Für Anselm Baselitz

Johann-Karl Schmitt*

Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der schöne Kleider so ungeheuer gern hatte, daß er all sein Geld ausgab, um recht geputzt zu sein. Er machte sich nichts aus seinen Soldaten, machte sich nichts aus dem Theater und auch nichts daraus, in den Wald hinauszufahren, es sei denn, um seine neuen Kleider zu zeigen. Ob die Bearbeitung der Erkenntnisse, die zum Vernunftgeschäfte gehören, den sicheren Gang einer Wissenschaft gehe oder nicht, das läßt sich bald aus dem Erfolg beurteilen. Wenn sie nach viel gemachten Anstalten und Zurüstungen, so bald es zum Zwecke kommt, in Stechen gerät, oder, um diesen zu erreichen, öfters wieder zurückgehen und einen anderen Weg einschlagen muß; im gleichen wenn es nicht möglich ist, die verschiedenen Mitarbeiter in der Art, wie die gemeinschaftliche Absicht erfolgt werden soll, einhellig zu machen: so kann man immer überzeugt sein, daß ein solches Studium bei weitem noch nicht den sicheren Gang einer Wissenschaft eingeschlagen, sondern ein bloßes Herumtappen sei, und es ist schon ein Verdienst um die Vernunft, diesen Weg wo möglich ausfindig zu machen, sollte auch manches als vergeblich aufgegeben werden müssen, was in dem ohne Überlegung vorher genommenen Zwecke enthalten war.

Gegendarstellung (Anselm Baselitz): Ihr Bericht in Ihrem letzten Informationsdienst KUNST (Nr. 96) über mich entspricht in einem erstaunlichen Grade der Unwahrheit. Richtig ist, daß mir Pods, ter Hell, Fetting, Lindemann und Middendorf aus früheren Geschäftsverbindungen jeder noch weit über eine halbe Million Reichsmark schulden. Es ist daher nur angemessen, wenn ich jetzt auch einmal an mich denke. Richtig ist, daß Leute wie Baselitz, Lüpertz, Szczesny, Dokoupil, Adamski, Dahn — nicht zu sprechen von den Galerien Carsten Werner, Michael Greve, Hans Nothelfer, Georg Mayer, Claudia Kopper, Hilmar Schiffer, um nur einige zu nennen, mich jahrelang nach allen Regeln der Kunst eiskalt benutzt und abgezogen haben. Ich habe nur ein Minimum von dem erhalten, was die ideenmäßig und finanziell von mir profitiert haben. Richtig ist, daß das, was Sie mir unterstellen, gerade von Hödicke, Stöhrer, Bach, Zimmer, Kuchei, Immendorff, Liebmann und vielen anderen gilt. Sie sollten sich, bevor sie sich weiterhin derart unsachgemäß über mich äußern, einmal anschauen, wie die mit jungen Kollegen umspringen. Zweitens. Beachten Sie doch bitte, auf welch unverschämte Weise sich die Wirtschaft gegenwärtig der Kunst bemächtigt — jüngstes Beispiel: «Das Ende der Avantgarde — Kunst als Dienstleistung» eine Ausstellung der Hypokunsthalle in München. Wohl mehr eine schlechte als rechte Antwort auf die schwierige Ausstellung im Münchner Stadtmuseum «Die Angestellten». Auch geht es doch eher um den hehren Kunden, dessen 0-8-15-Ideologie man hinterhertapst, als um Kunst. Von Avantgarde spreche ich schon gleich gar nicht. Die Hypokunsthalle hat ja prompt der Mut verlassen, nachdem als Reaktion auf die Tinguely-Ausstellung! vor Jahren einige potente Kunden aus Empörung das Konto gekündigt haben. Auch hier also: man dreht es und windet sich, schiebt den Schwarzen Peter weiter und interpretiert das Ganze geschichtlich — positiv! versteht sich. Man hält sich wie Wolfgang Flatz alias Anselm Baselitz, alias Anselm Baselitz, alias Anselm Baselitz, alias Anselm Baselitz, um nur fünf besonders krasse Beispiele aus München zu nennen, an die Trittbrettfahrer — und an die Ohrenaugenzumethode. Ein Letztes. Die Ruhrgas AG — Herr Achim Middelschulte! — wie hat doch er seinerseits den Direktor vom Folkwang Museum in Essen — Herrn Georg W. Költzsch — mitten in seiner Rede jäh unterbrochen und vom Rednerpult gedrängt: «Jetzt lassen Sie mich mal!» Was Sponsoring alles gestattet! «Jawohl der Impressionismus geht auf die Entdeckung der Elektrizität zurück!» Man muß heute voll im Sinne Kants, auf empirischer Ebene, versteht sich, sprechen: «Die Bedingung der Möglichkeit ist heute die Bedingung ihrer Unmöglichkeit — unmittelbar!»

