Der vorhäutesammelnde Gott Von Herbert Köhler «Um es vor Gott und Menschen zu irgendwelcher Ansehnlichkeit und Bedeutung zu bringen, war es nötig, daß man die Dinge – oder wenigstens ein Ding – wichtig nahm.» Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, Frankfurt am Main 2007, S. 310 Nach langem Hin und Her – es gibt einfach wichtigeres – setze ich mich nun doch an die Maschine, um ein paar Gedanken zu einem ungeheuerlichen Vorgang niederzuschreiben. Es geht um einen Vorgang, über den ich mir bisher noch nie so richtig Gedanken gemacht hatte, höchstens mal mein Staunen weglachen mußte, wenn ich über die Vorhautsammlungen des König David las, die er sich von den in glorreicher Umgebung selbst Abgeschlachteten hat anlegen lassen, um seine Taten später dann zu psalmodieren. Von Neidern ist zu hören, daß sich David auch hin und wieder potenzförderndes Frikassee, Präputium-Ragout also, servieren hat lassen. Daraus sei dann die Vorliebe für Kaldaunen etc. entstanden. Glaubt man’s? Das Schwänzchenabschneiden bei den Besiegten durch die Sieger war in den monotheistischen Anfängen ein durchaus beliebtes Spiel; bis man merkte, daß die Vervielfältigungskraft dann doch eher in den Orchis liegen mußte. Sogleich gab es das Hodenabschneiden, das sich noch in der Orchideen-Bewunderung ästhetisch festgezurrter Damen heutiger Tage nachweisen läßt. Hatte man sich mit der Hauttrophäe etwa die zukünftige Oberhoheit über den erlegten Feind gesichert und gleichzeitig ein Symbol für eine Mord- und Vermehrungs-Potenz eingeführt, die einem in Zukunft nicht mehr schaden wird? Die Richtigkeit dieser Gedankengänge war dem Männerhirn einfach mit in die Wiege gelegt. Daran hat sich, so wie es aussieht, nichts geändert. Das liegt ganz allgemein an der entwicklungsgeschichtlich bedingten Verdehnungslust von vernünftigen Einsichten, eine der Säulen männlicher Logik und Impuls aller Religionen und ihren profanierten, transzendental entkernten Erscheinungsformen, den Ideologien. Der unentwegt in Sachen Kreuz-mit-der-Kirche schreibende Karlheinz Deschner hat mich als erster, vor Jahrzehnten schon, mit dem frühjüdischen Präputium-Fetisch und seiner Legitima-tionsgeschichte konfrontiert gehabt. Dabei blieb es auch. Zuerst Opfergabe an den vorhäutesammelnden Gott, dann das Zeichen des Bundes mit dem vorhäutesammelnden Gott, dann, relativ spät, kamen die Exegeten auf die Hygiene-Nummer. Da es absurder nicht geht, schien sie lange Zeit tragbar. Die Nutzung des Gehirns ist für den Glaubenden wie ein Schluck Wasser für den Ertrinkenden. Seither aber hat man die Begründungsebenen außerhalb der jeweiligen Orthodoxie vergessen. Auf diese Weise lebt alles Hirnlose in der Konservierung von Tradition weiter. Und man tut so, als ob die nie irren kann. Ich vermute sogar: deshalb geht es uns allen mentalitätsgeschichtlich so schlecht. «Aber das ist eine andere Geschichte.» (Moustache, eigentlich Bob le Hotu, Barkeeper, in dem Billy Wilder-Film ‹Irma la Douce› von 1963) Das Zeichen zum Bunde ist eine grandiose Finte früher Stammesgesellschaften. Wie schweißt man Solidargemeinschaften besser zusammen als über gemeinsames, ewig erinnerbares, vererbbares, also stempelsicheres Leid? Nur für das Fußvolk geht es um einen Bund mit dem installierten Gott. Es ist eine Art absolutistische Auslagerungsidee der Stammesverantwortung. Es geht in Wirklichkeit um eine Optimierungsidee als gemeinschaftseinigende, stammesstabilisierende Maßnahme, um so viel als möglich Mitglieder mit einem Brandzeichen an den Stamm zu binden. Und man soll sie alle am coupierten Schwanz erkennen. Pudelideologie. So einfach wie genial! Nun gibt es seit einigen Wochen einen Medienhype um ein Kölner Landgerichtsurteil, das die Beschneidung – nach 300 Jahren mitteleuropäischer Aufklärung – als Körperverletzung