In den Köpfen von Krauts flatulenzierender Kohl «Louis de Funès furzt mit leckerer Suppe einen Alien herbei. Sci-Fi-Klamauk. Bauer Claude und Kumpel Francis genießen ihren Lebensabend bei Wein und pikanter Kohlsuppe. Von den daraus resultierenden Blähungen angelockt, verirrt sich eines Abends ein netter Alien auf Claudes Gehöft … Deftiges Vergnügen, mit dem de Funès die französische Lebensart verkohlt.» (Spielfilmmagazin Cinema) Auf daß es dem deutschen Geschmack entspräche — daß Geschmack nur jemand haben kann, der zur Unterscheidung fähig ist, mag Grundlage dieser Präjudikation sein, mit der die Filmanpasser der deutschen Synchron- und Werbe = PR-Studios solche Filme auf das Niveau des Deutschen gleich Schmalhans-Küchenmeisters hinunterdrücken. Dabei geht völlig unter, daß Louis de Funès mit fast allen seinen Filmen, wenn auch mit vordergründig wirkenden, derb klamaukigen Mitteln, aber eben auch mit teilweise fein ziselierten, zwischen den Zeilen stehenden Dialogen Kritik an der französischen Gesellschaft geübt hat. Richtig ist wohl, daß dies vor allem von den rechtsrheinischen Deutschen selten wahrgenommen wird, da sie in der Regel über die linksrheinischen gesellschaftlichen Gefüge nicht informiert sind und deshalb lediglich den derben Kohlgeruch als gallisch minderwertig und somit barbarisch in der Nase haben. Und die Vorverurteilung wird durch die Eindeutschung der Witze noch verstärkt. Daniel Buchta La soupe aux choux Von Martin Knepper Ohne jeden Zweifel ist Louis und seine außerirdischen Kohlköpfe das bedeutendste filmische Kunstwerk aller Zeiten. Es ist kaum ein Zufall, daß drei Jahre zuvor Pier Paolo Pasolini sein tragisches Ende finden mußte, um in diesem mit Elementen der Groteske ausgestatteten Drama des Meisterregisseurs Jean Girault die Vollendung seiner zentralen Werkkomplexe zu erfahren. Von parabelhafter Strenge wie Teorema, neorealistisch in der Schilderung der einfachen Menschen wie Accattone, mythisch überhöht wie die Medea, den Zusammenhängen von Regression und Aufklärung, Faschismus und Verdauung nachspürend wie Salò, zugleich jedoch sinnenfroh die Burlesken La Ricotta und Große Vögel, kleine Vögel hypostasierend, ist dieses Spätwerk von Louis de Funès die Erfüllung aller Versprechen, die die Lumière-Maschine Film seit den Tagen von Melies und Griffith einzulösen sich bemüht. Die Handlung ist vordergründig simpel: Claude, ein Bauer an der Schwelle zum Greisentum, lebt mit seinem körperbehinderten Faktotum in ländlicher Zurückgezogenheit, Tröstung in seinem ausgepowerten Witwerdasein nur im Alkohol und dem regelmäßigen Verzehr von Kohlsuppe findend. Die hierdurch erzeugten heftigen Flatulenzen rufen einen Außerirdischen herbei, der im Verlauf des Filmes mehrfach als Deus ex machina fungiert und Claude unter anderem in einer Travestie des Orpheus–Mythos seine um fünfzig Jahre verjüngte tote Gattin wiedergibt, ihn zum Millionär macht und zuguterletzt mitsamt seines Grundstücks und des treuen Gefährten auf seinen Heimatplaneten Oxo transportiert. Auf dem Weg zu diesem Finale, das zugleich die Quintessenz aller Kontaktaufnahmephantasien der Spielberg/Lucas–Filmschule darstellt, gelingen Girault und de Funès Szenen von unglaublicher Prägnanz und geistiger Schärfe. Wohl selten ist das Postulat der kritischen Theorie, wonach Aufklärung, die sich in den Dienst der Zementierung von Herrschaft stellt, ein Phänomen des Massenbetruges ist, überzeugender dargestellt worden, als in jener Szene, in der die vordergründig intakte Lebensumgebung von Louis und Francis umstellt von einem gigantischen Zaun ist, auf dessen anderer Seite die restliche Dorfbevölkerung die alten Männer, die sich dem Bau eines Freizeitparks widersetzen, der von einem skrupellosen neoliberalen Bürgermeister unter der menschenverachtenden Prämisse der Beseitigung von Arbeitslosigkeit initiiert wurde, mit Erdnüssen beworfen werden. Die Travestie des Orpheus–Mythos ist von unerreichter Meisterschaft: Sind es letztlich Claudes Darmwinde, die ihm seine verstorbene Gattin zurückbringen, so läßt er sie doch leichten Herzens fahren (sic), nachdem er sie zuvor als Friedhofsdirne und Puderdose apostrophiert hat. Auch schauspielerisch vermag der Film zu überzeugen: In einer seltenen Subtilität beim Einsatz seiner mimischen Mittel atmet de Funès Darstellung des Bauern Claude etwas vom verdämmernden Glanz Heinrich Schütz‘ Schwanengesang, gepaart mit der Intensität eines späten Bernhard Minetti. Ein Film, der einem Atemzug mit Godards Maskulin/Feminin genannt werden müßte, würde hierdurch nicht die singuläre Qualität von Giraults Meisterwerk in unangemessener Weise relativiert. Angemerkt sei von redaktioneller Seite aus noch, daß Choux nicht mit (Weiß-)Kohl (= Choucroute = Sauerkraut) übersetzt werden sollte, sondern daß der eher dem Wirsing gleichkommt, einem ungleich edleren Gemüse.
