischen Musik schließen. Wenn die Lieder, die in der Bibel stehen, ebenso vortrefflich in Musik gesetzt worden sind, wer kann ihnen heute noch etwas Vortrefflicheres entgegensetzen? Das Lied Mosis in der Wüste wurde gesungen und mit damaligen Instrumenten begleitet. Staunen würde vielleicht die Welt, wenn wir die Musik desselben mit seiner harmonischen Behandlung wüßten, so wie jeder Gefühlvolle über das Lied selbst staunt. Zur Zeit der Richter kam die Musik bei den Hebräern in Abnahme; hohen Schwung aber erhielt sie unter David und Salomon wieder. Die Zaubereien der Davidschen Harfe, die mancher Schwachkopf verspottet, sind jedem leicht erklärlich, der den Zauber der Verbindung zwischen Dichtkunst und Musik genau kennt. Ganz gewiß deklamierte David vor Saul große, herzeinschneidende Nationalbegebenheiten und begleitete sie mit einfachen Akkorden seiner Harfe. Nur daraus läßt sich die große Wirkung einigermaßen begreiflich machen, die einen rasenden Saul entfesseln konnte. Unstreitig war David eben darum einer der größten Musiker, weil er die Zaubereien der Musik mit der Dichtkunst zu verbinden wußte. Doch erklomm erst zu Salomos Zeiten die hebräische Musik ihr Akme. Bei der Einweihung seines Tempels hatte er achttausend Sänger und zwölftausend Instrumentalisten; und der Geist dieses großen Monarchen ist uns Bürge, daß die Musik seinen übrigen Geschmack nicht verleugnet haben werde. Um uns einigermaßen einen Begriff davon zu machen, müssen wir uns den jetzigen Choralgesang vorstellen, so wie er von der Orgel, der schneidenden Zinke und dem Posaunenhall begleitet wird. [...] Auch scheint es mir aus verschiedenen Gründen höchst wahrscheinlich, daß die hebräische Poesie mehr musikalische Poesie als eigener Gesang war. Das Instrument begleitete den Deklamator, der natürlich ganz vortrefflich sein mußte und alle Nuancen und Schattierungen auszudrücken vermochte — entweder mit kurzen Stößen oder ganzen musikalischen Sätzen, die den Geist der Dichtkunst dolmetschten. Jedes Komma, ganzes oder halbes Glied, jedes Zeichen der Bewunderung, die Ausrufung, die Frage, jeder Punkt wurde durch das begleitende Instrument ausgedrückt. Man kann noch heute an unsern guten, für die musikalische Deklamation gemachten Stücken die außerordentliche Wirkung der hebräischen Musik aufs deutlichste erkennen. Doch muß man auch hier aus Prädilektion für die Poesie nicht zu weit gehen und allen ausgeführten Gesang verwerfen wollen; denn der Gesang oder die Musik überhaupt kann Empfindungen und Idee nach ihrer Art ausführen, die der Dichtkunst unmöglich sind. Daß die Hebräer auch solchen ausführlichen Gesang gehabt haben müssen, ist mehr als aus einer Stelle der Heiligen Schrift klar. Ihre vortrefflichen Wechselchöre, wie z. B. der Psalm: «Danket dem Herrn, denn er ist freundlich» und der meisterhafte Psalm: «Machet die Tore weit und die Türen der Welt hoch, daß der König der Ehre einziehe», die einen abwechselnden und ausgeführten Gesang voraussetzen, ihr durch viele Takte durchgedehntes Halleluja, ihr Sela, welches gewiß nichts anders als eine musikalische Pause ist, worauf ein anderer Chor begann, ihre schon oben erwähnten Menatzeachs in allen schon damals bekannten Instrumenten, der hohe Flug ihrer Einbildungskraft und der volle Strom ihrer Empfindungen — erweisen dies zur Genüge. Christian Friedrich Daniel Schubart * Herder in seinem «Geist der hebräischen Poesie» hat weit mehr gesagt als Lowth und die Forderungen des Verfassers größtenteils erschöpft (der Hrsg., L. S.) Laubacher Feuilleton 5.1993, S. 10 Aus: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, Hrsg. Jürgen Mainka, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1977, S, 39 – 40 und 42 – 43; hrsg. von Ludwig Schubart, Wien, bei J. V. Degen, Buchdrucker und Buchhändler, Wien, 1806
