Alpenvorlandlüftchen

Der Föhn von innen

Von den alten Chinesen stammt die Weisheit, daß man sich in ein Lebewesen, in ein Tier, in eine Pflanze hineinversetzen muß, um es zu verstehen. Man kann das bei einiger Übung und Konzentration auch mit einem Frühstücksei machen, sich sozusagen gedanklich mit ins kochende Wasser begeben und dann spüren, wenn es soweit ist. Doch das ist schon etwas für Fortgeschrittene, während die nachfolgende Föhn-Übung kaum mehr als etwas Phantasie verlangt.

Stellen Sie sich also vor, Sie sind eine Luftmasse, befinden sich südlich der Alpen, sagen wir in Oberitalien, was schon für sich etwas Erfreuliches ist; dazu sind Sie mäßig gesättigt — in unserem Falle nicht mit Tortellini oder Costata lombarda, sondern mit Wasserdampf. Während Sie es sich also gutgehen lassen, passieren jenseits der Alpen Dinge, die Sie in Ihrer Ruhe stören werden. Die Luft in den Alpentälern und im Alpenvorland beginnt nämlich durch tiefen Druck im Norden oder Nordwesten abzufließen und muß, nach einem Naturgesetz, ergänzt werden. Also kommt das Kommando von oben (wie immer — hier jedoch geographisch gemeint): Auf, über den Alpenhauptkamm, gen Germanien!

Nur ungern setzen Sie sich in Bewegung, denn vom letzen Mal wissen Sie noch, daß Anstrengendes bevorsteht. Während Sie nun den schwierigen Aufstieg über die südlichen Voralpen, das Veltlin oder Südtirol beginnen, kühlen sie zunehmend ab, fühlen sich immer schwerer vom Wasserdampf, bilden dicke, schwere Wolken, bis Sie ‹es nicht mehr halten› können und sich von der, mit steigender Höhe ständig zunehmenden, Last befreien. Drunten regnet's. Fachleute nennen das Kondensation, aber das nützt Ihnen wenig, denn die eigentliche Höllenfahrt steht Ihnen eigentlich erst noch bevor. Das einzige, was Sie beim Aufstieg bis zum Alpenhauptkamm, über die Gletscher des Ziller- oder Ötztals ein bißchen bei guter Laune hätte halten können, wäre die Schadenfreude gewesen, daß die Menschen schon jetzt vor Ihnen, unter Ihnen zu stöhnen beginnen; sie spüren den ‹Vorföhn›, aktivieren ihre Migräne oder ärgern sich mit Operationsnarben herum. Noch aber sind Sie ein ganz gewöhnlicher Luftstrom, noch immer kein Föhn. Erst nach dem Abladen der Regenlast und dem Überschreiten der höchsten Alpenkämme dürfen Sie sich so nennen; denn jetzt geht's los.

Erstes Angriffsziel: das Inntal, quer zur Windrichtung, relativ schmal und eigentlich leicht zu überfliegen. Sie würden auch lieber friedlich hier oben bleiben und im kühnen Flug über die Alpen hinweg bis zu den deutschen Mittelgebirgen oder gar zur Nordsee strömen, aber da unten ist ein Vakuum, alles Widerstreben nützt nichts, Sie müssen sich hinunterstürzen wie Lützows wilde verwegene Jagd. Also raus aus der Föhnmauer und hinein ins Tal. Während Sie sich auf die armen Tiroler stürzen, werden Sie je 100 Meter Höhenunterschied um ein Grad wärmer; trocken, weil ja abgeregnet, sind Sie schon, und also kommen Sie unten bis zu 20° Celsius ‹wärmer› an, als Sie es oben waren. Auf Ihrem Sturzflug ins Tal werden Sie immer schneller, wirbeln viel Staub auf, türmen die Wellen auf kleinen Alpenseen zu atlantischen Brechern hoch, schüren müde dahinflackernde Herdfeuer zu lodernden Bränden und machen — nicht zuletzt — die Leute total verrückt. Die überfahren rote Ampeln, raunzen ihre Nachbarn an, brechen einen Ehestreit vom Zaun oder treiben sonst etwas aus inzwischen heiterstem Himmel. Aber darauf können Sie als voll entwickelter Föhnsturm mitllerweile keine Rücksicht mehr nehmen.