Ratlose Flics In Frankreich mit dem PKW unterwegs sein und Geschwindigkeitsbegrenzungen oder Überholverbote einhalten, sei es inner- oder außerorts, das heißt: den Verkehr behindern. Das war und ist so im Land der Automobile mit Kennzeichen, die mit Kreide beschriftet sind — auch nach verstärkten Kontrollen und der Einführung von TÜV oder des Strafpunktesystems nach gut deutschem Flensburger Beispiel. Eines der kuriosesten Beispiele französischer exekutiver Disziplinierungsversuche war im Sommer in der Bourgogne zu vermelden: der Versuch der Gendarmerie, rücksichtsvolle Autofahrer mit Benzingutscheinen zu belohnen. Da es den Uniformierten trotz tagelanger, landesweiter Beobachtung des Individualverkehrs nicht gelingen wollte, einen höflichen Autofahrer oder eine mitdenkende -fahrerin zu ermitteln, reduzierten die Behörden die Versuchsanordnung erheblich: Mit teurem Essence beschenkt werden sollten lediglich diejenigen, die sich im wesentlichen an die Straßenverkehrsordnung hielten. In der Folge war unter den pilotierenden Galliern dann das Chaos endgültig ausgebrochen. Denn als die einigermaßen Gesetzes-Treuen zur Belobigung bzw. Prämierung an den Straßenrand gewunken werden sollten, waren die sich jedoch sicher, zumindest einen Regelverstoß begangen zu haben — und gaben Gas. So erfolgte eine abermalige Zurücknahme. Bei den mittlerweile ‹normalen› Verkehrskontrollen verteilten die Flics Benzingutscheine an diejenigen, die einen gültigen Führerschein besaßen und weniger als 1,2 Promille intus hatten. Laubacher Feuilleton 15.1995, S. 11
In der Geisterbahn Erlebnisse eines indonesischen Hähnchens Der Andrang ist so groß, daß man, zu zehnt in Kisten hockend, stundenlang warten muß, bis der Nervenkitzel beginnt. Alle piepsen erwartungsvoll, ein paar Feiglinge wimmern. Endlich ist es soweit. Kopfüber werden wir eingehängt; das steigert die Spannung. Nach einigen Metern ratternder Fahrt kommt eine Kurve und schon der erste Höhepunkt: ein Wasserbad; pikanterweise nur für den Kopf und durchstromt! Da stockt jedem der Atem. Die Gliederstarre ist noch gar nicht überwunden, da geht's einem bereits ziemlich scharf an den Kragen, aber der Kopf bleibt zum Glück dran. In einigen Mäandern fahren wir weiter, es ist fast ein bißchen langweilig, doch ein heißes Bad bringt dann etwas Abwechslung. Aufregend wird's erst wieder in der dunklen Rubbelmaschine. Ob man will oder nicht — man muß die Federn lassen und kommt völlig nackt wieder heraus. Da ich aber kurz darauf den Kopf verliere, mache ich mir darüber keine Gedanken mehr. Beim Umsteigen auf ein anderes Gefährt bleiben die Füße zurück. Wir brauchen sie wohl auch nicht mehr — für das, was jetzt folgt. Hinter jeder Biegung trifft man auf eine neue, raffinierte und geräuschvolle Überraschung. Es könnte einem fast schlecht werden, würden einem nicht gerade noch rechtzeitig die Eingeweide entfernt. Danach fühlt man sich richtig leicht und unbeschwert — die Fettleber war sicher sowieso nicht gesund. (Im Kreisel wird's jetzt kalt und feucht: So etwa stelle ich mir eine Autowaschanlage vor.) Plötzlich fällt man auf eine