«Ein Jones wird schneller vergessen»

William Kotzwinkle lebt und hat gerade ein neues Buch geschrieben. Wer bitte? Hans Pfitzinger, sein langjähriger Übersetzer, ruft einen Kultautor ins Gedächtnis.

Ich bin Fan. Ohne wenn und aber. Von William Kotzwinkle. Zugegeben, der Name hört sich etwas punkig an. Nicht, wenn man ihn amerikanisch ausspricht: Katzwinkl. «Als ich zum ersten Mal mitgekriegt habe, wonach das klingt im Deutschen — puke corner —, da war ich peinlich berührt.» Kotzwinkle verzieht den Mund zu einer breiten Grimasse. «Aber andererseits, ich stehe dazu, es ist der Name meines Vaters.» Wahrscheinlich schrieb der Einwanderungsbeamte auf Ellis Island den Namen so, wie er ihn amerikanisch schreibt, wenn er Katzwinkel hört, mit o. Katzenwinkel, das bedeutete im Altdeutschen «kleiner Winkel». Dort hatten die Vorfahren wohl ihren Wohnsitz, und danach wurden sie genannt. Kotzwinkle sieht auch einen Vorteil: «Den Namen merkt man sich — ein Jones wird schneller vergessen.»

Haben Sie jemals The Fan Man gelesen? Wenn Sie jetzt sagen, ich weiß nicht, ich kann mich nicht erinnern, dann heißt das: Nein. Jeder, der Fan Man gelesen hat, kann sich auch nach dreißig Jahren daran erinnern. Der Fan Man, Horse Badorties, ist Komponist für Neue Musik und rennt einen heißen Sommer lang durch New York, um minderjährige Mädchen zu finden, die sein Chorwerk für 30 Jungfrauenstimmen und ebenso viele japanische Taschenventilatoren (fans) aufführen sollen. Schon allein der Ausgangspunkt seines Vorhabens ist einfach unvergeßlich: «Da vorn, Mann, seh ich nen Brunnen, Mädels drum rum, Mann, heiße Höschen, abgeschnittene Bluejeans, lange Haare, Perlenketten, und ich geh die steinernen Stufen zum Brunnen runter, um den sich die ganzen Mädels versammelt haben, Arsch Titten Pussy fürn Liebeschor.» Der Fan Man erschien 1971, und verhalf William Kotzwinkle zu einer Berühmtheit als kauziger Außenseiter und Kultautor der amerikanischen Literaturszene.

Zwischen William Kotzwinkle und der von Menschen bewohnten Welt liegt auf der einen Seite ein Wald, fünf Kilometer Schotterweg bis zur Teerstraße. Auf der anderen Seite liegt das Meer, der Atlantik. Der Schriftsteller hat sich vor dreiundzwanzig Jahren auf einer Insel vor der Küste von Maine ein Haus gebaut, das ihm ein Außerirdischer finanziert hat. Der kleine Professor für Botanik vom Grünen Planeten brachte Kotzwinkle Geld und Ruhm, der zum Teil auf einem Mißverständnis beruht: E. T. war gar nicht Kotzwinkles Erfindung, und im eigentlichen Sinne auch keine Science-fiction-Geschichte, denn Film und Roman spielten in der Gegenwart (1981). Kotzwinkle fand ihn von Anfang an unwiderstehlich: «E. T. war die bezauberndste Figur, die seit vielen, vielen Jahren in Hollywood entstanden war.»

Wenn William Kotzwinkle über seinen Anteil am Zustandekommen des Bestsellers spricht, der ihn reich gemacht hat, klingt großer Respekt für die beiden Menschen durch, denen er den Erfolg verdankt: dem Regisseur Steven Spielberg und der Drehbuchautorin Melissa Mathison. Sie hat E. T. erfunden und den Film und das Buch angeregt. Spielberg hatte Kotzwinkles Novelle The Fan Man gelesen, und wollte unbedingt, daß er die Romanfassung nach Mathisons Drehbuch schreibt, ohne den Film gesehen zu haben: «Hey, wir arbeiten zur gleichen Zeit nach derselben Vorlage.» Buch und Film kamen dann auch am selben Tag in die Buchhandlungen und Kinos. Der Roman stand ein Jahr auf den Bestsellerlisten, davon sechs Monate auf Platz eins. Danach war William Kotzwinkle ein reicher Schriftsteller.

