Lieber verhungert

Manfred und die Chefin in Stumpis Hafenkneipe Fährkeller in Norddeich


Betroffenheit. Was für ein Wort. Schrecklich. Unser marxistischer Melancholiker hätte vermutlich gesagt: «Gestrichen. Gehört zur Liste der Unwörter. Genauso wie Anliegen. Hat Adorno verboten.»

Aber was will man machen, wenn man ein Anliegen hat und einem vor lauter Betroffenheit nichts anderes einfällt, als schlicht Betroffenheit zu verkünden? Rat holen ist nicht (mehr). Adorno ist tot, und Manfred Jander sagt auch nichts mehr. Also: Getroffen?

Auf jeden Fall schlimm. Sehr schlimm. So schlimm, daß unsereins in ein Loch verschwinden möchte, in das gerade mal ein Semikolon hineinpassen würde; er gehörte zu den letzten, die wußten, wo Satzzeichen hingehören. Doch es ist zu bezweifeln, ob diese Scham überhaupt irgendwo verschwinden kann. Vermutlich paßt sie nicht einmal in das Loch dieses gigantischen Ausmaßes, das diese alternden Arbeitslosen in die bundesdeutsche Haushaltskasse gerissen haben.

Nun ist Manfred Jander bereits 2003 gestorben. Aber erst gestern abend (20. Oktober 2007) hat unsereins die Nachricht von seinem Tod mitgeteilt bekommen. Deshalb und der Gründe seines sogenannten Ablebens wegen machen wir ihn und unser schlechtes Gewissen hier(mit) öffentlich.

Manfred Jander (maj) gehörte von Beginn an zum harten Kern des Laubacher Feuilleton, diesem «Eiland im Meer des Mangels» (Süddeutsche Zeitung), war der immer kritische, aber kraft seiner Duldsamkeit auch moderierende «Geist einer kauzigen, wohl auch ein wenig elitären Gelehrtenrepublik […]: eine Festung gegen den Unrat der Mediengesellschaft» (Zürcher Tagesanzeiger). Er war der politisch(st)e Kopf dieser feuilletonistischen Hydra «mit Biß und Witz, Lust und Anklage über die Jahrhunderte oder Jahrzehnte hinweg mitten in unsere Gegenwart» (Basler Zeitung). Er war bibelfester als der Papst. Hätte Karl Marx nicht mehr gewußt, wo er was geschrieben hatte, Manfred Jander hätte ihm sagen können, an welcher Textstelle eine leichte Müdigkeit über ihn kam oder er elektrisiert war, wenn es darum ging, für ein menschlicheres Dasein zu kämpfen. Das hat er getan, bis zum wahrlich bitteren Ende: kämpfen. Nicht Marx. Jander. Keinen Menschen hat unsereins kennengelernt, der so sattelfest jeden Kritiker der marxschen Theorie widerlegt hätte. Die klappentextgebildeten Daherplappernden hat er, der nicht einmal über außerordentliche rhetorische Fähigkeiten verfügt hatte, kraft seines Wissens rasch demaskiert. Und Jander hat ihn gelebt, den Sozialismus. Weil er sie geliebt hat, die Vorstellung, eines Tages könnte es doch noch zu einem besseren Leben für alle reichen.

Manfred Jander stammte aus dem Remstal, in der Nähe von Stuttgart. Dorthin ist er jeden frühen Morgen zu seiner Lehre als Schriftsetzer gefahren. Das war eine Zeit, in der einer, der die Schrift setzen wollte, die Sprache im besten Wortsinn im Griff hatte. Mehr: Er hat auch darüber nachgedacht. Das wurde immer wieder deutlich, als unsereins mit ihm als Korrektor zu tun hatte. So manches Mal machte er auf Fehler aufmerksam, über die manch einer nicht einmal leicht ins Stolpern geraten wäre. Und als es darum ging, 1991, quasi zwischen Weihnachten und Neujahr, den weit über vierhundert Seiten dicken US-amerikanischen Katalog Entartete Kunst für das Berliner Deutsche Historische Museum in hiesiges Geschichtsverständnis zu übersetzen, hat Manfred Jander sehr oft auch ein paar der Fakten geraderücken müssen, mit denen unsere amerikanischen Freunde sich einfach nicht anfreunden wollen. Nach seiner Lehre hatte unser Hauskorrektor über den zweiten Bildungsweg den universitären der Historie und Soziologie beschritten. Auch hier saß er eben fest im Sattel.

Was lag für einen, der sich den Aufstieg vom Arbeiterkind auf den akademischen Olymp hart erarbeitet hatte und dem so sehr am Menschsein gelegen war, näher, als anderen ebendiesen Weg zu ebnen? Zu einer Zeit, als die Gewerkschaften noch so verzettelt waren wie die deutschen Lande zu Zeiten Hugo von Hoffmannstals — der deshalb ein Lied der Deutschen schrieb, das die Einigkeit und das Recht und die Freiheit in einem deutschen Vaterland herbeisingen sollte —, als die Arbeitnehmer-Vertretungen also die Gemeinsamkeit anstrebten, bildete Manfred Jander beim Deutschen Gewerkschaftsbund Erwachsene aus.

