Von Weltstadt zu Weltstadt

In der Reihe Metropolis Visits war im Feuilleton einer Londoner Tageszeitung folgender Artikel über München gedruckt. Die Übersetzung besorgte unser London-Korrespondent Thomas Zacharias.

Der frühe und heftige Schneefall hatte die Stadt leise gestimmt und vorweihnachtlich eingedeckt, was sie in den luxuriösen Geschäften und Auslagen ebenfalls war. Beides, die Stimmung und der Luxus, fielen im heimeligen Devotionallengoldrausch mit Rauschgoldengeln und Glühwein auf dem Marienplatz zusammen, dem Herz der «Weltstadt mit Herz». Trotz grimmiger Gesichter im einzelnen konnte man dem Sport-Design im allgemeinen ansehen, daß Skifahren auch lustig und das Gebirge nah sein muß. Das obligatorische Hofbräuhaus schien gemütlicher, der Habitus des sogenannten Volkes weniger gemütlich als sein Ruf. Zwei mit Ausweisen, Pflichtbewußtsein und rüdem Lokalton bewaffnete Kleinbürger fielen bereits in der S-Bahn vom Airport einen levantinisch aussehenden Herren an, weil dessen sogenannter Fahrtauswels so ungenügend schien wie seine Deutschkenntnisse. Doch zugleich zeigte sich der neue Flughafen selbst als Muster großzügiger, weltoffener Leichtigkeit. Die U-Bahnsteige waren weiter als in London, die Plakate dagegen weniger witzig. Das meiste konnte man ohnehin zu Fuß erreichen, wo man ebenso wie im unterirdischen Verkehr gerempelt wurde und die Leute ebenso selten «Öha» sagten.

Dann überholte der plötzlich einbrechende Föhn (siehe auch: Alpenvorlandlüftchen) die städtischen Räumdienste, und der Matsch gab den Füßen ein Gespür für bodenständige Eigenart. Der Kleinhesseloher See sah nicht mehr aus wie in Holland und der Englische Garten wieder wie in England. Am Odeonsplatz schien man in Italien, am Königsplatz und in der Glyptothek in Griechenland, auf dem Viktualienmarkt In Schlaraffenland und vor den Postkarten von Neuschwanstein in Disneyland zu sein. Der holde Märchenkönig, dessen Tod im See so mysteriös blieb wie das Leben des Unholds Jack the Ripper im East End, war so allgegenwärtig wie die Politessen und die japanischen Kameras, wenn sie im Dickicht der Neuhauserstraße Gamsbartträger jagten. Sieht man von der Paradeallee The Mall ab, die von Buckingham Palace nach Whitehall führt, dann gibt es im Zentrum von London nichts Gerades von der Breite der Münchner Ludwigstraße. Sie geht von einer Kopie aus Florenz zu einer Kopie aus Paris, die wiederum ein imperiales Requisit aus Rom kopiert. Böge man dort beim Siegestor nach links, dann käme man an der Imitation eines barocken Königsschlosses vorbei, aber es wäre nur die Kunstakademie. Auf dem Fernsehturm im Olympiagelände wird man beim Kaffeetrinken rund um das Panorama gedreht. Die Domtürme mit den Ballonkappen stehen im Zentrum, eine Ansammlung gemäßigter Hochhäuser mehr seitlich vor den greifbaren Alpen, die den Zugang zum Mittelmeer verzögern. Im Straubinger Hof gab es «Lüngerl», «Kalbshirn» und etwas weißlich Gerolltes, das ein erkennbar Nicht-Einheimischer als «Milzblieswulst» bestellt hatte. Manchmal trifft man auf betretbare Parfum-Automaten, aber es handelt sich dann um Telephonhäuschen, die früher viel weniger schick und so gelb gewesen sein sollen wie sie bei uns zum Glück immer noch rot sind.

Die Alte Pinakothek war wegen Umbaus geschlossen, doch ihre prominenten Stücke hingen nebenan in der Neuen, bewacht vom Bühnenbild einer postmodernen Gralsritterburg. Im Unterschied zur National Gallery mußte man für den Eintritt in die Weltklasse-Sammlung bezahlen, dafür waren die Preise außerhalb hoch, wenn auch nicht so hoch wie in London. Weltklasse sind auch der FC Bayern, die Raketen aus Ottobrunn, die Panzer aus Allach, die Kernphysik aus Garching, die Süddeutsche Zeitung, das Symphonieorchester, die «Grantler» und die Biergärten, sagt man. BMW pflegt die britische Autoindustrie, und auch in der Taubenfrage sind sie uns über. Dafür sind wir in der Europa-Frage mehr gespalten und haben auch sonst die Demokratie schon länger. Der rote Bürgermeister von München ist ein Intellektueller, was man von den Politikern sonst weniger sagen kann. Er sitzt auf dem Schleudersitz der Landeshauptstadt, während die konservative Volkspartei, geführt vom Bonner Europaminister, von ihrem Stammsitz aus über den Freistaat herrscht. Von dort bewahrt sie mit kirchlichem Segen das Brauchtum und den Industriestandort vor dem Chaos und die Kruzifixschnitzer aus Oberammergau, wo der vorletzte Ministerpräsident herkam, vor dem Ruin. Die Staatskanzlei lagert hinter dem französisch gezirkelten Hofgarten als absolutistische Residenz im Auftritt einer modernen Großbank. Diese «Schwarzen» unterhalten gute Beziehungen nach Afrika, obwohl sich die Flotte auf einige Ausflugsdampfer auf den Seen im Oberland beschränkt, die von der Erdgeschichte für eine gut ausgestattete Freizeit reserviert wurden.

Die Flüge von London nach München und zurück sind in der Regel billiger als umgekehrt, die Stadt gilt als «heimliche Hauptstadt», was dem Besucher aus dem Norden unheimlich einleuchtet.

Laubacher Feuilleton 20.1996
 
Mo, 05.01.2009 |  link | (1347) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Anderenorts






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