Reich glücklicher Verirrung

Ein Räuber verliebt sich in ein Mädchen, dessen ehemaliger Liebhaber ihn zum Tod verurteilt; ein Vertreter verliebt sich in einem Dorf, wo sein Wagen mit Motorschaden liegengeblieben ist, in ein Mädchen, das er mit sich in die Stadt nimmt; ein Aquariumswärter sucht in der Südsee nach dem Ende der Welt, verliebt sich in eine Insulanerin und verläßt sie, als er sich betrogen weiß — schlicht, sehr schlicht geben sich die drei Waldgeschichten Johannes Muggenthalers. Aber diese Schlichtheit ist so trügerisch wie das Eis, in das einbrechend ein Freund des Bankräubers Georg seinen Tod findet, weil er, im Wald verirrt, die Eisfläche nicht vom verschneiten Boden zu unterscheiden vermag. Die Liebe nämlich, die in den Geschichten emporblüht, ist viel mehr als der fatale Rausch des einen, der atavistische Beutetrieb des anderen oder die verlorene Unschuld des dritten. Die Paarungsspiele der Figuren dienen vielmehr als Fokus eines halb zärtlichen, halb wehmütigen Blicks auf die schicksalhafte Beziehung zwischen den Sphären von Kultur und Natur: Während die Lebenswelt der Männer im Zeichen zivilisatorisch verhängter Freiheitsberaubung steht — angefangen vom Gefängnis, das weder Jahreszeiten noch Wetter kennt, über den Käfig, in dem der insektensammelnde Vertreter seinen Opfern einen «fluchtsicheren Lebensabend» bereitet, bis zum Seehundsaquarium mit der «traurigen Karzerstimmung» eines «San Quentin für Taucher» —, verkörpern die Frauen die anarchische Lockung der Natur. Ihr Reich ist der Wald, der, wo nicht Freiheit, so doch wenigstens Aufschub der Kerkerhaft verspricht, das unkartierte Land des Begehrens, in dem Liebe und Mordlust zu inniger Symbiose verbunden, wenn nicht gar ein und dasselbe sind.

Muggenthalers Geschichten erzählen von der prekären Balance zwischen Glück und Zerstörung, in der Stadtmänner und Waldfrauen aufeinandertreffen: Georg verfehlt diese Balance, weil das eben verlassene Gefängnis sein Orientierungsvermögen verkrüppelt hat, so daß er auf der Schwelle zum Frühling, zu Liebe, Freiheit und Reichtum im «Kerker der Zeit» erfriert. Mühsam nur überlebt der Vertreter, der, als die Fliehkraft der unbekannten Weite die vertraute Topographie seines Selbst zersetzt, dahinter «überall wackelnde Geländer, und dahinter schauerlich gähnende Abgründe» erkennt, bis er in den Augen Silvias Ruhe findet; feindselig schließt sich hinter ihm, dem Fremden, der Wald, als er schließlich statt mit Insekten mit der atemlos erjagten Geliebten in die Stadt zurückkehrt. Erst Heinrich, der Tierpfleger, findet im Wald das «Reich glücklicher Verirrung», einen Spielraum unsublimierter Leidenschaft im gleichmäßigen Ineinander von Leben und Verwesen. Hier ist nicht mehr das Fremde bedrohlich, sondern das Vertraute, die Reste menschlicher Kultur, Tempelruinen im Inselwald, Orte steingewordener Erinnerung, «Kerker der Zeit» im eigentlichsten Sinne.

Der Zyklus der Geschichte — und damit der Zyklus des Buches — vollendet sich als Austreibung aus dem Paradies, aus dem Heinrich beim Aufbruch in die ferne Heimat anstelle der Frau deren zauberkräftige Liebesgabe mit sich nimmt, «ein Amulett von abgrundtiefer Häßlichkeit», eine Halskette, an der die Geschichten zahlreicher Liebeshungriger, «kleinen Schrumpfköpfen» gleich, aufgereiht sind, ein Ariadnefaden zur Rückkehr in die Heimat, die, so scheint es, fremder ist noch als die Fremde selbst, voll ungegangener Irrwege.