Rutsche, wird aber von einer fleißigen Türkin sofort wieder aufgehängt, dieses Mal an einem Arm; es war ja auch Zeit für einen Stellungswechsel. Jetzt scheint der Spaß bald zu enden, denn vor mir purzeln alle in glänzende Edelstahlcontainer. Hoffentlich tut's nicht weh. Nein, ich lande nämlich weich auf einem Berg von Kameraden. Und was gänzlich phänomenal ist: sie haben uns nach Gewicht sortiert. Zuerst mußten die Dürren aussteigen, zuletzt die Übergewichtigen. Die dürfen noch eine kleine Runde auf einem Karusell drehen, wobei ich nicht weiß, was sie dabei erleben dürfen. Die Anorektischen kommen in einen großen Plastikkübel. Wir werden von den fleißigen Türkinnen sauber verpackt und in die Kühlung geschoben. Das ist sehr ungemütlich, da wir «deutschen Hähnchen» doch eigentlich aus Indonesien stammen und sogar die üblichen mitteleuropäischen Temperaturen schon schlecht vertragen. Trotzdem — ein einmaliges Erlebnis, und das bereits im zarten Alter von sechs Wochen! Aber angeblich soll es uns schon bald wieder sehr warm werden. Elisabeth Krüger ist praktische Tierärztin in München Laubacher Feuilleton 15.1995, S. 15
Eurogrenzer Ich habe die ehrenvolle Aufgabe, die europäische Grenze zu bewachen. Wenn ich die Schweine erwische, die unsere Küstenwachboote lahmlegen! Zucker in den Tank! Da verreckt ja jeder Motor. Zucker! Denen werde ich so lange Zucker in den Arsch blasen, bis er ihnen zu den Schweineohren wieder rauskommt. Terroristen. Saboteure. Euch leg' ich das Handwerk! Wie schaffen die das nur? Die Küstenwachboote liegen einen Kilometer von der Küste entfernt. Da muß einer Lungen haben, die sich denen wie Pariser. Puh, ist das heiß hier. Verdammte Hitze. Es bewegt sich, unser kleines Muränchen. Unser bestes Schiff. Macht 30 Knoten. Scheint alles in Ordnung zu sein. Früher stand ich auf Grenzbeobachtungsposten an der Oder. Tja, das waren noch Zeiten. Da hatten wir feinste Techniken, um die Migranten fernzuhalten. Infrarotnachtsichtgeräte. Elektronische Bewegungsmelder. Skatkarten. Und eine Hundestaffel — wwwwouw! Und hier? An der spanischen Südküste? Was hab ich hier? Ein Fernglas und einen Esel. Ich, der Eurogrenzwächter Pierre Schimanski verfolge auf einem Esel eine Gruppe junger, schneller Menschen. Menschen? Ach, was sage ich?! Terroristen! Und bei jedem Olé-Ruf wirft dieser Bock mich ab. Ich glaube, die Behörden hier unten, diese Kanakken, verscheißern mich. Dabei beschütze ich doch nur die freiheitliche europäische Grundordnung. Verdammt heiß. Ja, die Oder. Ein schöner langer, ruhiger Fluß. Da konnte man noch entlanggehen. Und hier? Lauter Buchten, Felsen, hinter denen sich dieses Gesocks versteckt. Höhlen, die tief ins Land reingehen. Das kann man doch nicht alles abgehen, bei diesem Riesenküstenabschnitt, den ich zu bewachen habe. Also erleichtert man sich die Arbeit ein wenig. Eine schöne Sache, so eine Dynamitstange. In jede Bucht ein paar von diesen Dingern, und schon tauchen die Burschen auf. Ich meine, ich hab's erst einmal gemacht. Die Badegäste waren ganz schön sauer. Aber woher sollte ich auch wissen, daß da welche baden ... Oho, was