Merci Ferré!* Jeder von uns schuldet Ferré etwas. Wir schulden ihm, der die Einsamkeit besungen hat, daß wir diese Einsamkeit an einem Abend jugendlicher Verzweiflung in einer Provinzstadt durchbrochen haben; wir schulden ihm, daß ein Hauch lebendiger Auflehnung durch die Schlafstube der Kaserne zog oder einst durch den Djebel (die Bergkette; Anm. der Übersetzerin) Algeriens. Er hat das Schweigen der Konformisten durchbrochen, im Radio oder in der Teppaz** Er hat allen, die sich in ihm wiederzuerkennen glaubten, einen Streifzug Hoffnung am Horizont gezeigt; einen Streifen, den er selbst geschaffen hat. Wir verdanken ihm Aragon, Baudelaire, Rimbaud und den bedauernswerten Rutebeuf, dessen Gesicht wir bis heute nicht kennen — sicher mehr als allen Lehrern in der Schule. Wir verdanken ihm L'Affiche Rouge, den anderen Aragon. Er hat uns den Musette-Walzer gegeben, die Fröhlichkeit, den Tango, als die Linke nichts galt. Er hat den Mund aufgemacht und kein Blatt vor den Mund genommen, als das Fernsehen schwarz-weiß und die Stimme seines Herrn war und der Herr de Gaulle hieß. Wir verdanken ihm die Anarchie, die schöne, wahre, und nicht die, die, eine Bombe in der Hand und den Terrorismus auf den Lippen, Bakunin oder Stirner nicht richtig gelesen hatte. Und noch weniger den Anarchismus der Rechten, dieses faszinierende Öbszöne, von dem unser Freund Pascal Ory gesprochen hatte. Die Anarchie, die wahre, seine, ist eine mythische Haltung. Merci Ferré. Georges-Marc Benamou * Ein Dankeschön des Chefredakteurs der Pariser Zeitschrift Globe Hebdo (N° 24, 21. – 27.07.1993, Seite 2) an Léo Ferrè, der am 14. Juli — dem französischen Nationalfeiertag — 1993 gestorben ist. ** Anm. der Übersetzerin Anne Maier: Teppaz = Jukebox; das ist ein in den sechziger Jahren in Frankreich bekannter Markenname für eine Musikbox, ähnlich unserer deutsch-österreichisch-schweizerisch-et-cetera Wurlitzer. (Woraus unsere österreichischen Freundinnen und Freunde vom ORF ein komplettes sogenanntes Erwachsenen- und Kinder-Fern-(Zu-)Seher-Programm gemacht haben; Anm. der Red.) Laubacher Feuilleton 7.1993, S. 15 je suis un chien stammt von jolimatin
Thank you Ferré Einen fulminanteren Abgang konnte es nicht inszenieren, das französische Chanson-Heiligtum Léo Ferré: pünktlich zum 14. Juli (1993) — dem französischen Nationalfeiertag. TF 3 brachte (ich hatte lediglich, wie üblich, den Hotelfernseher auf seine Funktionstüchtigkeit hin überprüfen wollen) einen lange Nacht mit ihm — und mich in tiefe Trauer um ihn. Ich lieb(t)e seine dramatischen Musik-Inszenierungen (die man hier vermutlich als schwülstig bezeichnet), beispielsweise sein Muß es sein, es muß sein, dem diese unnachahmliche Beethovensche Coriolan-Ouverture mit einem nahezu sakral-bombastischen Klangkörper folgte. Grandios sein La Chanson du Mail-Aimé, dieses lange Gedicht von Guillaume Apollinaire, diese herausragende Aragon-Vertonung, sein nahezu sinistres Et ... Basta! Ich lieb(t)e sein melancholisches, ja zärtliches Je te donne; nicht wiederholbar sein La folie, seine Einsamkeit in La Solitude oder dieses Danach in Avec le Temps, unvergleichlich seine Hymne an Marseille in La violence et ennui. Unnachahmlich? Fürwahr. Ferré ist und bleibt Ferré. Es gibt einige, die ihn verstanden haben, wie die verschiedenen Interpreten