Das liegt jetzt 25 Jahre zurück, der Fan Man gar 35. Seither hat Kotzwinkle über zwei Dutzend Romane, noch mehr Kinderbücher, vier Sammlungen mit Kurzgeschichten und Drehbücher nach eigenen Romanen geschrieben. Auf deutsch erfolgreich waren neben dem Fan Man vor allem der Wissenschaftsroman Dr. Ratte, mit dem Kotzwinkle gegen Tierversuche wütet, und Filmriß, in dem die Hollywood-Produzenten von heute die Nationalsozialisten im Dritten Reich abgeben — und umgekehrt. „Das Pharaonenspiel“ führt den Leser ins New York der reichen Kunsthändler, ins alte Ägypten und in ländliche Bordelle mit zehnjährigen Mädchen für die Top-Manager. Das letzte Buch auf deutsch, Ein Bär will nach oben, in dem ein Schriftsteller zum Bären wird, kam vor zehn Jahren heraus, ein Longseller in Deutschland, als Taschenbuch bereits in der sechsten Auflage.

Das alles weiß ich deshalb, weil ich inzwischen ein halbes Dutzend Kotzwinkle-Bücher ins Deutsche übersetzt und wohl mit größerer Spannung als jeder Leser auf den neuen Roman gewartet habe. Zwischendurch hatte mir «mein Autor» mitgeteilt, er sei nach seinen Erfahrungen mit diversen Verlegern nicht mehr bereit, den «Rummelplatz mitzumachen, in den sie diese einstmals wunderbare Kunstform (er meinte das Buchgeschäft; Anm. d. Autors) verwandelt haben. Man muß Schreiben als spirituelle Erfahrung sehen», belehrte er mich, «ede Erwartung darüber hinaus bringt einem nur Depressionen ein.“ Da hatte er gerade mal wieder eine Zusammenarbeit mit dem Illustrator Joe Servello abgeschlossen, The Return of Crazy Horse. Trotz Indianermythologie kam es, wie so viele der illustrierten Kotzwinkle-Bücher, in Deutschland nie heraus.

Inzwischen zeichnet sich ab, daß William Kotzwinkles Ruf als Autor für die übernächste Generation bald nicht mehr von einem Außerirdischen, sondern von einem Hund geprägt wird: Im Sommer 2003 erreichte erstmals wieder ein Kotzwinkle-Buch die Spitze einer Bestsellerliste. Es hieß Walter the Farting Dog (Walter, der furzende Hund), und stand auf Nummer eins bei den Kinderbüchern der New York Times. Audrey Colman, eine Illustratorin aus Berkeley, erstellte die Bilder am Computer, der kanadische Umweltexperte Glenn Murray entwarf mit Kotzwinkle das Konzept für die Walter-Bücher. Inzwischen gibt es bereits die dritte Fortsetzung, mit Übersetzungen ins Spanische und Französische. Der erste Band wurde auch ins Lateinische übersetzt: Walter Canus Inflatus. Kotzwinkle: «Kinder lieben furzende Hunde.»

Ende 2005 war meine Wartezeit vorüber: Ein neuer Kotzwinkle-Roman sollte von mir ins Deutsche übersetzt werden, „The Amphora Project. Das hat mich verständlicherweise höchst entzückt, denn Kotzwinkle übersetze ich am liebsten von allen „meinen“ Autoren.

Was drinsteht im Amphora-Projekt? Wird nicht verraten. Nur so viel, daß Kotzwinkle sechs Jahre auf den Gebieten der Biophysik, der Botanik, der Entomologie, der Nano-Technologie und der künstlichen Intelligenz recherchiert und alle erreichbaren Nobelpreisträger ausgefragt hat. Außerdem ist er den neuesten Trends in der Schönheitschirurgie nachgegangen und hat versucht herauszufinden, welcher Wahnsinnstrieb uns Menschen auf die Idee bringt, unsterblich werden zu wollen. Eine der Hauptfiguren ist ein dicker Weltraumpirat mit dem schönen Namen Commander Jockey Oldcastle, während sein Navigator, eine Rieseneidechse vom Planeten Serpentia, auf den Namen Lizardo hört. Auch wenn sie es gar nicht beabsichtigen, gelingt es den beiden Abenteurern beinahe, das bekannte Universum zu vernichten. Daß sie es dann gerade noch retten — dafür können sie auch nichts.