In kantig aneinander gesetzten Bildern und kraftvoll gefugter Handlung macht Muggenthaler den Reichtum im Widerspiel von Kultur und Natur sichtbar: Schicht um Schicht überlagern sich Macht des Wetters und Sturm des Gefühls, Labyrinth des Waldes und Irrgarten der Stadt, Tempel und Kerker, Paradies und Welt, Kunst des Erzählens und blütenreiches Wachstum der Phantasie — und was sich anfangs karg, fast trocken darbietet, entfaltet im Zusammenklang der (Ge-)Schichten eine doppelbödige Magie, in deren Bann der Leser selbst sich in der schimmernden Bedeutungsvielfalt der Texte glücklich verirrt.

Ulrike Landfester


Johannes Muggenthaler:
Wie man sich glücklich verirrt
Waldgeschichten
Edition Nautilus, Hamburg 1995

Laubacher Feuilleton 15.1995, S. 12

 
So, 04.11.2012 |  link | (1689) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Philosophisches



Schlichtere Nahrung

«Erdeessen, die bei vielen Völkern beobachtete Gewohnheit, Erden von gewisser Beschaffenheit zu essen. Diese Gewohnheit findet sich z. B. in den Sandsteingruben des Kyffhäuser und im Lüneburgischen, wo die Arbeiter einen feinen Ton, die sogen. Steinbutter, auf das Brot streichen. Andre Gegenden Europas, in denen E. vorkommt, sind Steiermark, Oberitalien (Treviso), Sardinien, wo Erde wie andre Lebensmittel auf den Markt gebracht wird, der äußerste Norden von Schweden und die Halbinsel Kola, wo freilich die Erde, eine als Bergmehl bezeichnete Infususorienerde, Unter das Brot verbacken genossen wird. Als Leckerbissen dient Erde in großer Menge in Persien trotz eines in neuerer Zeit erlassenen Verbots. In den Basaren kauft man einen weißen, feinen, etwas fettig anzufühlenden Ton und unregelmäßige, weiße, feste Knollen, die sich feinerdig anfühlen und etwas salzig schmecken. Auch die Damen der spanischen und portugiesischen Aristokratie betrachteten einst die Erde von Ertemoz als große Deilikatesse. Neben diesem Gebrauch, die Erde als Nahrungsmittel zu genießen, der sich auf alle Tropenländer und viele subtropische Gebiete erstreckt und in Amerika und Afrika am verbreitesten ist, findet sich z. B. in Nubien die Sitte, Erde als Arzneimittel zu genießen.An anderen Orten ist diese Sitte mit religiösen Motiven vermischt, un an andern erscheint sie als religiöse Handlung allein, wie auf Timor. Für die so weit verbreitete Sitte des Erdeessens dürfte es viele, grundverschiedene Ursachen geben. Nicht ausgeschlossen ist, daß die Erde einen gewissen Wohlgeschmack hervorrufen könne; abgesehen davon sind viele Erdarten salzhaltig, so daß der genuß der Erde in vielen Fällen als Ersatz des Saltzgenusses angesehen werden kann. Ferner kommt E. im Verlauf verschiedener, zumeist in den tropen heimischer Krankheiten vor, namentlich bei der durch den Darmschmarotzer Anchylostomum duodenale (s. d.) hervorgerufenen Anämie. Charakteristisch für den pathologischen Erdeesser ist der Hängebauch, allgemeine Abmagerung, Anschwellung der Leber und Milz. Auffällig ist die Häufigkeit des Vorkommens pathologischen Erdeessens im kindischen Lebensalter. Schließlich kann das E. auch einen perversen Nahrungstrieb darstellen, wie er sich bei Bleichsüchtigen und Hysterischen, auch bei jüngern Mädchen findet (Pica chlorotica), die z. B. Kreide, Schiefer, Griffel in den Mund nehmen und daran kauen, auch alten Mörtel essen.»

Aus: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage, sechster Band, Bibliographisches Institut, Leipzig und Wien, 1909, S. 1

Laubacher Feuilleton 1993, S. 16

 
So, 21.10.2012 |  link | (1475) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gastrosophisches











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