wertet und in Zukunft unter Strafe stellen will. Eine moderne Verve? Ein Supergau für selbstvergessene Traditionalisten! Steht memoaktives Kulturgut einmal in Frage, dann geht es aber erst richtig los. Das kennt man im Schmalspurformat von Heimatfanatikern aller couleur. Und gemessen an einer 4000 Jahre alten, mentiziden, hirnausschaltenden Tradition, die allein schon durch die Zeit ihres Bestehens jeden Sinn verloren hat, sind 300 Jahre neu entdeckter Fähigkeit zum Zweifel wirklich nichts. Leider, muß man sagen! Die Empörung über das Urteil ist deshalb gigantisch. Alle melden sich zu Wort, natürlich zuallererst die körperlich Betroffenen, Juden und Muslime, denen man von nun an, zumindest in Deutschland, das Liebste zu nehmen scheint, nämlich das, daß man ihnen etwas nimmt. Sie fühlen sich kriminalisiert, wenn sie nicht mehr verstümmeln dürfen. Dann aber rufen da auch die Christen, vorab die Katholiken, die ihre auf Nächstenliebe projizierte Affinität zu Säugling-, Knaben-, Alumnen- und Männerappendices über die Jahrhunderte und die aktuellen Tage immer wieder flächendeckend bewiesen haben, denen man aber zugute halten kann, daß sie den Hang zum sanctum praeputium nur noch in Form der Reliquie auslebt oder Künstler und Maler aller Stile beauftragt, ihnen den anregenden Bildeindruck der Zirkumzisions-Prozedur zu bannen. Man muß das wirklich aussprechen: Es gibt tatsächlich Leute, welche die Vorhaut Jesu anbeten! Beides ist absurd! Sah man darin etwa eine kosmetische Schweifveredelung? Und nun kommen die vatikanischen Lobbyisten Gottes, die nicht unbedingt wollen, daß ihre Neben- und Konkurrenz-Monotheisten im rituellen Zwielicht stehen müssen. Das ist solidarischer Beistand von einer Seite, die weiß, wie es geht. Aber auch außerkonfessionell wird viel über Beschneidung geredet. Der Grundtenor unter dem Deckmantel der aus mediokerer Anbiederung heraus produzierten Toleranz: Warum sollte eine kulturelle Handlung, die 4000 Jahre zum Glücke aller, oder eben, weil man es immer so macht, praktiziert wurde, plötzlich mit Strafe belegt werden? Klingelt da nicht etwas? «Was damals Recht war, kann doch heute nicht Unrecht sein», furzte einst ein Ministerpräsident aus Baden-Württemberg seine verhängten Todesurteile während der NS-Zeit weg. So einfach, das Ganze? Die jungen männlichen Ferkel, denen herzlose Metzger die Gonaden ohne Betäubung von der Leiste ziehen, haben es da besser. Sie können darauf hoffen – verfügten sie über die zerebrale Fehlschaltung Hoffnung –, daß dies offiziell bald nicht mehr geschehen kann. Und der schwänzchentragende Jude und Muslim? Er kann das Auserwähltsein unter Narkose zwar mit Stolz konnotieren, die Schmerzen der Verletzung trägt er jedoch noch einige Zeit mit sich, äußerlich wie innerlich. Wie gesagt, das schweißt zusammen. Das Ungeheuerliche dieser körperlichen Verstümmelung kann nur seine Unzumutbarkeit verlieren, wenn es etwas stärkeres gibt, für das es sich lohnt zu leiden, spricht das Heldenhirn. Das Stärkere ist – so müssen wir vermuten – das Gefühl, im Bunde mit einer Figur zu sein, die im Nimbus einer absoluten Größe steht, der Allmacht. Der Allmächtige aber liebt seine Bündler nicht ohne jeden Preis und Einsatz. Seine Liebeseinforderungen sind freudianisch. Und dieser von Abraham erfundene, allmächtige Gott will alles, vor allem aber die arterhaltende und einflußerweiternde Sexualität. Niemand darf potenter sein als dieses omnipotente Installativ. Niemand darf Mordaufträge als Treueprüfung vergeben, niemand darf grausamer sein, niemand eifersüchtiger, niemand neidischer, niemand einfordernder, niemand listiger, niemand strafender, niemand gnadenloser, niemand verheerender etc. Schenke einem Solchen dein Präputium zum Zeichen, daß er Dich zu sich aufnimmt und schützt! Schutzgeld?! Der