des legendären Konzertes der Francofollies in La Rochelle 1987, das 1988 auf CD erschien. Aber es waren doch nur Sängerinnen und Sänger, die nach Ferré auftraten und Ferré wiedergaben: Sie mußten am Chanson-Großmeister scheitern, der bereits vor ihren Auftritten seine vier Züge gemacht hatte. Allerdings übermannte mich vor einiger (langer) Zeit eine Dame — Ann Gaytan (auch sie, wie einst Jacques Brel, aus Belgien nach Paris gekommen). Ihr Dankeschön an Léo Ferré mit dem (typisch französischen) Titel Thank you Ferré, ein Jahr nach seinem Tod erschienen, ist ein Hörerlebnis, das tief in den Seelen-Furchen sitzt, die dieser Übervater des 70er, 80er und auch 90er Jahre-Chansons in mich gegraben hat. Möglicherweise hätte sie sich zu Ferrés Lebzeiten diese Eigenständigkeit nicht herausgenommen (wenn Gaytan auch bereits mit Ferré zusammengearbeitet hatte)?! Denn sie singt die zwölf Ferré-Titel derart «befreit» (von der Last des Meisters?), daß einem der Solitude-Himmel ins Hirn zu fallen droht. Sie spannt die Ferréschen Solitaire ein und gibt ihnen einen völlig neuen Schliff, einen, durch dessen Flächen das schwarze Licht der Lebensqual über gravierende musikalische Verzerrungen reflektiert wird. Dann greift sie im 13. Stück kompositorisch seine Musik auf, um ihre poetische Hommàge hineinzubetten. Und schließlich dieser A-capella-Gesang La chanson triste, diese Hymne an den Gott der Liebe, von dem sie sich verabschiedet — damit stellt sie musikalische und poetische Parität her. Zur französisch- und englischsprachigen Seite von Ann Gaytan mit einigen Hörproben, unter anderem mit dem Titel-Chanson Thank you Ferré, geht es: hier. jst Laubacher Feuilleton 19.1996, S. 12
Tenöre sind blöd Sie sind fett, sie haben eine große Klappe, sie singen am lautesten von allen auf der Welt, sie sind Meister aller Klassen aller Kehlköpfe, Erster Preis der Stimmbänder, Nummer Eins des Atmens, sie haben Preise wie Fußballspieler, und interviewt man sie, sind sie so intelligent wie Boxer: José Carreras, Placido Domingo und Luciano Pavarotti! Da Yvette Horner [eine französische Carolin Reiber] schon für die Tour de France in die Pflicht genommen war, holte man für dieses verschissene Finale der Weltmeisterschaft, und das für die Lächerlichkeit von 15 Mio. Dollar, drei singende Walrösser aus der Versenkung. Walrösser, die in der Lage sind, selbst eingefleischte Bierdimpfl aller Länder in Musikliebhaber zu verwandeln. Alles unter dem Vorwand, daß Lieschen Müller, wenn sie «Jeux Interdits» [«Maria, Maria»] singen, das Flennen anfängt. «Halt die Klappe, Bernard [es könnten auch Arthur oder Karl gemeint sein; Anm. der Übersetzerin], ich bilde mich. Guck' nur, wie der Dicke schwitzt ... Ich glaub', nicht mal, wenn ich mit der Qualmerei aufhören würde, könnte ich so laut brüllen.» Sport und Kultur ... Da geht was nicht zusammen. Man kann nicht den ganzen Planeten mit Fußball-Spielen hypnotisieren und gleichzeitig ein kulturelles Deckmäntelchen vorschieben, indem man drei Roboter der Luxusklasse singen läßt. Soll man sie doch mit Marschmusik zudrönen, das würde sie besser an einen Dritten Weltkrieg gewöhnen, den sie mit ihrer Unkultur und ihrem nationalen Wahnsinn noch auslösen werden. Und dieses Arschloch von Pavarotti ... Sein ganzes Leben suhlt er sich in den schönsten Melodien der größten Komponisten ... Und was ist seine Leidenschaft? Fußball. Es gibt Leute, die sind wie abwaschbare Tischdecken. Man taucht sie ein in die wunderbarsten Düfte des Orients, läßt Rembrandt auf ihnen zeichnen, und Schwamm drüber, werden wieder zu den immergleichen, tristen, geblümten, immer etwas klebrigen Wachstischdecken aus Plastik, auf denen sich sogar die Fliegen, die darauf herumkriechen ... anöden. Charlie Hebdo Fremde ohne Grenzen, Tenöre sind blöd, aus dem Französischen von Anne Maier Laubacher Feuilleton 11.1994, S. 11
