Faulheit, Sinnlichkeit, Phantasie und Lust

Macunaíma, 1978 • Acervo Idart/Centro Cultural São Paulo • Theatro São Pedro, São Paulo
Photographie: Ruth Toledo

Gälte es, Typisches über Brasilien zu sagen, fiele den meisten Europäern wohl ein: Fußball, das unwirtliche Amazonasgebiet, die Copacabana, natürlich Rio und der Carneval, und vielleicht noch VW do Brasil. Bei der Frage nach Landessprache kämen jedoch schon viele in Bedrängnis. Brasilien ist das einzige südamerikanische Land, in dem portugiesisch gesprochen wird, die Sprache der ehemaligen Landesherren, der portugiesischen Kolonialisten. Und darin steckt auch die Frage nach der Kultur dieser süd-, lateinamerikanischen Republik mit ihren 8,5 Millionen Quadratkilometern und 105 Millionen Einwohnern.

Wie überall, wo die vor allem europäisch-christlichen Eroberer auftauchten, drückten sie den in Beschlag genommenen Ländern den Stempel ihrer Heimat auf. So entstand auch in Brasilien im Lauf der Jahrunderte eine vom europäischen Denken bestimmte Mischkultur, stark beeinflußt von christlicher Ethik. Den Anstoß, solche überkomrnenen Werte aufzubrechen, gab 1917 Anita Malfatti, deren expressionistischen Bilder, so der Schriftsteller Mario de Andrade, «die Modernisten aus den Höhlen holte».

Ihre Ausstellung entflammte damals den Zorn der Konservativen. Zwischen 1920 und 1922, dem Jahr der hundertsten Wiederkehr der brasilianischen Unabhängigkeit, formierte sich in São Paulo eine modernistische Künstlergruppe, die lautstark polemisierte. In ihr befanden sich jedoch zwei Schriftsteller, die nicht nur einfach gegen das ungeliebte Überlieferte aufbegehrten. sondern vielmehr ein neues, ausgeprägtes soziales und ästhetisches Bewußtsein hervorriefen: Mario und Oswald de Andrade.

Sie passierten den kulturellen Eintopf Brasiliens durch das Sieb eines positiven nationalen Aufbruchdenkens, und dieser Bodensatz bildete dann den Extrakt einer eigenständigen Kultur, deren Ingredenzien lauteten: Die Erhebung der Umgangssprache zur Kultursprache, die Aufwertung der Volksmusik, der Volksdichtung und populärer Traditionen (ein bei uns ungeliebter Begriff), und vor allem die Anerkennung der Freude als ausschlaggebendes Merkmal des brasilianischen Wesens. Das wiederum geht auf in der Figur des Macunaíma, eines brasilianischen Phönix.

Mario de Andrade war es, der diesem Macunaíma ein literarisches Zuhause schuf: Er schrieb 1926 den gleichnamigen Roman. Fast 50 Jahre später entstand aus der Feder von Jacques Thièriot eine Bühnenfassung, die ab 1978 unter der Regie von Antunes Filho vor allem in süd-, aber auch in nordamerikanischen Theatern bislang fast 450 mal aufgeführt wurde. Für das (von mir beim Festival von Nancy gesehene) vierstündige Spektakel der Grupo (de arte) Pau Brasil hagelte es internationale Auszeichnungen, die Kritik sprach von der besten brasilianischen Inszenierung der letzten zehn Jahre, und das Publikum stimmte ein in diesen hymnischen Chor.

Und tatsächlich: Das sollte man sich nicht entgehen lassen, auch dann nicht. wenn man kein einziges Wort Portugiesisch versteht. Macunaíma ist durch alle vier Akte hindurch unverkennbar ein brasilianischer Mann ohne (europäische) Eigenschaften, sein Blick und sein Geist sind und werden durch nichts. getrübt. Er ist gekennzeichnet von den (brasilianisch-symbolhaft angedeuteten) wesentlichen Zügen seiner Persönlichkeit. Faulheit, Sinnlichkeit, Phantasie und Lust.

Wie er auf seiner tropischen und ab dem zweiten Akt städtischen Odyssee durch diese dramaturgisch effektvoll aneinandergereihten, gleichermaßen epischen und kostümfreudigen Bilder immer wieder aufsteigt aus der Asche einer von tränenreicher Ästhetik überlieferten Kultur, ist das die absolute Verneinung des ewigen Nein-Sagens: ein wahrlich fröhlicher Nachruf auf die Larmoyanz portugiesisch-brasilianischer Literatur.

Im Stil eines dauerlaufenden Sprinters erlebt Macunaíma vom Stamm der Tapanhuma die Reise zum Ende der Welt, wohin seine Mutter ihn aus Strafe geschickt hat. Auf dieser Expedition in die zivilisierte Weit stirbt er ein paarmal, um immer wieder zum Leben erweckt zu werden. Als er aus dem Urwald kommt, ist die Weit, in die er zwangsläufig gerät, seltsamen Wandlungen unterworfen. Nach dem Verlust des gemeinsamen Kindes steigt Macunaímas Frau, die Königin des Dschungels, als Stern zum Himmel empor; sein Talisman landet bei einem Riesen, der als menschenfressender Geldprotz, französisch parlierend, erscheint, umrahmt von scheinbar degeneriert-blöd dreinblickenden, statuarischen Mädchen; ein Affe bringt den immerwährenden Verführer Macunaíma dazu, sich die Hoden zu zertrümmern. Und es sind der Bilder so viele mehr, deren letztes ihn nicht als einfachen Stern, sondern als Sternbild des Großen Bären zeigt: die letzte Station auf der Suche nach einer Identität, einer brasilianischen.

In dem Stück wird mit dem (brasilianischen) Ewig-Gestrigen abgerechnet, aber nie per Zeigefinger. Hier fährt kein Mephisto einem Doktor Faust in den Geist. Der Geist des brasilianischen Volkes pulsiert durch den gesamten Körper, und der ist hier verkörpert durch die Grupo de arte pau brasil, die zeigt, was (vergleichsweise) bei Shakespeare zwischen den Zeilen steht: die Lust an der Lust. Und damit ist nicht nur die am Theater gemeint. Sondern die am Leben, zum Beispiel.

Einen außerordentlichen deutschsprachigen Eindruck (über das gesamte Lateinamerika) bietet caiman.

dbm

Laubacher Feuilleton 11.1994
 
Do, 07.05.2009 |  link | (2133) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Theatralisches






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