Manchmal, wenn der Sog, der Sie ins Tal zieht, nur schwach ist, verlieren Sie hier allmählich die Lust, zu toben, und schlafen langsam ein. Aber als richtiger Föhnsturm geben Sie sich nicht zufrieden mit dem, was Sie schon angerichtet haben; lassen sich auch nicht verführen, gemütlich im Inntal entlangzuwehen, um schließlich bei einem Viertel Tiroler Rotem alle Dynamik auszuhauchen, sondern jetzt geht es wieder aufwärts. Mit der ganzen Gewalt des Fallens über einige 1.000 Meter in die Tiefe, brausen sie nun wieder in die Höhe, über die Kalkalpen hinweg hinaus ins bayerische Oberland. Jetzt haben sie schon Geschmack gefunden an Ihrem Tosen und Toben, jetzt stehen auch keine Berge mehr quer zur Windrichtung, jetzt können Sie zeigen, was trotz allem Auf und Ab noch in Ihnen steckt. Auf dem Walchensee lehren Sie erst einmal die Surfer das Fürchten, dann erschrecken Sie die Segelboote auf dem Chiem- oder Starnberger See, die alle Sturmwarnungen in den Wind geschlagen haben, weil der Himmel ja so ‹grüabig› aussah, und schließlich fegen Sie durch die Sraßen der Städte im Alpenvorland, daß den Leuten die Papiertüren um die Ohren und die Würstl vom Grill fliegen. Mit Genuß an der gestifteten Verwirrung lassen Sie's nun genug sein, spätestens an der Donau ist alles zu Ende, und Sie legen sich mit dem beruhigenden Gefühl nieder, es denen da unten mal wieder richtig gezeigt zu haben. Darüber können Sie leicht vergessen, daß dieses Ende Ihrer brausenden Fahrt nicht ganz freiwillig war. Inzwischen ist das Tief nämlich von Nordwest nach Nordost gewandert, der Wind hat sich gedreht, und gegen die nun von Nordwesten heranstürzenden kalten Luftmassen haben Sie keine Chance. Die sind schwerer und feuchter als Sie und drängen Sie kurzerhand beiseite. Und manch einer, der unter Ihrer Trockenheit und Wärme gelitten, dem die Schleimhäute — und das Hirn! — ausgedorrt sind, freut sich gar darüber. Am besten, Sie lassen sich von den nördlichen Strömungen über die Alpen zurücktreiben, setzen sich in Italien wieder gemütlich an eine gut gedeckte Tafel und warten in aller Ruhe das nächste Kommando in Richtung Norden ab. Bis dahin: alles Gute ...

Jürgen Brauerhoch

•••

Die Redaktion des Laubacher Feuilleton dankt(e) dem Autor Jürgen Brauerhoch 1994 in Arthur Tuschaks Zentner in der Schellingstraße, eine Zeitlang Planungsbüro für Anschläge auf die Leser, für die freundliche Abdruckgenehmigung, bei einem oder auch zwei Gläser ordentlichen Weines (oder war's Weißbier?).

Der Föhn wurde offensichtlich neu aufgelegt: Frisch wie damals, blankgeputzt der Himmel über München. Er sei gepriesen, vor allem von denjenigen, die nicht (mehr) unter ihm zu leiden haben (siehe oben). Hermann Weiß notiert dazu in der Welt vom 11. November 2007: «Um sich gar nicht erst dem Verdacht auszusetzen, an einer Legende stricken zu wollen, zieht man sich als eingeborener Münchner am besten auf die Definition des Deutschen Wetterdienstes zurück. Der Föhn ist demnach ‹ein warmer, trockener Fallwind, welcher im Allgemeinen auf der der Luftströmung abgewandten Seite eines größeren Gebirges auftritt. Er entsteht bei Wetterlagen, bei denen eine großräumige Luftdruckverteilung erscheint, die eine Luftströmung quer zu dem Gebirgszug zur Folge hat.›»


Jürgen Brauerhoch
Föhn. Ein erlösendes Brevier

Laubacher Feuilleton 10.1994, S. 15

 
Di, 10.02.2009 |  link | (2876) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Essai






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