Platonische Musik Ein Höllengleichnis Zuerst das Bekenntnis: Ich liebe laute, abgefahrene Musik. Äolisches, Phrygisches und Mixolydisches, Gregorianik und Neumoskribiertes, Bruckner, Frank Zappa und Portishead, Cecil Taylor und John Zorn. Alles fortissimo, alles dB-intensiv. Für mich ist Musik mehr Implosion, nicht so sehr Teilhabe. Sie ist kein soziokulturelles Bindemittel mehr, und ich bin temporärer Datenträger in einer auf handlichen Konserven beruhenden akustischen Vermittlung. Ich bin soz. das gemeine Musik-Schwein. In einer Art autistischer Selbstverteidigung schnalle ich mir den Kopfhörer um und ziehe die Regler auf. Zeit, Raum und Mitwelt bleiben ausgeschaltet: ich zelebriere, lasse mich fertig machen ohne SM-Gefühl! Verliere ein paar Kilo, nachdem ich The Jazz Composer's Orchestra ohne Pause durchgehört habe. Nebenprodukte sind heiße Ohren und eine solipsistische Freude am heimlichen Euphorikon. Vor einiger Zeit wurde ich von einer Freundin auf eine neue Steigerungsmöglichkeit aufmerksam gemacht. In einer intimen Stunde gestand Salka: «Kierkegaard? Den kapier' ich nur in der mozarteischen Don-Giovanni-Fassung!» Diese spartanische Äußerung klang wie ein verschlüsseltes Credo, wie ein Code-Wort für die größte gemeinsame Formel kulturellen Daseins. Ich war platt. Mit einem Schlag wußte ich, das ‹Entweder-Oder› ist tot; und gleichzeitig die intime Proxemik, die sich visionär schon in ihrer Möglichkeitsform befand. Mit anderen Worten, wir ließen voneinander ab und verfolgten gespannt den aufgeworfenen Gedanken. Seither lese ich die abendländische Philosophie mit anderen Ohren. Meine Forderung an eine neue Akroasis heißt: auditive Hermeneutik. Sie sucht nach der größtmöglichen Synchronizität von geschriebenem Text und dessen Duktus unterstützender Komposition. Nietzsche geht nur mit Wagner, Kant mit Kontrapunktischem (aber auch gut mit Yannis Xenakis, je nachdem, ob Vernunft rein oder praktisch diskutiert wird). Für Einsteins Relativitätstheorie oder Russells Atomismus brauche ich den Extrem-Dodekaphonisten Anton Webern oder den Aleatoriker Giacinto Scelsi. Für Heideggers Wort- und Satzalkaloide nehme ich Narkotisches von Henry Purcell oder Hildegard von Bingen, die so eine warme Nähe zu Augustinus herstellen kann, ohne erotisiernd wirken zu müssen. Nichts macht die französischen Moralisten so subcutan wie die Esprit-Musik von Erik Satie oder Charles Alkan. Auch wird Existentialismus französischer Couleur viel griffiger, wenn Sartres und Camus' Texten Taten von Sidney Bechet, Charlie Parker oder Thelonius Monk folgen. Denken ist hören, Text ist Komposition. Aber Text und Musik oszillieren nicht nur für sich, sondern miteinander. Jedoch — die mir schon zur Regel axiomatisierte Erkenntnis kennt die Ausnahme. Und nun das Schockierende. Für alle Philosophen gibt es musico-hermeneutische Unterstützung: nur nicht für Platon. Alles habe ich schon versucht, es ist kein Beikommen. Als ob er Salkas und meine Entdeckung vorausgeahnt hätte und schon früh putativ-präventiv falsifizieren wollte. Sittenschädigende und ethoszersetzende Wirkung habe sie, die Musik, so der große griechische Aufklärer und Anti-Sophist. In der Philosophie habe sie nichts zu suchen. Platon war wirklich das