Kanzlei mit Vision Der Name ist paradox. Der Begriff Kanzlei hat zu tun mit Juristen, Beamten etc. und hat normalerweise mit ‹Vision› so gut wie gar nichts gemein. Im Gegenteil. Kanzlei mit Vision nennt sich ein kleiner Salzburger Verlag, der eine Reihe sympathisch kleinformatiger Büchlein herausgibt und der diese Reihe sympathisch kleinformatiger Büchlein nennt: Oxyd. Fünf Stück davon wurden mir vom Chef übergeben mit der Bitte, darüber etwas abzusondern. Das ist gar nicht so leicht. Am besten, das empfehle ich, schaue man sie sich selbst an. Fünf Stück also gibt es mittlerweile von der Reihe Oxyd. Oxyd 1-5. Oxyd 1 hat der den Lesern unserer überflüssigen Zeitung bereits bekannte S. D. Sauerbier verfaßt. Das sympathisch kleinformatige Büchlein ist ziemlich dick, Sauerbier hat nämlich einiges zu erzählen, aus seinem Leben, von seinen Bekannten und Freunden, von Fluxus etc. Er nennt sein Werk Seife waschen Oder: Der Sinn der Sache. Vorne drauf steht noch das Wort »sauber«, das unbestreitbar eine Kurzform darstellt vom Namen Sauerbier, nur viel einprägsamer. Beliebig schlagen wir — schlage ich (der Chef will nicht, daß ich «wir» schreibe, wobei ich den pluralis majestatis sehr schätze!) — das, Sie wissen schon, Büchlein auf und lese(n): «Karl Riha beantwortete schlüssig die Frage Warum Kunst?: ‹Weil mer net allerweil veegle kann.›» Und weil dem in der Tat so ist, lese und betrachte man in der verbleibenden Zeit die, Sie wissen schon, Büchlein der Kanzlei mit Vision, die daneben ein Bändchen mit Geschichten und Bildern des den Lesern unserer (nicht: meiner!) unbedeutenden und überflüssigen Zeitung ebenso bekannten Max Blaeulich herausgebracht hat sowie ein sympathisch kleinformatiges Büchlein, das noch dazu dünn ist, mit Fotos (von Insekten hautsächlich) von Kai Kuss (und Texten von Franziska Lettner und Ulrich Mellitzer), ein ebenso beschaffenes (dünn) mit Bildern, echten Bildern bzw. Fotos von echten Bildern von Johannes Steidl (Text von Armin Vilas) und schließlich ein mitteldickes über den ‹Kanzlei mit Vision›-Herausgeber Dieter Huber mit Texten von Karl-Markus Gauß. Schließlich wollen wir — will ich — diese Empfehlung — denn um eine solche handelt es sich hier — mit einer Frage abschließen, die schon einmal in diesem Blättchen abgedruckt war und die von Max Blaeulich stammt: «Ist der Österreicher naiv?» und mit einem Satz, den die österreichischen Medien andauernd verbreiten, der hier aber ausnahmsweise zutreffend ist: Lesen ist Abenteuer im Kopf. Und wenn Sie dann noch ein bißchen schauen wollten. Ivo Kranzfelder Laubacher Feuilleton 13.1995, S. 12 Oxyd 1-5, zu beziehen über: Kanzlei mit Vision, Ernest Thun Straße 11, A-5020 Salzburg, Tel. 0043/662/880321, Fax 875282
Nehmen Sie Erfrischungstücher 1. «Nehmen Sie Erfrischungstücher, nehmen Sie Erfrischungstücher», keuchte ein Radrennfahrer, der ziemlich exakt die Geschwindigkeit des Zuges hielt. Der Fahrtwind blähte, als ich mich einmal hinausbeugte, meine Kleidung auf; den losen Schal wird wahrscheinlich ein Ökonom auf seinem Feld gefunden haben. Meine Worte verblies der Wind in alle Himmelsrichtungen. Die häufigen Tunnel ließen jedoch keine richtige Konversation aufkommen. «Stoßen Sie sich den Draht», stöhnte er, «durch das Auge, bis der Draht zumindest in der Nähe des Afters heraussteht, dann ziehen Sie, ziehen Sie fest das am Draht befestigte Efrischungstuch hindurch, genauso wie der die Leitungen verkabelnde Elektriker. Es wird Sie reinigen und erfrischen.» Beiläufig fragte ich den Radrennfahrer, wie lange er diesen Beruf schon ausübe. Halb lachend schrie er, während starker Gegenwind aufkam, «zulange, zu lange». Verführt durch das Rascheln der Zuckerlpapiere neben mir, dachte ich an jene Haifische, die Blut kilometerweit wittern. Der Radrennfahrer reichte mir, freihändig fahrend, die Erfrischungstücher mit dem Draht. Als ich ihm die Banknote, deren Wert höher war als der verlangte Betrag, in die Hand drückte, sagte ich: «Stimmt schon.» Er blieb allmählich zufrieden radelnd hinter der Zuggarnitur zurück, tretete nicht mehr so heftig in die Pedale, weil er sein Geld zählte, bis ihn eine Brücke von der Parallelität des Geleises mit der Straße ablenkte und ihn sukzessive verkleinern ließ. «Sehen Sie denn überhaupt noch etwas, bei so vielen Brücken», rief ich ihm, gestikulierend, nach, ahnend, daß er mich nicht mehr verstehen wird. Erstaunlicherweise hörte er den von der rasch bewegten Luft weggetragenen Satz. «Ich sehe nichts», schrie er, «ich bin blind. Die gottverdammten Brücken, die elenden Unterführungen — sie sind die wahren Feinde der Menschheit.» Das irritierte mich zutiefst. Jäh beschloß ich, ihn am nächsten Tag zu prüfen. In großen, für meine Begriffe etwas zu schwungvollen Bögen führten Straße und Geleise auseinander, in den Abend, in die Nacht, bis sie sich nicht mehr erkannten. Obwohl sie verschwistert sind, ersehnten sie befremdet den Morgen. 