Hans Pfitzinger


schmoll et copains, 2008
 
Sa, 03.07.2010 |  link | (2081) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Hans Pfitzinger



«Ich bin noch lange nicht fertig»

2005: Gehirnoperation und Tod des Vaters

Im Frühjahr 2005 ließ sich Neil Young von einem Gehirnspezialisten untersuchen. Dabei hat der Doktor ein Aneurysma im Gehirn festgestellt. Young wußte nicht einmal, was das war. Der Arzt hat es ihm erklärt: eine krankhafte Arterienerweiterung. Im Interview mit der Welt am Sonntag konnte er ein halbes Jahr später mit erstaunlicher Gelassenheit darüber reden: «Ich hatte da etwas im Kopf, was raus mußte. Ob und wie das die neuen Songs auf Prairie Wind beeinflußt hat, kann ich nicht sagen. Auch bei den besten Ärzten weiß man nie, wie so eine Operation ausgeht. Am schlimmsten war die Vorstellung, mit einer bleibenden Beeinträchtigung aus der Narkose zu erwachen, und keine Musik mehr machen zu können. Aber ich habe überlebt, und wenn’s nach mir geht, werde ich auch noch eine Weile hier bleiben.»

Kurz nach der Operation begann er mit den Aufnahmen für die CD Prairie Wind, in der Country-Metropole Nashville, wo er auch Harvest (1972) und Harvest Moon (1992) aufgenommen hatte. Dort erreichte ihn im Juni die Nachricht, dass sein Vater, ein ehemaliger Sportreporter, in Toronto gestorben war. Prairie Wind«, das im September 2005 erschien, trug die Widmung «For Daddy».

In diesem Frühjahr ist die Melancholie von Prairie Wind einer neuen Zuversicht gewichen: Ärmel hochkrempeln, es geht weiter. Ein Kinofilm, eine neue CD, eine DVD-Sammlung mit alten Filmen – es ist nicht leicht, bei Neil Youngs Produktivität auf dem Laufenden zu bleiben. Auf seiner Homepage verkündet er im Mai 2006 fröhlich: «I’m tripping down that old Hippie-Highway.»

Schon im WamS-Interview letzten November hatte er angekündigt: «Ich bin noch lange nicht fertig.“

Ob das wohl schon als Drohung gegen George Bush zu verstehen war?

Hans Pfitzinger


schmoll et copains, 2006
 
Fr, 02.07.2010 |  link | (1722) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Hans Pfitzinger



Ciao, Reinhard

Reinhard Hesse ist tot. Ein Unbändiger, der daran zu Grunde gegangen ist, daß er sich hat bändigen lassen. Er hat seine Begabung fürs Schreiben verraten und sich mit der Macht eingelassen, alter Spieler, der er war.

Er hat an den Gitterstäben gerüttelt, die wir alle gesehen haben. Aber als es darum ging, das Gefängnis einzureißen, wie es immer darum geht, hat er sich mit den Aufsehern verbündet.

Schöne ekstatische Momente haben wir erlebt, in relativer Freiheit, in der Metzstraße, als noch die Gisela bei ihm war, und die Andrea bei mir, als er Dalbello auflegte, und Yello: «You gotta say yes to another excess.» Und später in der Agnesstraße, wo er darauf bestand, dass ich nach zwei Whiskys und drei Joints mit ihm die Aufführung einer Sinphonie von Anton Bruckner, dirigiert von Sergiu Celibidache, auf Video ansehe und höre.

Ich hab dich lange nicht mehr gesehen, aber deine Energie wird uns fehlen, lieber Reinhard. Mach's gut, alter Schurke, und lass dir keine falschen Orientteppiche andrehen, dort, wo du jetzt nach dem großen Kick suchst, auf deine orientalisch-deutsche Weise.

Ich bin froh, dass ich dich getroffen habe in diesem Leben. Und über alle Differenzen hinweg kann ich mir vorstellen, dass wir auch im nächsten Leben ein teuflisches Vergnügen an einem bekifften und besoffenen Abend haben können. Doch jetzt ist es erst einmal vorbei.

So weit Männerfreundschaft gehen kann, wenn sich beide als heterosexuell orientiert empfinden, so weit habe ich dich, zeitweise, geliebt. «Und immer, wenn ich große Worte verwende», schrieb Robert Walser einmal sinngemäß, «stelle ich fest, daß sie falsch klingen.» So long, Alter, mach's besser.