hinterhältigste aller möglichen Argumente gegen meine musikalische Maieutik eingefallen: der Dialog. Dadurch, daß Platon mindestens zwei ‹Klangquellen› des Diskurses installiert, macht er die externe anachronistisch-akustische Interpretations- und Einfühlhilfe a priori überflüssig. Und wirklich, nichts stört die Plato-Lektüre so wie musikalisches Akkompagnat. Wenn immer ich bei Plato musikalische Versuchsreihen ansetze, ich bleibe Verlierer. Dabei sehen die Zuspielungen altgriechischer Musik sogar am schlechtesten aus. Ich habe aufgegeben, relativiere meine Entdeckung inzwischen in weiten Zügen. Platon hat mich unmißverständlich gelehrt, wenn gesprochen wird, ist Musik unerwünscht, ja überflüssig, sogar deplaziert. Wilhelm Busch bündelt Platos diskrete Unterbindung und läßt in etwa sagen: Störend wird Musik empfunden, da sie manchmal mit Geräusch verbunden. Ist Denken also doch nicht die Dialektik von Sagen und Hören? Als ich Salka meine Niederlage eingestand, meinte sie: «Vergiß es, seit den Beatles ist alles anders!» Was sollte das nun wieder!? Wie immer brachte mich auch diese Lapidarität wieder ins Denken. — Stimmt! Ich erinnerte mich an John Lennons Cold Turkey. «Play it loud» stand auf dem Single-Label. Warum kam ich nicht selber dahinter? Sogleich fiel mir die auf Austausch und Teilhabe — sprich auf Massendistribution — ausgerichtete Popular Music ein. Sie hat wirklich mit Plato Schluß gemacht. Seit die Cafés mit nach oben fast offenen Lautstärkeskalen amplifiziert sind, ist der Dialog in der Öffentlichkeit nicht nur in Gefahr, sondern unterbunden. Manche nehmen's schreckhaft, manche versteigen sich in Protest, andere resignieren. Aber ich tendiere zurück zu meiner Entdeckung: Jede Philosophie hat ihre verdiente akustische Hermeneutik! Herbert Köhler Kurzschrift 2.1999, S. 11–13
tanz im feuer Nietzsche trifft Jazz und Lyrik Jim Morrison: the doors Die Beat-Dichter hatten eine Tradition fortgeführt, die nach dem 2. Weltkrieg in den Jazz-Kellern von Saint-Germain, dem Künstlerviertel von Paris, begonnen hatte. Da traten Dichter und Musiker gemeinsam auf, etwa ein Schlagzeuger oder ein Saxophonist, die ihren Soundtrack zu den Gedichten spielten, die frei gesprochen oder vom Blatt verlesen wurden. Allen Ginsberg, Gary Snyder, Michael McClure, Lawrence Ferlinghetti und Kenneth Rexroth hatten im Jahr 1956 in einer ehemaligen Autowerkstatt die Renaissance der Dichtung in San Francisco verkündet. Jack Kerouac lief herum und schenkte allen Leuten Rotwein aus großen Gallonenflaschen ein und rief an den markanten Textstellen immer wieder ein aufmunterndes «Yeah, man!» oder ein anfeuerndes «Go! Go!» dazwischen. Ein Saxophonist untermalte Ginsbergs gewaltiges Gedicht Howl (Geheul), das zum größten Literaturskandal der fünfziger Jahre führte und mit den denkwürdigen Zeilen begann: «Ich sah die besten Köpfe meiner Generation vom Wahnsinn zerstört.» Als Ferlinghetti das Büchlein in seinem Verlag herausbrachte, wurde es wegen Obszönität beschlagnahmt — ein unerhörter Verstoß gegen die Verfassung der USA, die im Zusatz-Artikel eins das Recht der freien Meinungsäußerung garantiert. In einem Aufsehen erregenden Prozeß wurden die Beat-Dichter frei gesprochen, Howl darauf hin zum bekanntesten Gedicht der Nachkriegszeit. (Wer sich von der Jazz- und Lyrik-Szene der fünfziger Jahre ein Bild machen will, hat seit April 1991 Gelegenheit per CD. Bei Aris erschien eine Box mit drei CDs, auf denen Jack Kerouac seine Lyrik und Prosa, begleitet von Saxophon und Klavier, vorträgt.) Jim Morrison kannte alles, was die Beats veröffentlicht hatten. 