ehe ich denn da? Ein Neuankömmling? Zwei Hosen. Vassili Mossiadis Kyriakykladis, verheiratet mit Tadoh Weah. Und der andere? Jan van Mechelen. Van! Ehefrau Fatumata Obasanjo. Dieser Zuckerbäcker. Das sind die, die unseren Küstenwachbooten Zucker in die Tanks blasen. Die wollen ihre Sippe aus Afrika rüberholen. Euch Brüdern werde ich das Handwerk legen. Auf, Schimanski, auf den Esel. Jürgen Mumm Notiert im April 1993 im Basler Isaak-Theater; aus dem Programm Friedenstruppen von Cabaret + Mumm (Jürgen Mumm und Jürgen Beißwenger) Laubacher Feuilleton 10.1994, S. 16
Hoch und Niedrig, Arm und Reich Oh, mit dem Mangel bin ich vertraut, in meine vier Wänd geniert er mich wenig, der dürre lumpige Kamerad — aber unter die Leut gehn damit — das is eine Tortur, der meine Nerven nie gewachsen waren. zu Haus nix zu essen haben, das is wohl traurig, aber weit fürchterlicher ist eine Diner-Einladung, wo einen das Verhängnis zu einem unerschwinglichen Chapodl, zu unmögliche Glacéhandschuh zwingt. Da setzt man das Teuerste dran, da wird das Palladium verpfändet; denn die Not ist noch ein Genuß gegen die Notwendigkeit, die Not zu verbergen. Der Schützling , II, 4 Die Welt scheint sehr glatt, wenn man sie auf lackierten Wagenrädern befährt, die Welt scheint nicht uneben, wenn man sie mit guten Stiefeln betritt; aber die Welt ist fürchterlich rauh: das kann nur der beurteilen, der öfters auf ihr herumspaziert. Die beiden Herren Söhne , IV, 5 Sie reden von Ihren Rechten der Geburt, und ich studier grad, ob es recht is, daß Sie geboren sind. Mein Freund , II, 23 Man redet gegen die Lotterie, ohne zu bedenken, daß sie die einzige Spekulation der Armen ist. Die Lotterie verbieten heißt: dem das Reich der Träume verwehren, dem die Wirklichkeit ohnedies nicht geboten. Nachlaß Komische Typen In der Kleinstadt-Apotheke Kunde: Müssen S' nicht übelnehmen, Herr Ratsvorstand, aber der Doktor sagt, das is ganz was anders, als was er verschrieben hat. Apotheker (die Medizinflasche prüfend betrachtend): Den Matthies soll der Teufel holen. Kunde: Manchmal macht's doch ein Unterschied, ob man das einnimmt oder das. Apotheker: I glaub's! Sie sind ein Hämorrhoidarius, und das is a Augenwasser. I schick Ihnen heut schon noch's Rechte. Kunde: Ich empfehl mich gehorsamst! Apotheker (aufgebracht): Das ist der dritte Fall in einer Wochen! 's Pintscherl von der Baronin hat er umbracht! Statt Rosenhonig — Cremor tartari! Philippine (ihren Verlobten in Schutz nehmend): In der Zerstreuung is bald was g'schehn. Ein Pintscherl auf oder ab — Apotheker: Da liegt freilich nix dran, aber die einzige Baronin, meine beste Kundschaft, is aus Rache oder Verzweiflung homöopathisch wor'n. Der hektischen Tabakkramerin hat er statt Eibischteig ein Diachilumpflaster geb'n, ganze vierundzwanzig Stund hat sie's Maul nicht aufbracht —! Philippine: Drum war s' auch's Tags drauf viel besser auf der Brust. Apotheker: Der Erfolg entscheidet nicht! — Dem will ich jetzt a Wetter machen. Theaterg`schichten, I, 1,2 Johann Nestroy Laubacher Feuilleton 1.1992, S. 12 aus: Närrische Welt, R. Piper & Co. Verlag, München, o. J.
