Nordlicht-Knurrhahn Wenn es irgend geht, fährt der harte Redaktionskern einmal jährlich zum disziplinierten Training der ostfriesischen Olympiade nach Norddeich: Deckel-Rund-Trinken, Fahrrad-Rodeo, Krabben-Puhlen und Kloot-Schießen (und zwar in dieser Reihenfolge). Also: Münster Richtung Oldenburg, dann links ab Richtung Emden, dann vorbei an friedlich wiederkäuenden, echten Kühen bis nach Norden, das südlich von Norddeich liegt, und dann immer geradeaus, bis (fast) nichts mehr geht. Kurz vor'm Deich liegt Norddeich, von wo aus man eingeschifft werden kann nach Juist, Norderney oder Helgoland. Doch da wollen wir nicht hin. Wir fahren zu Frau Coordes, stellen das Auto und legen die Abstinenz ab, holen uns die Fahrräder ... Früher sind wir, so es etwa um 17.00 Uhr war, zuallerst Stumpi von der Bank oben am Deich abholen und mit ihm in seinen Fährkeller im alten Fährhaus gefahren beziehungsweise gegangen. Aber Stumpi ist in Rente. Er kellnert jetzt, in der Saison, bei Jeanette und Didi Klattenberg im Nordlicht. Doch da kommen wir später hin. Vorher gehen (nein, noch fahren wir) zu Gretel und Werner und Walther Evers zum Knurrhahn. Der liegt direkt an der Einflugschneise von Norden zum Fährhafen. Und dort gibt's Fisch. Der Ruf: «Gretel! Bitte einen Kinderteller Scholle!» Ersatz-Grummeln (wegen Überbeschäftigung in der Küche) des Ober-Knurrhahns Werner vom Tresen: «A wat. Schollen schmecken, auch kalt, zum Frühstück wunderbar.» Er muß es wissen, war er doch früher Fischer. Da gab's zum Frühstück wahrscheinlich nichts anderes. Und Jean ißt Fisch nur kalt. Aber der ist ja auch so eine Art Esquimau. Um 22.00 Uhr machen die Evers ihren ehemaligen Fischladen, dessen Tresen immer länger wurde und dann endlich zur Gaststätte mutierte, dicht. Verständlich, geht es doch früh um fünf, sechs Uhr bereits los mit Fisch-Einkauf und anschließendem -putzen. So leuchtet uns denn das Nordlicht. Da liegt der Deckel schon bereit, ihn (für heute erst) einmal rundzutrinken. Für jedes Bier und jeden braunen Auerhahn gibt es je einen Strich. Die Scholle (übermorgen gibt's Seezunge; schmeckt kalt auch gut, sagt Werner) bildet eine schwammartige, also adäquate Unterlage für die Umrundung. «Didi! Gibt's morgen Labskaus? Klar?» «Wieviel Personen?» «Drei.» (Mehr darf man nicht sagen, auch wenn der Kohlenpott-Redakteur morgen kommt und wir dann zu sechst sind.) Chefkoch und Jeanette-Gatte Didi, früher auf großer Fahrt und ein begnadeter Motorboot-Kamikaze-Pilot, bereitet dieses wunderbare Gemenge aus Fisch, Fleisch und Kartoffeln mit Gurke und Spiegelei nur auf Bestellung zu. (Es füllt den Magen komplett aus und geht nur über Bord, wenn der Käpt'n sauer ist auf die Touristen und deshalb sein Schiff so steuert, daß es garantiert so läuft, als ob Windstärke neun wäre.) Nach 1.30 Uhr kommt's, auf dem Weg zu Frau Coordes kleiner Pension, zum ersten Fahrrad-Rodeo-Training. Hier wird sich einmal mehr die Verlegerin als beste dieser Disziplin erweisen. Ihr gesamter Körper ist übersäht mit den Urkunden, die die kapitalsten Stürze hinter Büsche und Mauerabgrenzungen belegen. Unser Schluß- und Sitzredakteur, den zu Hause niemand jemals vor High Noon aus dem Bett bekommt, wird zur allerfrühesten Stunde am Hafen stehen und die ersten Krabben abfangen, auf daß wir ihnen den Leib von der harten Schale befreien und mit ihrem zarten Innenleben die Möven bedienen (die uns dann zum Dank ihre Ausscheidungen — zielgerichtet — überlassen). Anschließend bekommt dieser fanatische Süßspeisen-Hasser ein Eis zur Belohnung. Strahlen wird er dann wie die Nordsee-Sonne bei ihrem Untergang kurz vor 22.45 Uhr. Und das diesen Plastik-Geschmack abrundende Weißbier aus Bayern, das er dort nie und nimmer trinken würde, versetzt ihn eine Laune, die ihn gar aufs Schiff zu treiben vermag. So geht's dann also doch auf die Insel, auf irgendeine; die sehen ja doch alle gleich aus. Im Freibad von Norddeich, das den einzigen Sand weit und breit zu bieten hat, können wir doch nicht mit Kugeln herumschmeißen. Daß diese Kugeln etwas größer sind als die Kloote der Einheimischen, nehmen die Touristen-Kolleginnen und -Kollegen nicht weiter wahr, und die Einheimischen wundern sich nicht weiter über die Pappnasen, die da wieder mal was durcheinanderbringen. Mit dem vorletzten Dampfer (der letzte ist immer so abgefüllt mit Touristen!) geht's dann zurück aufs Festland, auf'm Fahrrad zum Knurrhahn, ein bißchen Weitertrainieren in Sachen Deckelrundung, dann, immer noch per Fahrrad, leuchtet das Nordlicht, winkt der Labskaus, flattert der Auerhahn, dreht sich der Deckel ... Laubacher Feuilleton 18.1996, S. 5
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