1957, als sein Vater nach Alameda versetzt wurde, zwanzig Autominuten über die Bay Bridge von San Francisco entfernt, fuhr Jim oft in die Stadt und schaute sich in Ferlinghettis City Lights-Buchladen an der Ecke Columbus Street und Broadway um. Dort entdeckte er auch den eben erschienenen Roman Unterwegs von Jack Kerouac. Allen Ginsberg, im Buch Carlo Marx genannt, pendelte immer noch zwischen New York und San Fransisco hin und her, und Jim beobachtete ihn aus sicherer Entfernung, wenn er ein paar Tische weiter im Café Trieste seinen Espresso trank. Für seine eigenen Auftritte schwebte Jim mehr vor als eine Dichterstimme, unterlegt von einem Instrument. Folkmusik haßte er nach eigener Aussage, vielleicht auch, weil er nie gelernt hatte, Gitarre zu spielen. So schied Bob Dylan als Vorbild von vornherein aus. Aber jazzig sollte es sein, und Lyrik sollte nicht zu kurz kommen — für Morrison blieb also nur die Rolle des Sängers, wenn er seine eigenen Texte mit einer Rockband aufführen wollte. Da gab es Vorbilder genug, vor allem natürlich die Rolling Stones, deren Frontmann Mick Jagger ebenfalls ohne Instrument auf der Bühne stand und sich am Mikrophon festhielt. Die Stones hatten nie ein Geheimnis daraus gemacht, wer ihre Vorbilder waren. Ihre gesamte erste LP präsentierte die klassischen Rhythm-and-Blues-Songs, mit denen sie in den Londoner Clubs austraten. Doch Jim Morrison strebte eine andere Dimension an als nur Unterhaltung im Stil der Rock- und Jazzbands. Er wollte Gefühle bewegen, wie es das Kino vermochte oder das Theater, er suchte nach einem Weg, um die Kluft zwischen Darstellern und Publikum zu überbrücken, um alle Anwesenden in einer gemeinsamen Erfahrung zu vereinigen, zu verändern, zu läutern. Morrison war nicht an der Veränderung politischer Institutionen interessiert, sondern an der Veränderung des Einzelnen, so wie er es selbst erlebt hatte. Da kam ihm der deutsche Dichter-Philosoph Friedrich Nietzsche gerade recht. Möglich, daß er nie mit den anderen Doors darüber sprach, doch gelesen hatte er Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Da sprach, über fast ein Jahrhundert hinweg, ein verwandter Geist zu ihm und machte deutlich, daß der Konflikt zwischen Bohème (Beatniks, Hippies, Subkultur oder wie auch immer die Bezeichnungen für den Gegenpol lauteten) und bravem Bürgertum (oder ‹Vernunft›) so alt ist wie die zivilisierte Menschheit. Und Jim Morrison, der nichts sehnlicher wollte, als wieder «an Berghängen zu tanzen», las mit Staunen Nietzsches Darlegung des Gegensatzes in der Kunst, verkörpert in den Göttern Apoll, der für die bildende Kunst steht, und Dionysos, der den Geist der Musik vertritt. Und so beschrieb der deutsche Philosoph den Rausch des Dionysischen: «Man verwandele das Beethoven'sche Jubellied der ‹Freude› in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Sand sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sklave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Not, Willkür oder ‹freche Mode› zwischen den Menschen freigesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins ... Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Tiere reden und die Erde Milch und Honig gibt, so tönt auch aus ihm etwas Übernatürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traum wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden ...» Dionysos, der Gott des rauschhaften Daseins — Jim Morrison wußte von da an, was er im Bereich der Kunst erreichen wollte. Etwa zur gleichen Zeit fiel ihm auch eine Abhandlung des französischen Schriftstellers Antonin Artaud in die Hände. In Theater der Grausamkeit beschrieb er das Ziel einer (in seinem Sinne) wirkungsvollen Vorstellung so: «Dies ist es, was wir erreichen wollen: daß wir bei jeder Aufführung ein schwerwiegendes Risiko eingehen, daß das ganze Interesse unserer Anstrengung auf Ernsthaftigkeit gerichtet ist. Wir wenden uns nicht an den Geist oder die Sinne unseres Publikums, sondern an die ganze Existenz: Ihre und unsere. Eine wirklich theatralische Erfahrung rüttelt die Sinne auf, befreit das eingeengte Unbewußte und treibt auf eine mögliche Revolte zu, die ihren vollen Wert nur dann erkennen kann, wenn sie im Bereich des Möglichen bleibt und der versammelten Menge eine schweirige und heldenhafte Haltung auferlegt.» Jim Morrison hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. Ihm wurde klar, daß seine Lebensauffassung unvereinbar war mit den Werten, die Amerikas erdrückende Massenkultur für wichtig erachtete, daß er, verglichen mit dem vorherrschenden Bewußtsein seiner Zeitgenossen, zu den Außenseitern gehörte. Gleichzeitig fand er Unterstützung bei den großen Denkern und Schriftstellern aus anderen Epochen, anderen Kulturkreisen. Sein wißbegieriger Geist, seine Neugier, seine Lebensfreude wurden von den Beat-Dichtern und von Nietzsche bestätigt. Sein Drang, sich selbst schreibend auszudrücken, wurde erstmals ernstgenommen, als er Ray Manzarek wiedertraf. Die Atmosphäre von Venice nährte Morrisons Selbstbild als Dichter. Die relative Freiheit dort behagte ihm, die Mentalität der Bohème, jedem die Möglichkeit seines eigenen ‹Trips› zu lassen, auch wenn sie darin bestehen sollte, überhaupt nichts zu tun, was als nützlich und sinnvoll angesehen wurde. Und der Lebensstil von Venice bestätigte Morrison auch, daß er mit seinem dionysischen Bedürfnis nach Rausch und Ekstase nicht allein war. Gras, Marihuana aus Mexiko oder Südamerika, wurde in der Subkultur weitgehend als harmlose, unschädliche Möglichkeit zur Bewußtseinsveränderung im positiven Sinne akzeptiert. Schon Kerouac hebt im letzten Kapitel von Unterwegs mit seinen Freunden auf der Fahrt durch Mexiko ab. Jim Morrison allerdings ließ den Joint, ganz im Gegensatz zum Hippie-Zeitgeist der späten sechziger Jahre, nie zur Gewohnheit werden. Sein verbündeter im Kampf gegen die Alltagsrealität wurde der Alkohol. Daneben experimentierte er immer wieder mit der stärksten aller Psycho-Drogen: mit LSD. Doch im April 1970 hatte er erkannt: «Vor drei jahren gab es eine Welle der Halluzinogene. Ich glaube nicht, daß irgend jemand die Kraft hat, diese Kicks für immer durchzuhalten. Dann geht man zu Narkotike über. Dazu gehört Alkohol. Für mich deshalb, weil er Tradition hat. Und weil ich den Schwarzhandel hasse, diese schmierigen sexuellen Untertöne, wenn man von den Dealern kauft, deshalb mache ich es nie. Deshalb mag ich Alkohol; man kann in jeden Laden an der Ecke oder in eine Bar gehen, und hat ihn genau hinter der Theke.» Hans Pfitzinger Auszug aus: the doors, tanz im feuer (hier zitiert nach: edel company Hamburg, S. 18 – 22). Erhältlich in jeder Buchhandlung bzw. direkt im Lotsch-Verlag. Laubacher Feuilleton 2.1992, S. 3