Reinhard Hesse, im Nachruf der Abendzeitung als «Chefredenschreiber von Bundeskanzler Schröder» bezeichnet, ist am 11. Oktober 2004 gestorben. Er hat viel getrunken und viel geraucht in seinem Leben. Von der Textredaktion, die Mitte der achtziger Jahre (nach dem überstürzten Abgang der Gründer Gaston Salvatore und Hans-Magnus Enzensberger) die Zeitschrift TransAtlantik weitergeführt hat, bin ich der einzige Überlebende. Einer, der Axel, hat sich am Fensterkreuz seiner Wohnung aufgehängt. Ein anderer, der Michael, hat sich am Wallberg unter einen Baum gelegt und Tabletten eingenommen. Und eine, die Kariane, hat sich mit Alkohol und Zigaretten und der Devise no sports umgebracht. Wie der Reinhard. Vom Werner ganz zu schweigen: Der hat den Hals unter die Räder einer S-Bahn am Münchner Ostbahnhof gelegt.

Von allen weiß ich, daß sie insgesamt kein schönes Leben hatten. Aber manchmal ein paar schöne Augenblicke.

Hans Pfitzinger

schmoll et copains, 2007
 
Fr, 02.07.2010 |  link | (1532) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Hans Pfitzinger



Love and Peace und all die Hippies

1967 — Der lange, harte Sommer der Liebe

Nachts kann es ganz schön kalt werden in San Francisco. Häufig zieht schon am frühen Abend der Nebel vom Meer her in die Stadt, erst durch den Golden Gate Park mit den riesigen Eukalyptus- und Redwoodbäumen, dann weiter durch die Haight Street und die umliegenden Straßen mit den hundert Jahre alten Holzhäusern hinüber zur Bucht. Die Gegend hatte Anfang der sechziger Jahre noch nicht mal einen Namen. Später nannte man sie einfach nach einer Straßenkreuzung: Haight/Ashbury.

Am 15. Oktober 1967 warteten die Beamten des San Francisco Police Department, bis zum Nebel die Dunkelheit kam, ehe sie in breiter Kette die Haight Street vom Park her aufrollten. Jeder, der nicht schnell genug abhauen konnte, wurde mit Gummiknüppeln zusammengeschlagen und in den mitfahrenden Polizeibus geschleppt. Um Mitternacht war der Spuk vorbei, die Haight Street lag wie ausgestorben da, keiner traute sich mehr aus den Häusern. Der Sommer der Liebe war zu Ende.

Der Sommer der Liebe fing am 16. April 1943 in Basel an. Dort, im pharmazeutischen Labor der Chemiefirma Sandoz, spürte erstmals ein Mensch die Wirkung von LSD: Dr. Albert Hofmann, der nach Arzneimitteln auf der Basis von Mutterkorn forschte, bekam versehentlich eine winzige Menge Lysergsäure-diäthylamid an eine Fingerkuppe. Danach wurde dem Doktor sehr seltsam zumute, und er beschloß, für heute mit der Arbeit Schluß zu machen. Auf dem Heimweg setzte die volle Dröhnung ein: Der erste LSD-Reisende war mit dem Fahrrad unterwegs.

Der Sommer der Liebe fing aber auch in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg an. Da fand sich ein Freundeskreis von Dichtern und Schriftstellern in New York und San Francisco, Leute, die noch keine Zeile veröffentlicht, aber viel geschrieben hatten, und dem amerikanischen Traum von der Erlösung durch materiellen Wohlstand äußerst skeptisch gegenüberstanden. Statt dessen suchten sie den Rausch und die Ekstase in ständigem Unterwegssein, wochenlangen Autofahrten und beim Jazz in den Nachtlubs von North Beach und Greenwich Village. Frühzeitig machte Marihuana die Runde und wurde für gut befunden. Später kamen noch Experimente mit den magischen Pilzen Mexikos und dein Peyote-Kaktus der Indianer hinzu. Darüber wurde viel diskutiert und geschrieben, und weil dieser Lebensstil so gar nichts mit den Zwängen der amerikanischen Gesellschaft zu tun haben wollte, wurden die Medien auf die Dichter aufmerksam. Ein Zeitungskolumnist in San Francisco kam auf den Namen Beatniks, und der blieb hängen. Manche aus der Gruppe wurden berühmt, andere starben früh, andere wurden vergessen. Zwei veröffentlichten Gedichte: Gary Snyder wurde zum poetisch-grünen Gewissen der Welt, Allen Ginsberg zum berühmtesten Dichter Amerikas (wohl auch, weil sein Gedichtband ‹Howl› 1956 vom US-Zoll beschlagnahmt wurde). Michael McClure schrieb erfolgreiche Theaterstücke. Zwei andere, William S. Burroughs und Jack Kerouac, schrieben vielbeachtete Romane. Und einer verbrachte drei Jahre im Gefängnis, weil er durch einen Roman seines Freundes Kerouac nicht nur in Literaturkreisen berühmt geworden war: An Neal Cassady wollte die Polizei offenbar ein Exempel statuieren. Der Kerl machte, was er wollte, und hatte auch noch jede Menge Spaß dabei.