Corrida. Madrid. Oman. Der bullige Prediger, der neulich wie vom Rinderwahn geschüttelt am Fuß der Nelson-Säule auf dem Trafalgar Square seinen geduldigen Hörern apokalyptische Ängste einjagte, fiel mir zunächst als einziges zum Thema Tierschutz ein. Auch archetypische Symbole und massenpsychologische Erklärungsmuster verschwanden schnell in der Erregung unter der Haut und dem widersprüchlichen Gefühlsgemisch, das der Versuch möglichst unverstellter Wahrnehmung hinterließ. Zwischen Mai und Juni ist im großen Stadion von Madrid Hochsaison: die Elite der Matadore und täglich sechs Stiere vor 25.000 Zuschauern. Garcia Marquez, als er hier letzte Woche sein neues Buch vorstellte, beklagte im Fernsehen, daß er keine Karten mehr bekommen habe, worauf sie ihm zugeflogen sein sollen. Sie fliegen einem zum halben Preis auch zu, wenn man fünf Minuten vor dem Augenblick kommt, in dem der erste Stier aus dem Holztor sprengt. Auch der Staatspräsident mit Leibwache kommt in letzter Minute. Dann ist die Arena genau in der Mitte in eine Sonnen- und eine Schattenseite geteilt. Die Vorzugsplätze liegen im Schatten. Der Schwarzmarkt scheint zu blühen, von den kleinen Dealern bis zu den großen Bossen, die nach dem Schlachtfest ihre schweren Limousinen demonstrativ durch die entlasteten Massen schieben. Diese latente Gewalt erinnert auch daran, daß Menschenopfer im Straßenverkehr kein Thema und schon gar kein Fall für öffentliche Veranstaltungen sind, sondern in einen Versicherungsfall und eine persönliche Katastrophe zerfallen. Zwischen sieben und halb zehn Uhr, bevor es in der Dämmerung nochmal richtig losgeht, der Durst in der Kehle gelöscht und die Erregung im Kopf debattiert wird, ist es ruhig um die Stände mit den Devotionalien der Stierkampf-Folklore, mit Getränken, Nüssen, Zigarren und Hüten. In den umliegenden Straßenkneipen gönnen sich die Kellner eine Verschnaufpause. Dann kann man hier ohne Gedränge beim Bier den Kampf auf dem Bildschirm verfolgen oder dort das pompöse Stadion aus Ziegel und die Apotheosen der Helden in Bronze betrachten. Wo sich in der rührseligen Tradition verblichener Friedhofsplastik ein geflügelter Genius nackt über die Requisiten beugt, steht der Satz: «Es starb ein Torero, ein Engel wurde geboren.» Das geschah erst in den achtziger Jahren. Beginn und Ende der Schau, der Einzug der Charaktere und ihr von einem Triumphzug überhöhter, von einem schmählichen Abzug erniedrigter Auszug, sind ritualisiert und selbst substantiell. Sie brauchen keine An- und Abmoderation, weder Talkshow-Geschwätz noch Olympiade-Pathos. Man kommt schnell zur Sache. Das Publikum kennt die Regeln, den Ablauf und die Kämpfer. Lediglich eine in die Mitte getragene Tafel kündigt den nächsten Bullen an, sein Gewicht großgeschrieben. Schon ist er da und stürmt los. Mit einer Fanfare beginnt jede neue Sequenz der sechs Kämpfe. Ist das Tier schließlich zusammengebrochen, dann wird nach dem Todesstoß eine Schlinge an seinem Horn befestigt. Ein Dreigespann, wie Braurösser aufgeputzt, schleift den Kadaver im Bogen zum Ausgang. Hat sich der Stier während der kurzen öffentlichen Kulmination seiner Lebenszeit zäh und kraftvoll gegen die ruhige Eleganz des überlegenen Gegners gewehrt, dann bekommt er postmortalen Applaus. «Toro» ruft ihm die Masse nach, manchmal fliegen sogar Blumen. Enttäuscht er die Erwartungen schon am Anfang, worüber vor allem die Profis in Abschnitt 7 durch Buhrufe und durch das Schwenken grüner Tücher entscheiden, so wird er ausgewechselt. Einige Augenblicke steht er dann verlassen im weiten Rund der Arena vor 25.000 Augenpaaren, bis eine kleine Herde scheckiger Ochsen hereintrottet. Sie umzingelt ihn und drängt ihn gelassen hinaus, wo den Versager das unheroische Ende im Schlachthaus erwartet. In den Abschnitten, in denen die Sonne auf die Zuschauer brennt, bewegen unzählige Fächer die steil ansteigenden Sitzreihen wie eine konkav nach oben gekippte Wasseroberfläche bei leichter Brise, wenn es so etwas gäbe. Sie widerlegen die