Feuilletonist Platon

... aus irgendeinem imponderablen Grund sind ja die Zeitungen nicht Laboratorien und Versuchsstätten des Geistes, was sie zum allgemeinen Segen sein könnten, sondern gewöhnlich Magazine und Börsen. Es würde Platon — um ihn als Beispiel zu nehmen, weil man ihn neben einem Dutzend anderer den größten Denker nennt, — ganz bestimmt, wenn er noch lebte, entzückt sein von einem Zeitungsbetrieb, wo jeden Tag eine neue Idee erschaffen, ausgewechselt, verfeinert werden kann, wo von allem Ende der Welt, mit einer Geschwindigkeit, die er nie erlebt hat, die Nachrichten zusammenströmen und ein Stab von Demiurgen bereit ist, sie augenblicklich auf ihren Gehalt an Geist und Wirklichkeit zu prüfen. Er würde in einer Zeitungsredaktion jenen Topos uranios, den himmlischen Ort der Ideen vermutet haben, dessen Vorhandensein er so eindringlich beschrieben hat, daß noch heute alle besseren Menschen, wenn sie zu ihren Kindern oder angestellten sprechen, Idealisten sind.

Und natürlich würde Platon, wenn er heute plötzlich in einer Redaktion vorsprechen und nachweisen würde, daß er wirklich jener große Schriftsteller sei, der vor mehr als zweitausend Jahren gestorben ist, damit ungeheures Aufsehen erregen und die lohnendsten Aufträge erhalten. Wäre er dann imstande, binnen drei Wochen einen Band philosophischer Reisebriefe zu schreiben und einige tausend seiner bekannten Kurzgeschichten, vielleicht auch eines oder das andere seiner älteren Werke zu verfilmen, so würde es ihm sicher auf längere Zeit ganz gut gehen. So bald jedoch die Aktualität seiner Wiederkehr vorbei wäre und Herr Platon wollte dann noch eine seiner bekannten Ideen, die sich niemals ganz durchsetzen konnten, verwirklichen, so würde ihn der Chefredakteur nur noch auffordern, zuweilen für die Unterhaltungsbeilage des Blattes ein hübsches Feuilleton darüber zu schreiben (aber möglichst locker und flott, nicht so schwer im Stil, mit Rücksicht auf den Leserkreis), und der Feuilletonredakteur würde hinzufügen, daß er einen solchen Beitrag leider höchstens einmal im Monat unterbringen könne, weil doch noch so viele andere Talente zu berücksichtigen seien. Und beide Herren würden danach das Gefühl besitzen, sehr viel für einen Mann getan zu haben, der zwar der Nestor der europäischen Publizisten ist, aber doch etwas überholt und an Gegenwartswert keineswegs einem Mann wie etwa Paul Arnheim gleichzustellen sei.

Robert Musil

in: Gesammelte Werke I, Der Mann ohne Eigenschaften, Roman, Erstes Buch, Kapitel 1–80, Arnheim als Freund der Journalisten, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 325–326

Laubacher Feuilleton 15.1995, S. 14

 
Mi, 04.03.2009 |  link | (2144) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Schrift und Sprache


jean stubenzweig   (04.03.09, 15:27)   (link)  
Zeitenwende
Die Zeit sollte nicht vergessen werden, die diesen Text mal unterfüttert hatte. Sowie den anderen, der das unterstrich:

Von den vielen außergewöhnlichen, ungeschminkten, also ungeschönt die Wirklichkeit des Augen-Blicks belassend, essayistischen Photographien von me_maya sei behutsam eine Serie hervorgehoben, da sie — als Diashow genossen — das Thema Lesen auf eben das Nebengeleis führt, das erforderlich ist, will man (mal) runter von der Hochgeschwindigkeitssstrecke des einengenden Bild-Konsumierens. Das kommt einer gemütlichen Reise über die Dörfer gleich, anhalten an jedem stillgelegten Bahnhof, sich Bild für Buch et vice versa in Ruhe anschauen und dann wieder weitergeruckelt und -gezuckelt werden zur nächsten Geschichte, die jede für sich ihre eigene hat. Genau, so funktioniert Geschichte. Und: das ist Feuilleton, wie die Laubacher sich das einst vorstellten (und es nach wie vor — das geht auch mit den neuen Mitteln, sprich Techniken — für erstrebenswert halten): bücher. eine alltagsgeschichte — möglicherweise bringen derart Signifikantes allerdings ohnehin nur die (österreichischen) Wiener zustande.






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