Die Beatniks wohnten hauptsächlich im Stadtteil North Beach, wo sie eine Art Pariser Existentialismus auf amerikanisch zelebrierten. Als die Beat-Dichter von der Presse zum Kulturereignis hochgesehrieben wurden und immer mehr Trittbrettfahrer in North Beach rumhingen, wich ein Teil der alten Garde nach Süden aus. In der Gegend östlich des Golden Gate Parks, beiderseits der Haight Street, nicht weit von der State University, gab es einige Blocks mit wunderbar guterhaltenen Holzhäusern aus der Zeit um die Jahrhundertwende (Photographie: shelleyannleedahl). Und weil immer mehr schwarze Familien aus dem Fillmore-Ghetto dorthin zogen, waren die Mieten für riesige Sechs-Zimmer-Wohnungen auch für Studenten und arme Dichter erschwinglich: Schwarze in der Nachbarschaft, da fällt der Mietpreis. Bei den Künstlern und Freigeistern der Stadt sprach sich herum, daß es sich im ‹Haight› gut und billig leben ließ, mit frischer Luft und dem größten und schönsten Stadtpark der Westküste vor der Tür. Und dahinter rollte das Meer auf den Strand, der Pazifik, das Ende Amerikas.

Zu den Leuten, die ab 1964 in die Nachbarschaft zogen, gehörten eine Menge Musiker. Kein Wunder: In San Francisco konkurrierten vierhundert Bands und ungezählte Folkies um den Platz auf den Bühnen der Clubs und Caféhäuser. Einige der Musiker hatten die Zeichen der Zeit erkannt, und die Zeichen standen auf Folkrock. Bob Dylan selbst hatte das Signal gegeben, als er beim Newport Festival mit einer E-Gitarre vor das teilweise entsetzte Publikum getreten war. Folkmusik hat auf unverstärkten Instrumenten stattzufinden, hieß das ungesehriebene Gesetz, gegen das Dylan verstoßen hatte. Er trat eine Lawine los. Die Byrds in Los Angeles beschlossen, gleich eine ganze LP mit Dylan-Songs mit zwei E-Gitarren, Bass, Schlagzeug und vier Singstimmen aufzunehmen, im Stil der britischen ‹vocal groups› (zu denen auch die Beatles gehörten). Die Botschaft kam auch in San Francisco an.

Marty Balin wollte eine Folkrock-Band, mit ihm selbst als Leadsänger. Die Stimme hatte er, den Platz zum Auftreten baute er gerade um: Matrix hieß der Laden, eine Art Folk-Club, in dem er dann mit Spencer Dryden als Drummer, Paul Kantner und Jorma Kaukonen als Gitarristen und Jack Cassidy als Bassisten unter dem Bandnamen Jefferson Airplane auftrat. Später kam als Sängerin noch Grace Slick dazu, die neben Janis Joplin zu den weiblichen Stars der San Francisco-Szene gehören sollte. Ein anderer Musikerzirkel hing einen Straßenblock von der Haight Street entfernt im Haus mit der Nummer 710 Ashbury Street (Photographie links: Promotion) herum. Jerry Garcia, ein ruhiger Banjo-Spieler, der früher in verschiedenen Bluegrass-Bands gespielt hatte, war ein paar Monate vorher auf Gitarre, elektrisch, umgestiegen und wollte ebenfalls eine Band gründen. Mitmachen sollten Phil Lesh, ein Musikstudent, der Komposition belegt hatte und den E-Baß zupfte, ein Rockdrummer mit Namen Bill Kreutzman, ein milchgesichtiger Teenie namens Bob Weir, der gerade Rhythmusgitarre lernte, und Pigpen, ein Bluesmann in Nietenlederjacke, der singen konnte und Orgel und Mundharmonika spielte. Sie zogen alle in eines der geräumigsten Häuser im Viertel und nannten sich die Warlocks, bis sie in einem Buch über ägyptische Kunst den Satz fanden: In Zeiten der Dunkelheit tragen die dankbaren Toten das Licht. (Das ging ihnen schon deshalb auf, weil der geniale Chemiker Owsley Stanley, Hersteller des besten LSD in Amerika, auch noch Soundmann der Band war). Von da an einigten sie sich auf den Namen Grateful Dead. In ihrem Bestreben, nicht einfach Musik nachzuspielen, die schon da war, sondern mit allseitiger Improvisation auszuprobieren, was neu entstehen könnte, legten sie den Grundstein zum beständigsten aller Hippiestämme von San Francisco. Anfang der neunziger Jahre gehörten sie zu den reichsten Bands in Amerika und schafften es mit einer LP sogar in die Top Ten. Erst mit Jerry Garcias Tod im Sommer 1995 löste sich die Band auf.