weitverbreitete Ansicht, der Stierkampf sei die ausschließliche Domäne der südlichen Macho-Gesellschaft. Dabei scheint die Branche, die in ihrer streng geregelten Opfer-Liturgie ja auch sakrale Züge hat, zumindest in der Frauenfrage weiter zu sein als die gerade in Spanien besonders konservative katholische Kirche, obwohl diese schon lange das Opfer in der Messe unblutig vergegenwärtigt. Ein Torero kann jetzt auch weiblich sein. So durfte Christina Sanchez, zum Matador ordiniert, diesmal als erste Frau in der Hochsaison von Madrid auftreten. Bei der Abschlußrunde im Stadion ist die Sonne untergegangen. Im Scheinwerferlicht glitzern die Goldtressen des letzten Toreros. Schon im Erscheinungsbild hebt ihn das Funkeln über die Vorgänger und steigert seinen vorangegangenen Auftritt. Vielleicht will es die Regie so, zumindest war der letzte an den beiden Abenden der Star. Der Mythos des ungleichen Kampfes braucht den Star, er scheint nach dem Großkünstler zu schreien. In der Reaktion des Publikums ist der beste Matador nicht nur etwas besser als die anderen beiden. Er ist der Held, die anderen sind die Flaschen. Die finstere Kreatur muß eh dran glauben, aber zuerst ihre triebhafte Urkraft vorführen, die der Torero durch seine Souveränität aus dem angestochenen und gereizten Tier herauszuholen hat. Je besser er das schafft und je wilder der Stier, umso ehrenvoller für seinen Bezwinger. Nur der kühnste, geschickteste und disziplinierteste wird gefeiert, aber dann enthusiastisch. Ein Heroenkult wie auf den mythologischen Bildern im Prado und in anderen Weltkunstmuseen, die dem Massenandrang der Saison als Quintessenz abendländischer Kultur neben der Madonnen-Idylle ebenfalls blutiges Hauen und Stechen bieten. Wenn der jugendliche Held zum Schluß, Stolz in der Brust, siegesbewußt um die Arena stolziert oder auf den Schultern seiner engsten Fans getragen wird, die sich manchnmal um diese Ehre rangeln, winkt ihm zum rhythmischen «Torero»-Ruf eine Schaumkrone weißer Tücher. Auch Hüte fliegen. Ein mexikanischer Matador bringt mexikanisches Gefolge. Sombreros segeln besonders gut. Aber das Hoch zum Finale gilt dann doch dem Spanier. Die beiden weniger brillanten Kämpfer müssen mit ihrer Equipe die Arena unter Pfiffen und Buhrufen durchqueren, den Kopf so eingezogen wie beim Favoriten die Brust geschwellt. Von den Rängen fliegen statt Blumensträußen die braunen Polster in den Sand, die man zuvor für 150 Peseten seinem Gesäß gegönnt hat. Das ganze Schauspiel wirkt ebenso prächtig wie regressiv, so stimulierend wie tief verwirrend. Während die Prozeduren der Tierverwertung sonst hinter nur scheinbar keimfreien Fabrikgrenzen dem öffentlichen Blick entzogen werden, ist man hier dem rituellen Rinderschlachten ausgeliefert und in die Massenekstase eingesogen. Sie scheint die Tieropfer für die Vitalität, einen Heros für den Jubel und Verlierer für die Verachtung zu verlangen. Sie fasziniert und schlägt zugleich im Rausch ihrer rüden Eigendynamik jeder aufgeklärten Differenzierung ins Gesicht, für die ein archaischer Triumphalismus mit seiner brutalen Kehrseite zur chauvinistischen Erbsünde gehört. Auch im Sultanat Oman gibt es Stierkämpfe, aber damit enden bereits die circensischen Gemeinsamkeiten trotz der arabischen Vorgeschichte in Spanien. An jedem mohamedanischen Sonntag, der dort ein Freitag ist, schaffen Toyota-Pickups auf ihren Ladeflächen Stiere mit kamelartigen Höckern aus den umliegenden Gütern zum westlichen Rand der ausgedehnten Capital Area, die verkürzt Muskat heißt. Außer seltenen Touristinnen sieht man in dem unscheinbaren Wüstenstadion keine Frauen. Dabei seien sie in diesem relativ liberalen islamischen Staat ebenso im Kommen, wie weltläufige Omanis versichern. Es gibt auch keinen Torero. Nur Tierführer, die wie die Zuschauer das helle, bodenlange Dishdash tragen, das sich wie der weißgestrichene Betonring um die Arena blendend vom gelblichen Grund abhebt. Der Zugang ist frei, der Sand innen wie außen derselbe. Es ist mindestens zehn Grad