mafiose Patengedanke ist daraus abgeleitet, die Gottähnlichkeit aller irdischer Machtpisser und Massenverführer auch, egal auf welchem Niveau. Das ist nichts anderes als das Gesetz des Menschen, das dieser zur Tarnung einem göttlichen Installativ zuschreiben muß, weil es seinen Mitwesen gegenüber zu ungeheuerlich auftritt. Warum, frage ich – und bisher habe ich noch nie diese Frage im Beschneidungs-Diskurs gehört – , installieren sich ein paar Nomaden unter der Führung des biblischen Abraham oder Ibrahim einen Vorhautsammler als Gott? Und was für ein Licht wirft das auf eine Gesellschaft, die damals gerade im Begriff war, sich monotheistisch zu sortieren. Welcher Stellenwert muß die an Zuwachs und Vermehrung interessierte Sexualität zu dieser Zeit gehabt haben, daß sich der Beste von allen, der nicht einmal ein Gesicht hat, alle Vorhäute seiner Untertanen liefern läßt? Warum kommt keiner auf die Idee, so einen Un- bis Wahnsinn zu hinterfragen? Ist es der memoaktive Schock, der da über Jahrtausende lähmt? Auch wenn durch das eingeforderte Vorhautpfand die illustre Vielfalt gängiger Opferpraxis auf die Hautspitze fokussiert werden konnte und so sicher abertausende von rituellen Morden unterbunden werden konnten, frage ich mich nach 4000 Jahren Entwicklungs-, Menschheits-, Mentalitäts- und Technikgeschichte, ob da vielleicht nicht doch jemand nicht alle Tassen im Schrank hatte. Und ich bin vor allem bestürzt darüber, daß das noch niemand gemerkt hat. Sind wir in unseren Schränken nicht mehr Herr der Lage? Dem Richter in Köln gehört ein Denkmal gesetzt! Wenn schon Tradition. Ich befürchte nur, daß es noch einmal 4000 Jahre dauern wird, bis es gebaut werden kann.
Schneewittchen aus dem Sarg Da es seit der Einschläferung des Laubacher Feuilletons mehrfach den Wunsch nach einer Renaissance gegeben hat, beinahe wäre, als die Digitalisierung noch nicht über die Welt hereingebrochen war, daraus ein gedrucktes Wasunger Feuilleton geworden, wird hier wieder aktuell Zeitgemäßes zu lesen sein. Der Anfang sei mit einem Kommentar von Enzoo gemacht, der in Seemuses Wahrnehmungsfenster eine ihrer wahrlich filigranen Häkeleien zum Aufruhr der Moskauer Muschis übergestülpt hat. So sei hiermit dieses vor über zwanzig Jahren in die Lesewelt hineingeborene Feuilleton wiederbelebt. Wir ändern lediglich dahingehend, indem wir auch die alte Recht- und damit auch die Groß-Klein-Schreibung beziehungsweise die alte Hausorthographie wieder einführen — und im übrigen hier auch wieder der zeitungsgemäße Blocksatz. Was Lettre International recht ist, muß uns billig sein. Zwar sind wir kein Trachtenverein auf der, demnächst wieder eingeläuteten, Münchner Wiesn, aber ein wenig Tradition möchte aufleuchten, zumal das Blättchen zwar nach einem lauen Bach benannt wurde, aber schließlich ist Laubach überall, und den Nabel dieser Welt erblickte es ohnehin in einer Schwabinger Kneipe. Es ist schließlich nicht alles Alte und aus Bayern schlecht. Umgekehrte Christenverfolgung ... daß Herr Putin durch seinen Ukas während des Gerichtsverfahrens, man möge die drei Frauen nicht allzuhart bestrafen, nicht nur bewirkt hat, daß die drei Damen ‹nur› zwei Jahre ausgefaßt haben statt möglichen sieben, sondern das russische Staatssystem und dessen Gerichtsbarkeit und dessen Abhängigkeit von der politischen Elite bloßgestellt hat, wird er so nicht gewollt haben. Aber großzügige Gönnerhaftigkeit ist nicht nur dort im Osten oft demaskierend. daß er und natürlich ursprünglich ‹pussy riot› eine Diskussion (wieder) inganggesetzt haben, wie groß der Einfluß der Kirche, gleich welcher katholischen oder auch nicht katholischen Richtung auf die Staatssysteme unserer Welt und ob das wirklich gut ist, ist zu begrüßen. So gesehen sind ‹pussy riot› Opfer einer umgekehrten Christenverfolgung.