1965 traf Garcia einen kraftstrotzenden Schriftsteller mit Namen Ken Kesey. Der hatte sich selbst zur Kultfigur stilisiert, nachdem er mit dem Psychiatrieroman Einer flog übers Kuckucksnest reich und berühmt geworden war. Kesey fuhr mit einer Gruppe von Clowns, Jongleuren, Musikern, Tänzern, Malern durch die Lande, alle in einem psychedelisch höchst grellfarben bemalten Bus (Photographie: Quelque Chose) Baujahr 1937, auf dem als Bestimmungsort oberhalb der Windschutzscheibe das Wort ‹Further› (Weiter) stand. Am Steuer saß Kerouacs alter Spezi Neal Cassady, und wo der Bus hielt, wurden Parties veranstaltet, die alle einen Zweck hatten: Den Acid-Test. Ken Kesey hatte bei den Recherchen für seinen Roman einen Arzt getroffen, der LSD in klinisch überwachten Tests zur Behandlung von sogenannten Geisteskranken einsetzte. Nach einem ersten Selbstversuch war Kesey fest davon überzeugt, daß die Menschheit wesentlich besser dran wäre, wenn jeder mal Albert Hofmanns Tropfen zu sich nehmen würde. Zu diesem Zweck verteilte Kesey landauf landab LSD, wozu er die Acid-Tests veranstaltete, ausufernde Bacchanale, bei denen die Grateful Dead unter dem Einfluß der Droge sechs Stunden lang mit elektrischen Tönen experimentierten und die berüchtigte Motorradgang Hell's Angels sich, vom LSD gezähmt, der allgemeinen Stimmung von Liebe und Frieden anschloß. Zu dieser Zeit war Hofmanns «Sorgenkind», wie er selbst seine Entdeckung nannte, keineswegs eine illegale Droge. Man konnte in Kalifornien für den Besitz eines einzigen Joints ins Gefängnis kommen, während bis zum Juni 1966 am Sunset Strip von Los Angeles und an jeder Ecke der Haight Street ausgezeichnetes LSD für 50 Pfennig pro Trip verkauft wurde. Das fand mit der Aufnahme ins Betäubungsmittelgesetz ein Ende, und daß das passierte, ist mit, wenn auch nicht allein, das Verdienst von Professor Timothy Leary.

Leary hatte, im Gefolge des britischen Wissenschaftlers und Autors Aldous Huxley und parallel zu Ken Kesey, die Überzeugung gewonnen, LSD sei ein wirksames Mittel gegen die Übel dieser Welt. Um die Verbreitung zu fördern, ließ Leary kein Interview aus, hielt Vorträge im ganzen Land und gründete in Milbrook im Staat New York ein Institut im Grünen, wo jeder, der wollte, in angenehmer Umgebung auf den Trip gehen konnte: LSD war Immer noch legal. Legal, illegal, scheißegal: Die Zahl der Leute, die in San Francisco auf den Trip gegangen und verändert wieder im Alltag gelandet waren, nahm zu. Wie viele es waren, wurde allen im Herbst 1966 beim ersten ‹Trips Festival› bewußt: Da spielten die Dead, die Airplane und Quicksilver Messenger Service in der Longshoreman Hall, und dreitausend Menschen feierten weniger die Bands als sich selbst bei einer gigantischen Tanzparty: Jeder ist ein Star, hieß die Botschaft, und die Zeiten, in denen Musik sitzend auf dem Stuhl empfangen wurde, waren erst mal vorbei. Dafür sorgte der Rock in Folkrock. Und auch für den Rock-Kommerz wurde das Trips-Festival Ausgangspunkt: Ein bis dato unbekannter Manager einer Theatertruppe, Bill Graham, kümmerte sich um die Organisation und darum, daß alle Eintritt bezahlten. Dabei lernte er auch Ken Kesey kennen: Der machte nämlich zum Entsetzen von Graham die Seitentüren des Saals auf und ließ jeden, der wollte, umsonst rein. Graham, ein unter Hippie-Musiker verschlagenes Geschäftsgenie, wurde später mit seinen beiden Hallen Fillmore West und Winterland zum größten Konzertveranstalter der Stadt (und der USA).