Die Nacht, die Oper Daß eine Vierjährige sich weigert, alleine zu Hause zu bleiben, ist nicht weiter bedeutsam. Dieses Alleinsein war jedoch nur ein relatives, waren da doch wechselweise gutwillige Damen, sogenannte Babysitter, vorhanden, um das Kind zu hüten, dessen Schlaf zu überwachen. Das wurde durch eine Glasfront erleichtert, die im Kinderzimmer eine Wand ersetzte, die von der Flurseite her mittels eines dichten, braunen Vorhangs mit Blumen- und Jagdmotiven abgedunkelt werden konnte. Um ein Minimum an Intimität und Unbeobachtung zu erreichen, war diese Glasfront zwar notdürftigst mit Abziehbildchen und Nasenpopeln zugekleistert, doch der Vorhang geriet immer wieder in Bewegung, wenn es darum ging, den Schlaf des Kindes zu prüfen. Es galt also für das Kind, sich der einmal wöchentlich wiederkehrenden Aufgabe zu entledigen, mit immer wechselnden Damen lästige Spiele spielen zu müssen. Diese Notwendigkeit wurde erschwert durch die Tatsache, daß das Kind, allerdings mit nur mäßigem Erfolg, die verschiedensten Varianten des Dramas ‹Ich ziehe aus› (das Sich-mit-leerem-Koffer-im-Keller-Verstecken) durchgespielt hatte. So blieb nunmehr die einfache Weigerung, nicht mehr alleine zu Hause zu bleiben. Das Kind durfte sein schönstes Kleidchen, ein braunes, samtenes aus Brüssel, anziehen, ließ sich widerstandslos kämmen, was bei einem Schopf aus drahtigen Locken und einer ungeduldigen Mutter nicht eben ein leichtes Unterfangen war, und an der Hand der Eltern zum ersten Mal in das Dunkel der Nacht treten. Die schillernden Lichter, der besondere Geruch, der die Nacht parfümiert, all die Menschen, die auch im Bus fuhren und so anders angezogen waren und anders rochen als sonst, diese Verlockungen und dieser Zauber sollten das Kind ein Leben lang faszinieren: immer würde es die Nacht und deren Künstlichkeit als das wahre Leben begreifen. Das Kind saß in der dritten Reihe Sperrsitz und war gebannt von den vielen Lampen, all dem Gold und von der Höhe des Theaters, der bemalten Decke, dem großen Lüster und dem roten Vorhang aus Samt, der alles verbarg. So nahm es weder die mißbilligenden Blicke der Erwachsenen, noch deren Getuschel wahr: ob der Unvermessenheit dieser Eltern, die das auch nicht weiter zu stören schien, ein Kind mit in die Oper zu nehmen, das nicht in die Schule ging, also nicht lesen und schreiben konnte und jedes R am Anfang eines Wortes geflissentlich ausließ. Man gab La Traviata von Guiseppe Verdi. Es wurde dunkel im Saal, der Vorhang ging auf, und das Kind sank hinüber in eine andere, fremde Welt. Ein Fest wurde gefeiert, alle prosteten sich zu, und dann kam sie, Violetta, in einem weißen Kleid, ausgeschnitten und mit Blumen übersäht. Später ging sie mit einem Mann irgendwo anders hin, dann war da plötzlich eine Treppe, die sie hinunterschritt, dieses Mal in einem schwarzen, glänzenden Kleid, und der Mann, mit dem sie vorher weggegangen war, schmiß ihr einen Haufen Papier vor die Füße. Nun war sie allein, saß in einem hellblauen Nachthemd an einem kleinen Tisch und gab das weg, was sie am liebsten hatte, und war sehr krank. Als der Mann zurückkam, starb sie. Das Licht und der Applaus riß das Kind aus seinen Tränen, Tränen darüber, nicht verstehen zu können, daß Violetta, deren Tod so wirklich schien, lächelnd und lebendig vor den Vorhang trat. Das Kriterium der subjektiven Wahrheit hinter der absoluten Künstlichkeit der Oper und ihres Nummerngesangs ist eine Absage an den schönen Ton, der verbrennt und Asche ins Publikum wirft, dort, wo er lodern und das Publikum in Brand stecken sollte. Wenn Tosca wirklich für die Kunst und die Liebe gelebt hatt, dann leuchten die Sterne für ihren Mario. Nur dann. Anne Maier Die Autorin, Jahrgang 1955, war Schauspielerin, Journalistin, ist Pressereferentin in Berlin, ab 2009 im Haus der Kulturen der Welt. Laubacher Feuilleton 2.1992, S. 2
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