Und dann ging der Kaiser in der Prozession unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und an den Fenstern sagten «Gott, wie unvergleichlich des Kaisers neue Kleider sind! Welch schöne Schleppe er an seinem Kleid hat! Wie himmlisch es sitzt!» Aus dem Katalogvorwort zur Ausstellung «Kunst und Alltag — Alltag und Kunst», herausgegeben von Karl Mannheim, Theodor W. Adorno und Max Scheler. Helmut Schelsky, Die Lüge der Kritik in der annähernd totalen Unmittelbarkeit. ... Diese Diskussion um die Kunstbetriebskunst (Künstler, Sammler, Galerist, Museum, Geld) hätte in den 80er Jahren oder noch besser in den 70er Jahren geführt werden sollen. Heute ist sie lediglich der schale Beweis, daß die Kunst der 90er Jahre, um hier Markus Brüderlin voll zu bestätigen (vgl. Das Wiederschreiben von Malerei oder der gemalte Diskurs, Ornamentale Strategien in den malerischen Konzeptionen von Axel Kasseböhmer, Klaus Merkel und Thomas Werner, fin Nr 8, Mai/Juni 1994, Hrsg. Kunsthalle St. Gallen), sich mit Banalitäten, Binsenweisheiten, historischen Tautologien abgab (jüngstes Beispiel vgl.: Gespräch; Sammler versus Museum, Rüdiger Schöttle, Justin Hoffmann, Ingrid Goetz, Rainer Jacobs, Rudolf und Ute Scharpff, Michael Wottrich, Boris Groys, in: Kritik, Zeitgenössische Kunst in München 2/95, Seiten 16 - 51), sich hoffnungsvoll und parasitär zugleich, blind und kritiklos dem Medium Malerei ergab und darin verschwand. Sie war ein bloßer Reflex gesellschaftlicher Umstände, sprich technologischen sogenannten Neuerungen. Sie beschäftigte sich, auf sich selbst zurückgeworfen, ausschließlich mit sich selbst. Zu einer eigenständigen Kraft im gesellschaftlichen Vektorengefüge durfte sie gegenwärtig nicht in der Lage sein gerade auch deshalb, weil diese Diskussion Sprache eines rigorosen Mißverständnisses an sich hervorkehrte, nicht eine wirkliche Analyse der Zeit, die es keineswegs mit der Soziologie aufnahm, auch wenn sie so tat. Stupid formuliert: es fehlten ihr doch einfach die Voraussetzungen. Hier handelt es sich nur um einen naturwüchsigen, unbegriffenen Kunstausflug am Sonntagmorgen. Wahrscheinlich sollte die Kunst wieder zu einem bloßen Attribut anderer Kräfte gemacht werden. Diese Anderes darstellenden geistige Lebensform findet sich allerdings immer wieder, wenn ... . «Aber er hat ja nichts an!», sagte ein kleines Kind. «Herrgott, hört des Unschuldigen Stimme!», sagte der Vater; und der eine flüsterte es dem anderen zu, was das Kind gesagt hatte. «‹Er hat nichts an», sagt da ein kleines Kind, «er hat nichts an!» «Er hat ja nichts an!», rief zuletzt das ganze Volk. Und das kroch in den Kaiser, denn ihm schien, sie hätten recht; aber er dachte: Jetzt muß ich während der Prozession durchhalten. Und dann hielt er sich noch stolzer, und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war. Wir haben oben die Dialektik überhaupt eine Logik des Scheins genannt. Das bedeutet nicht, sie sei eine Lehre der Wahrscheinlichkeit, denn diese ist Wahrheit, aber durch unzureichende Gründe erkannt, deren Erkenntnis also zwar mangelhaft, aber darum doch nicht trüglich ist, und mithin von dem analytischen Teile der Logik nicht getrennt werden muß. Noch weniger dürfen Erscheinungen und Schein für einerlei gehalten werden. Denn Wahrheit oder Schein sind ihr nicht Gegenstande, sofern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, so fern er gedacht wird. Man kann also zwar richtig sagen: daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie jederzeit richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen. Daher sind Wahrheit sowohl als Irrtum, mithin auch der Schein, als die Verleitung zum letzteren nur im Urteile, d. i. nur in dem Verhältnisse des Gegenstandes zu unserem Verstande anzutreffen. Alle Leute konnten sehen, wie beschäftigt sie mit der Anfertigung der neuen Kleider des Kaisers waren. Sie stellten sich, als ob sie das Zeug von den Webstühlen nähmen, schnitten mit großen Scheren in der Luft herum, nähten mit Nähnadeln ohne Faden und sagten endlich, «Sieh, nun sind die Kleider fertig!»