wärmer als in Madrid. Nur die roten Berge in der Nähe und vereinzelte dürre Baumäste erheben sich über die flache Szene. Rings vor den paar schmucklosen Sitzreihen warten die angepflockten Tiere, bis sie paarweise gegeneinander losgelassen werden. Nichts bezeichnet Bullen oder Züchter, nichts Anfang oder Ende. Es fängt einfach an und hört einfach auf, wenn die Runde durch und die Sonne untergegangen ist. Außer verhaltenem Palaver und gelegentlichen Zurufen ist es ruhig. In langer Reihe hocken die Züchter herrschaftlich auf dem Boden vor dem Publikum, das patriarchale Bambusstöckchen in der Hand oder neben sich aufrecht in den Boden gesteckt. Auch sonst kann man ungehindert ins Kampffeld, aus dem einen niemand außer den Kampfstieren verscheucht, wenn sie schnaubend zu nahe kommen. Es geschieht, daß ein Bulle den anderen quer über das Feld schiebt. Oder daß sie sofort wild aufeinander losgehen und in einer Staubwolke verschwinden, um die der Schiedsrichter und die Wärter mit Stricken herumtänzeln. Es geschieht auch, daß zwei stehenbleiben und nicht mögen. Oder daß einer meist geradlinig zustößt, während der andere von der Seite kommt. Oder der eine erscheint schwach und gerät erst nach einigen Schlappen richtig in Rage. Oder sie stemmen sich mit ihrem Schädel gegeneinander, und keiner weicht von der Stelle: gleichstarker Druck statt gleichstarkem Zug wie bei den Champions im oberbayerischen Fingerhakeln. Oder daß einer sofort abhaut, durch eine der Öffnungen im Ring verschwindet und dann irgendwo zwischen Wüste und Autobahn wieder eingefangen werden muß. Kundige parken deshalb ihren Wagen möglichst fern von den Ausgängen. Selten verletzen sich die Tiere. Ein Blick auf Fischer und Fleischer im Land zeigt schnell, daß man sich auch hier keine Illusionen über Tierliebe machen darf, wenn auch die Pflege einheimischer Arten und Nahrungsketten zur Staatsräson gehört und die Ziegenherden das ökologische Gleichgewicht bedrohen. Die Bullen sind zu kostbar, um sie zu opfern, und das Jahr hat viele Freitage. Der Schiedsrichter bestimmt den Sieger, wovon der Uneingeweihte meist kaum etwas bemerkt. Stricke werden rasch um die Hinterläufe geschlungen und die Kämpfer auseinandergezerrt, um an kurzer oder langer Leine zu ihrem Pflock zurückzutrotten. Keine Spur von öffentlicher Ehrung oder Verdammung. Statt für den Kick durch den beschleunigten Blutkreislauf und für die Inszenierung schicksalhafter Symbolik, unter Beifall oder in Schande zu sterben, dürfen sie mit ihrem Leben auch ihr Gesicht wahren. Thomas Zacharias Laubacher Feuilleton 20.1996, S. 16 Die Photographie stammt von Jean-Pierre Jeannin und steht unter CC.
Faulheit, Sinnlichkeit, Phantasie und Lust Gälte es, Typisches über Brasilien zu sagen, fiele den meisten Europäern wohl ein: Fußball, das unwirtliche Amazonasgebiet, die Copacabana, natürlich Rio und der Carneval, und vielleicht noch VW do Brasil. Bei der Frage nach Landessprache kämen jedoch schon viele in Bedrängnis. Brasilien ist das einzige südamerikanische Land, in dem portugiesisch gesprochen wird, die Sprache der ehemaligen Landesherren, der portugiesischen Kolonialisten. Und darin steckt auch die Frage nach der Kultur dieser süd-, lateinamerikanischen Republik mit ihren 8,5 Millionen Quadratkilometern und 105 Millionen Einwohnern. Wie überall, wo die vor allem europäisch-christlichen Eroberer auftauchten, drückten sie den in Beschlag genommenen Ländern den Stempel ihrer Heimat auf. So entstand auch in Brasilien im Lauf der Jahrunderte eine vom europäischen Denken bestimmte Mischkultur, stark beeinflußt von christlicher Ethik. Den Anstoß, solche überkomrnenen Werte aufzubrechen, gab 1917 Anita Malfatti, deren expressionistischen Bilder, so der Schriftsteller Mario de Andrade, «die Modernisten aus den Höhlen holte». Ihre Ausstellung entflammte damals den Zorn der Konservativen. Zwischen 1920 und 1922, dem Jahr der hundertsten Wiederkehr der brasilianischen Unabhängigkeit, formierte sich in São Paulo eine modernistische