Langsam sprach es sich herum, daß in der Nähe des Golden Gate Park ein Klima der Toleranz herrschte, das mit dem Rest der USA wenig gemeinsam hatte. Den Auslöser zu dem, was dann als ‹Summer of Love› in die Geschichte einging, organisierten die Beat-Dichter für den 14. Januar 1967: Das erste ‹Human Be-In› (abgeleitet von den ‹Sit-Ins›, den Sitzprotesten der Bürgerrechtsbewegung). Das Treffen, im Untertitel «Eine Versammlung der Stämme» genannt, zog zwanzigtausend Menschen zum Polofeld im Golden Gate Park. Auf dem Podium: Die notorischen Bands, dazu Timothy Leary, Allen Ginsberg, Gary Snyder, Michael McClure und, als Vertreter der radikalen Anarchos aus Berkeley, Jerry Rubin. Der hatte sich an der University of California beim Free Speech Movement 1965 hervorgetan und stand für die Leute, die wütend, phantasievoll und vorwiegend gewaltfrei gegen den Krieg in Vietnam protestierten.

Ob die Hippies allgemein als politische Bewegung zu sehen waren, darüber ließ es sich schon damals trefflich streiten. Was sich im Lebensstil ausdrückte, hatte aber unstreitig politische Aspekte: Zusammenleben in Kommunen, mit Hanf, Pilzen, LSD, Meskalin zur Erweiterung des Bewußtseins; drastische Beschränkung des privaten Eigentums; Kreativität statt Konsum; Freiheit statt Autorität. Selbstbestimmte Stämme sorgen dafür, daß Regierung und herkömmliche Machtstrukturen überflüssig werden. Clinic Die Speerspitze der Bewegung, eine Art führerlose Kerntruppe der Blumenkinder, waren die Diggers. Bei aller scheinbaren Unbekümmertheit hatten sie eine radikal-utopische Grundhaltung. Sie organisierten das Gemeinschaftsleben in Haight/Ashbury so, als sei die Revolution bereits erfolgreich gelaufen: Jeden Tag verteilten sie umsonst Essen und Kleidung im Park, gründeten die (auch heute noch bestehende) Haight-Ashbury Free Clinic für kostenlose Gesundheitsfürsorge, dazu gab es gratis juristische Hilfe für alle Konflikte mit der Staatsmacht. Finanziert wurden diese Aktivitäten durch Benefizkonzerte, bei denen Spenden gesammelt wurden. Die Diggers verachteten die herkömmlichen politischen Institutionen — der Staat wurde, solange er sich nicht einmischte, einfach ignoriert. Finanzielle Unterstützung von den Behörden hätte Verrat bedeutet. Was sich zwischen 1964 und 1967 am Golden Gate Park abspielte, ist durchaus vergleichbar mit der Pariser Kommune oder den Gemeinschaften der Anarchosyndikalisten im Katalonien des Spanischen Bürgerkriegs. Daß in allen Fällen die Staatsmacht den Sieg davontrug, ändert nichts an der Gültigkeit des Strebens nach einer selbstbestimmten, humanitären Gesellschaft. Der «Summer of Love» war sicher nicht der letzte Versuch in diese Richtung.

Ganz im Sinne des Prinzips der Gewaltlosigkeit blieb auch am 14. Januar auf dem Polofeld alles friedlich — was ja zu beweisen war. Gary Snyder blies erst einmal auf einem Muschelhom und verband in seiner Lesung die Weisheit des Fernen Ostens mit dem Weltbild der Indianer, die Hell's Angels bewachten den Generator, der den Strom für die Musik machte, Tim Leary erklärte seine Devise «Tum on, tune in, drop out!» (Törn dich an, stimm dich ein, laß die alte Welt hinter dir), Ginsberg sang Oooommm und forderte alle Anwesenden am Schluß auf, doch noch etwas «Küchen-Yoga» zu betreiben, nach der Indlanerdevise: Hinterlaßt keine Spuren an einem Versammlungsort. Zum höchsten Erstaunen der bürgerlichen Presse verließ das «langhaarige Hippievolk» das Polofeld mustergültig aufgeräumt und vom Abfall befreit (oh, Love Parade, oh Tiergarten!).