Autor* ist nicht
Johann-Karl Schmitt eben nicht alias Johann-Karl Schmidt, seinerzeit Leiter des Stuttgarter Kunstvereins, sondern ein in den Neunzigern die Kunstwelt irritierender Aktivist, der sich einiger fröhlicher Mittel bediente und dessen Identität preiszugeben nach so langer Zeit wir uns nun getrauen.

Laubacher Feuilleton 16.1996, S. 2

 
Fr, 18.12.2009 |  link | (1773) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken



In der Geisterbahn

Erlebnisse eines indonesischen Hähnchens

Der Andrang ist so groß, daß man, zu zehnt in Kisten hockend, stundenlang warten muß, bis der Nervenkitzel beginnt. Alle piepsen erwartungsvoll, ein paar Feiglinge wimmern.

Endlich ist es soweit. Kopfüber werden wir eingehängt; das steigert die Spannung. Nach einigen Metern ratternder Fahrt kommt eine Kurve und schon der erste Höhepunkt: ein Wasserbad; pikanterweise nur für den Kopf und durchstromt! Da stockt jedem der Atem. Die Gliederstarre ist noch gar nicht überwunden, da geht's einem bereits ziemlich scharf an den Kragen, aber der Kopf bleibt zum Glück dran. In einigen Mäandern fahren wir weiter, es ist fast ein bißchen langweilig, doch ein heißes Bad bringt dann etwas Abwechslung. Aufregend wird's erst wieder in der dunklen Rubbelmaschine. Ob man will oder nicht — man muß die Federn lassen und kommt völlig nackt wieder heraus. Da ich aber kurz darauf den Kopf verliere, mache ich mir darüber keine Gedanken mehr.

Beim Umsteigen auf ein anderes Gefährt bleiben die Füße zurück. Wir brauchen sie wohl auch nicht mehr — für das, was jetzt folgt. Hinter jeder Biegung trifft man auf eine neue, raffinierte und geräuschvolle Überraschung. Es könnte einem fast schlecht werden, würden einem nicht gerade noch rechtzeitig die Eingeweide entfernt. Danach fühlt man sich richtig leicht und unbeschwert — die Fettleber war sicher sowieso nicht gesund. (Im Kreisel wird's jetzt kalt und feucht: So etwa stelle ich mir eine Autowaschanlage vor.)

Plötzlich fällt man auf eine Rutsche, wird aber von einer fleißigen Türkin sofort wieder aufgehängt, dieses Mal an einem Arm; es war ja auch Zeit für einen Stellungswechsel. Jetzt scheint der Spaß bald zu enden, denn vor mir purzeln alle in glänzende Edelstahlcontainer. Hoffentlich tut's nicht weh. Nein, ich lande nämlich weich auf einem Berg von Kameraden. Und was gänzlich phänomenal ist: sie haben uns nach Gewicht sortiert. Zuerst mußten die Dürren aussteigen, zuletzt die Übergewichtigen. Die dürfen noch eine kleine Runde auf einem Karusell drehen, wobei ich nicht weiß, was sie dabei erleben dürfen. Die Anorektischen kommen in einen großen Plastikkübel. Wir werden von den fleißigen Türkinnen sauber verpackt und in die Kühlung geschoben. Das ist sehr ungemütlich, da wir «deutschen Hähnchen» doch eigentlich aus Indonesien stammen und sogar die üblichen mitteleuropäischen Temperaturen schon schlecht vertragen. Trotzdem — ein einmaliges Erlebnis, und das bereits im zarten Alter von sechs Wochen! Aber angeblich soll es uns schon bald wieder sehr warm werden.

Elisabeth Krüger
ist praktische Tierärztin in München

Laubacher Feuilleton 15.1995, S. 15

 
So, 13.12.2009 |  link | (1186) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Theatralisches











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