Künstlergruppe, die lautstark polemisierte. In ihr befanden sich jedoch zwei Schriftsteller, die nicht nur einfach gegen das ungeliebte Überlieferte aufbegehrten. sondern vielmehr ein neues, ausgeprägtes soziales und ästhetisches Bewußtsein hervorriefen: Mario und Oswald de Andrade. Sie passierten den kulturellen Eintopf Brasiliens durch das Sieb eines positiven nationalen Aufbruchdenkens, und dieser Bodensatz bildete dann den Extrakt einer eigenständigen Kultur, deren Ingredenzien lauteten: Die Erhebung der Umgangssprache zur Kultursprache, die Aufwertung der Volksmusik, der Volksdichtung und populärer Traditionen (ein bei uns ungeliebter Begriff), und vor allem die Anerkennung der Freude als ausschlaggebendes Merkmal des brasilianischen Wesens. Das wiederum geht auf in der Figur des Macunaíma, eines brasilianischen Phönix. Mario de Andrade war es, der diesem Macunaíma ein literarisches Zuhause schuf: Er schrieb 1926 den gleichnamigen Roman. Fast 50 Jahre später entstand aus der Feder von Jacques Thièriot eine Bühnenfassung, die ab 1978 unter der Regie von Antunes Filho vor allem in süd-, aber auch in nordamerikanischen Theatern bislang fast 450 mal aufgeführt wurde. Für das (von mir beim Festival von Nancy gesehene) vierstündige Spektakel der Grupo (de arte) Pau Brasil hagelte es internationale Auszeichnungen, die Kritik sprach von der besten brasilianischen Inszenierung der letzten zehn Jahre, und das Publikum stimmte ein in diesen hymnischen Chor. Und tatsächlich: Das sollte man sich nicht entgehen lassen, auch dann nicht. wenn man kein einziges Wort Portugiesisch versteht. Macunaíma ist durch alle vier Akte hindurch unverkennbar ein brasilianischer Mann ohne (europäische) Eigenschaften, sein Blick und sein Geist sind und werden durch nichts. getrübt. Er ist gekennzeichnet von den (brasilianisch-symbolhaft angedeuteten) wesentlichen Zügen seiner Persönlichkeit. Faulheit, Sinnlichkeit, Phantasie und Lust. Wie er auf seiner tropischen und ab dem zweiten Akt städtischen Odyssee durch diese dramaturgisch effektvoll aneinandergereihten, gleichermaßen epischen und kostümfreudigen Bilder immer wieder aufsteigt aus der Asche einer von tränenreicher Ästhetik überlieferten Kultur, ist das die absolute Verneinung des ewigen Nein-Sagens: ein wahrlich fröhlicher Nachruf auf die Larmoyanz portugiesisch-brasilianischer Literatur. Im Stil eines dauerlaufenden Sprinters erlebt Macunaíma vom Stamm der Tapanhuma die Reise zum Ende der Welt, wohin seine Mutter ihn aus Strafe geschickt hat. Auf dieser Expedition in die zivilisierte Weit stirbt er ein paarmal, um immer wieder zum Leben erweckt zu werden. Als er aus dem Urwald kommt, ist die Weit, in die er zwangsläufig gerät, seltsamen Wandlungen unterworfen. Nach dem Verlust des gemeinsamen Kindes steigt Macunaímas Frau, die Königin des Dschungels, als Stern zum Himmel empor; sein Talisman landet bei einem Riesen, der als menschenfressender Geldprotz, französisch parlierend, erscheint, umrahmt von scheinbar degeneriert-blöd dreinblickenden, statuarischen Mädchen; ein Affe bringt den immerwährenden Verführer Macunaíma dazu, sich die Hoden zu zertrümmern. Und es sind der Bilder so viele mehr, deren letztes ihn nicht als einfachen Stern, sondern als Sternbild des Großen Bären zeigt: die letzte Station auf der Suche nach einer Identität, einer brasilianischen. In dem Stück wird mit dem (brasilianischen) Ewig-Gestrigen abgerechnet, aber nie per Zeigefinger. Hier fährt kein Mephisto einem Doktor Faust in den Geist. Der Geist des brasilianischen Volkes pulsiert durch den gesamten Körper, und der ist hier verkörpert durch die Grupo de arte pau brasil, die zeigt, was (vergleichsweise) bei Shakespeare zwischen den Zeilen steht: die Lust an der Lust. Und damit ist nicht nur die am Theater gemeint. Sondern die am Leben, zum Beispiel. Einen außerordentlichen deutschsprachigen Eindruck (über das gesamte Lateinamerika) bietet caiman. dbm Laubacher Feuilleton 11.1994
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