Diese Vereinigung für die Rechte der Arbeitnehmer hatte ihm dann den Arbeitsplatz genommen, indem sie aus sogenannten Einsparungsgründen die Stelle strich. Danach schickte ihn das Arbeitsamt in Schulungen, auf daß er das lerne, was er über zwanzig Jahre lang gelehrt hatte. Zwar lehrte er seine Lehrer rasch, was die ihn lehren sollten, doch Arbeit wollte ihm trotzdem niemand mehr geben. Zu alt, nicht mehr vermittelbar.

Nachdem das Laubacher Feuilleton 1996 nach zwanzig Ausgaben eingestellt worden war (da der Tag nunmal nicht mehr als achtundvierzig Stunden hat) und die wöchentlichen Blauen Redaktionsstunden, zuletzt im Cocorico in der Münchner Schellingstraße, abgelaufen waren, zerstreute sich die Kernbelegschaft in alle Richtungen: die einen in die Hansestadt nach Norden, die anderen in deren Schwesterstadt tief unten im Süden. Doch Manfred Jander hatte ohnehin schon zuvor seine eigenen Ruheplätze. Doch selbst die Rheinpfalz in der Kurfürstenstraße besuchte er immer seltener. Der Weg von seiner Wohnung in der Belgradstraße dorthin ließ sich mit Krücken schlecht an. Also taperte er lieber die paar Meter zu der Kneipe, die ihm ohnehin eine Art Wohnzimmer war, ins Zum Zum am Kurfürstenplatz. Dort bekam er nicht nur seine Halbe oder auch drei. Auch brachte man ihm dort die Zuneigung und Wärme entgegen, die ihm gebührte. Und die wir versäumt haben.

Versäumt. Welch Wort. Nun gut, unsereins hatte ihn nochmal getroffen. Nicht im Zum Zum. Das hatte man dichtgemacht; es war nicht mehr profitabel, und so ein paar Herumhänger, die am Monatsende ihre Stütze am Tresen ablieferten, um die Tankrechnung zu bezahlen, werfen nunmal nicht genug ab und verhäßlichen der Jeunesse vis-à-vis das Blickfeld. Schräg gegenüber hatte man sich mittlerweile seiner angenommen. Dort erzählte dann der eine von seiner sonnigen, südlichen Heimat und seiner neuen Familie, und der andere lächelte dazu mit traurigen Augen, in denen sich bereits das Graue(n) des verlorenen Kampfes spiegelte. Der eine versuchte später noch ein paarmal, den anderen zu erreichen. Aber ans Telephon ging der nicht mehr.

Das konnte er auch nicht. Denn Tote telephonieren nicht. Gestern nun las ersterer zufällig in einem Impressum, quasi als letzte Ehrung: «Manfred Jander (1940 – 2003)». Die Antwort von Joachim F. W. Lotsch auf die Anfrage lautete: «Er starb im Kampf. Im Kampf um sein Recht auf Selbstbestimmung und Menschenwürde. Im Kampf gegen die Behörden, die ihm Sozialleistungen nur gewähren wollten, wenn er seine kleine Eigentumswohnung verkaufen würde. Da ist er lieber verhungert.»

Und da er nicht mehr widersprechen kann, schreibt ganz leise: Betroffenheit

dbm
•••

hap (04.03.09, 21:26
Issja nun wirklich
nicht so, dass ich das nicht schon mal gelesen hätte, aber ganz von Manfred abgesehen: Ich kann mich beim besten Willen an keinen Nachruf erinnern, bei dem mir bei jedem Wiederlesen die Tränen an den Rand der Augenränder steigen.
Und von dem Foto will ich gar nicht erst anfangen.

edition csc (05.03.09, 05:26)
Eine etwas größere
Version dieser etwa 1993 in Norddeich während einer anhaltenden LF-Übung des Deckelrundtrinkens entstandenen Aufnahme befindet sich auf Stubenzweigs Bildchenseite. Damals ging unser oberster Stubenhocker sogar lange vor allen anderen ans Meer, aß dort riesige Becher mit Eis und Früchten und nahm anschließend ein Weißbier, alles Genüsse, die er sich in München nie gönnte. Aber auf dem Bild bekam er selbstverständlich sein abendliches Pils, serviert von Stumpi, vor dessen Fährkeller-Tür wir um 17.00 Uhr immer schon gewartet hatten. Danach ging's in den Knurrhahn, um den Fisch zu ertränken, sowie anschließend ins Nordlicht, um den Deckel endgültig rund zu machen. Aber Manfred war am nächsten Morgen immer wieder der erste. Da blickte er immer noch ziemlich fröhlich in die Zukunft. (Ich habe eben etwas entdeckt und eingestellt, das die Meeresabenteuer skizziert.)

 
Do, 24.09.2009 |  link | (4180) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Letzte Worte






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