Schraubenkunst Was das Schöne an der Alzheimerschen Krankheit sei? fragte mich vor ein paar Monaten mein Kollege Lothar Romain. — Nun, man lerne jeden Tag neue Menschen kennen. Es ist nicht mehr nachzuvollziehen, ob dieser doch etwas makabre Witz zum Eröffnungstag der Art Frankfurt 1995 bewußt wieder ausgegraben wurde. Auf jeden Fall sprach da kaum jemand mehr von der Verleihung des ‹Elsheimer-Preises›, sondern ein sehr großer Teil der Branche (die ja für ihre biestige Tratschigkeit wahrlich bekannt ist) meinte: Ja — möglichst schnell vergessen. Das hat seine (tieferen) Gründe allerdings nicht nur in der allgefälligen Ignoranz oder auch Arroganz (die ja bekanntlich ihre tiefreichenden Schwimmwurzeln im Modder der Dummheit verankert hat) der Branche, sondern auch in berechtigtem Ärger. Bevor ich die Äußerungen anderer zu diesem Thema nenne, mache ich's mal anders als unser Bundeskanzler, der sich bei Schwierigkeiten gerne hinter seine Bediensteten stellt, und stelle mich vor (die meckernden Kolleginnen und Kollegen): Vor gut zehn Jahren habe ich mehrfach öffentlich-rechtlich vor den möglicherweise kommenden US-amerikanischen Verhältnissen in diesem unserem Lande gewarnt — für den Fall, daß es so weiter weggehe vom Mäzenatentum und immer mehr hin zum von vielen so ersehnten Sponsoring. Nun, unser Bundeskanzler hat sich lange Zeit und andauernd hinter seinen Finanzminister begeben — und nun haben wir den Schlammassel: In allen Bereichen der Künste die Abhängigkeit von denen, die mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen die Löcher stopfen, die von keiner Muse je geküßte, pragmatische Politiker in unsere Kulturhaushalte gerissen haben. So sei, stellvertretend, ein Exempel statuiert: Reinhold Würth, der Mann, dessen Name weltweit immer dann wie von Wirtschaftswunderhand eingeblendet wird, wenn sich ein Kamera-Team während der Verletzungs- oder Verschnauf-Auszeit einer Fußballmannschaft ausruhen darf (die Bandenwerbungspreise bitte bei der FIFA einholen); also jener, der diesen Hosenband-Orden erhielt auf der Art Frankfurt 1995, äußert ohne schwere Nöte (Honi soit qui mal y pense): Mit der Christo-Aktion in seinem Schraubengebäude im heimeligen, hohenlohischen Künzelsau spare er 2,5 Millionen Mark aus seinem Werbeetat. Wie das? Steuerlich absetzbare Kunst? Aber sicher: Es seien doch alle Fernsehkameras — und von denen gibt es ja mittlerweile (auch hierbei Dank an unseren Ober-Pfälzer) immer mehr — auf das Würth-Emblem gerichtet. Letzteres ist eine ebenso ungefilterte Äußerung des Reinhold Würth, dem Manager seines (10-Milliarden) Umsatzes, wie eine andere — die die vielfältigen Spekulationen der kunstverkaufenden Träger von Hoffnungen durcheinanderbrachte (und bringt): Er kaufe sowieso nur beim Künstler direkt, weil billiger. Er ist eben ein gestandener Geschäftsmann, der es versteht, den Zwischenhandel außen vor zu lassen. — Und ausgerechnet dieser Kunstfreund erhält auf einem Kunstmarkt von denjenigen einen solchen Preis, die sich darum bemühen, ein Produkt überhaupt erst einmal bekannt zu machen. À propos Kunstmarkt. Sagte da doch am Eröffnungstag ein Besucher zu seinem Begleiter: «Was ich bis jetzt gesehen habe, war ja recht ordentlich.» Mir stellte sich daraufhin die Frage, was er damit wohl gemeint haben möge. Das Angebot insgesamt oder die ‹neue› Ordnung, das ‹neue› Konzept, mit der es, die Kunst also, kanalisiert worden war? «Abstrakt-gestische Tendenzen» heißt es da, oder «Konstruktiv-geometrische ...» — oder «figurative». Mir fällt dazu nur ein, daß die seriösen «kritischen Kunst-Interpretatoren» (Annemarie Monteil) mit ihrer Arbeit sich immerfort bemühen, die Übergänge fließender zu gestalten, das Schubladendenken abzuschaffen. — Aber was soll's?! Schrauben verkaufen sich ja auch viel besser, wenn sie vorher wohlsortiert wurden. neue bildende kunst 3.1995, S. 75; nachgedruckt in Kurzschrift 3.2000, S. 13
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