Das Human Be-In war für viele der Anfang, für die alteingesessenen Hippies in der Gegend von Haight und Ashbury Street allerdings der Anfang vom Ende ihres Wohnviertels. Über einen Stadtteil mit 15.000 Einwohnern brachen in den folgenden Monaten, angeheizt durch Zeitungs- und Fernsehberichte über Drogen, freie Liebe und Rock'n'Roll («San Francisco Sound») 300.000 Menschen herein. (Das wäre in etwa vergleichbar mit dem Versuch, die Hälfte der Love Parade-Teilnehmer im Bezirk Prenzlauer Berg anzusiedeln.) Sie kamen aus allen Teilen der USA, vor allem junge Menschen, Kriegsdienstgegner, Teenager, die von zu Hause weggelaufen waren, Musiker, die ihren Teil vom Kuchen wollten, Sinnsucher, Neugierige und solche, die vom Drogenüberfluß, dem billigen Leben und den Möglichkeiten im Freiraum am Park angezogen worden waren. Im Radio dudelten Eric Burdon mit «San Francisco Nights» und Scott MacKenzie mit seinem sirupsüßen «If You Go To San Francisco»: Trag Blumen im Haar!

Aber auch einige Mitbegründer der Szene kamen endlich zum Zug: Die Jefferson Airplane. Sie hatten Im Sommer 1967 mit «Somebody to Love» und «White Rabbit» gleich zwei Songs in den Hitparaden. Nach ihrem starken Auftritt beim Monterey Pop-Festival im Juni wurden die Karten im Rock-Business neu gemischt. Die neuen Stars waren jetzt The Who, Jimi Hendrix, Janis Joplin und eben Jefferson Airplane. Die kauften sich teure Autos und eine Villa an der Fulton Street, auf der anderen Seite des Golden Gate Park.

Doch im ‹Haight› kam es, wie es kommen mußte: Die alte Gesellschaft schlug zurück. Mit der Illegalität von LSD hatte man jetzt noch ein Mittel, um die Exponenten der Szene zu kriminalisieren. Den Grateful Dead wurde allerdings eine Tüte Marihuana zum Verhängnis. Die stand Im Küchenregal, als im September eine Hausdurchsuchung stattfand. Ausgerechnet die beiden Nichtkiffer der Band, Gitarrist Bob Weir und der Sänger und Organist Ron «Pigpen» McKernan, wurden neben drei anderen Kommunebewohnern verhaftet und erkennungsdienstlich behandelt. Jerry Garcia, der mit seiner damaligen Lebensgefährtin Mountain Girl gerade aus dem Park zurückkam, wurde von Nachbarn gewarnt und blieb weg, bis die Luft rein war.

Am 6. Oktober 1967 trugen die Diggers in einem Trauermarsch einen Sarg durch die Straße. Darin lag «Hippie, Sohn der Medien», und der wurde symbolisch im Park beigesetzt. Wiedergeboren werden sollte er als «Free Man».

Im Haight waren die Voraussetzungen nach dem Oktober 1967 für weitere gesellschaftliche Experimente nicht mehr gegeben. Die Hippie-Ureinwohner aus den frühen sechziger Jahren wichen aufs Land aus, nach Norden, in die Countys von Marin, Mendocino und Humboldt, oder nach Süden in die Gegend von San José. Und wenn sie nicht gestorben sind, bauen sie im Norden immer noch das legendäre Sinsemilla-Gras an. Im Süden dagegen befaßten sie sich eher mit der gerade aufregend neuen Computertechnik und erprobten in umgebauten Garagen ihr psychedelisch erweitertes Bewußtsein beim Programmieren von Software. Die Gegend, in der das passierte, hatte Anfang der siebziger Jahre noch nicht mal einen Namen. Später nannte man sie einfach nach dem chemischen Element Silizium, dem Grundbestandteil der Mikroechips: Silicon Valley.

Hans Pfitzinger


Übernahme von schmoll et copains vom 22. Oktober 2007; die Seite wurde im April 2008 geschlossen.
 
Fr, 26.02.2010 |  link | (3310) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Hans Pfitzinger









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