2. Am nächsten Tag saßen die beiden Schwestern neben mir im Coupé. Sie addierten Schlüssel. Ein ungeheurer Berg, den sie mittels eines mit ihnen befreundeten Parkwächters in den Zug geschafft hatten, säumte ihre Füße bis zu den Hüften. Und Schlüsselberge sind schwer, nur mit Mühe zu ertragen, psychisch kaum zu verwinden, geschweige denn zu überwinden. Um der Gerechtigkeit willen sollte über die Arbeit der Schwestern gesagt werden, daß sie nur ähnlich aussehende Schlüssel addierten, so, wie Modeschöpfer Mannequins so lange subtrahieren, bis das Wort ‹en vogue› auf einer befreundeten Stirn leuchtet. Die unähnlichen warfen sie einfach hinaus und überließen sie dem Wort Oxyd. Und was ist sich heute schon ähnlich. Ähnlich sind sich z. B. Tuben oder ein Schlangenzischeln mit gleichzeitigem Quietschen eines Reifens, Bergsteiger, diese Gfrieser sind sich wie aus dem Gesicht geschnitten, und Gweichtln sind ähnlich, ähnlich dem Wort ‹ähnlich›. Die beiden Schwestern raschelten häufig mit knisternden Seidenpapieren, die sie seinerzeit den Blutorangen weggenommen und gesammelt hatten, daß ich mir sagte: ‹Halte die Hand auf.› Als ich die Hand aufhielt — man bedenke, ich saß im Zug wegen des Radrennfahrers —, schaute mich die eine Schwester an, ohne die andere aus den Augen zu lassen. Es hieß, sie seinen aufeinander eifersüchtig. Als ich mich daranmachte, die eine Schwester zu verführen — ich dachte immer an den Satz, ‹Das Becken sei sechzehn Meter breit› —, klopfte der Radrennfahrer an das Fenster und sagte manierlich wie Tolstoi: «Väterchen, Brücken existieren für mich, doch blind bin ich nicht. Ein Scherz. Vergessen Sie es.» Als wir auf gleicher Höhe der nächsten Brücke entgegenrasten, mußte ich mitansehen, wie er abbremste, sein Rad nahm und gemütlich untendurch spazierte, anstatt die Brücke mit einem Konsekutivsatz zu überspringen. In diesem Moment der Störung, der gehauchten Liebe und der intimen Sätze erlitt die andere Schwester einen Mordsorgasmus, welcher sich aufgrund der geschilderten Umstände als völlig unmotiviert erwies. Es war sehr peinlich. Und wie die Feuchtigkeit das Abteil in Besitz nahm. Entsetzlich. Die andere sagte lachend: «Nur bei Blaulicht und Sirenen.» Psychoanalytisch ein sicherlich unbedeutender Satz, doch paßte er in die Situation wie der Schaffner aufs Dach. Und dieser kontrollierte dort am Dach die Schwarzfahrer. Die beiden Schwestern schienen aufeinander spezialisiert zu sein. Im Coupé wandten sich die Mitreisenden ab und taten so, als bemerkten sie nicht, daß die Erschöpfung der beiden Schwestern durch ihre sexuellen Anstrengungen eine Unruhe verursachte, welche der Reise sehr genierlich war. Tatsächlich schnarchte die eine für einige Momente. Als ich dann das Drahtende zu fassen bekam und entsprechend der Gebrauchsanweisung — ich kann nicht sagen Dienstvorschrift — das Erfrischungstuch hinunterzog, wurde es mir zuerst schwarz vor den Augen, dann glaubte ich, erblindet zu sein, und schließlich führte mich die eine Schwester, die den Orgasmus erlitten hatte, ins Weite. Das Feld des Stationsbeamten erinnerte mich an jene Gerüche, die im März noch nicht mit Wärme beschrieben werden können, lediglich mit dem Ausdruck ‹erschlafftes Erwachen›. Die Winde waren nicht mehr rauh, noch nicht mild, aber schon kompromißbereit. Jeder mußte sich entscheiden für Sakko oder Kaffee ... oder für das Wort ‹oder› ... Es muffelte geradezu nach stockfleckigem Antiquariat auf den frisch getünchten Feldern. Der Radrennfahrer sagte: «Wir müssen den Blinden laben», und weiters gab er die Anweisung, «durch das andere Auge führen Sie einen Hilfsdraht, der den zuerst eingezogenen, leider fast immer verwickelten Draht herausreißen und die völlige Erblindung hervorrufen wird.» Dies mißlang ... Aus einer unbekannten Gegend fiel fahles, hellgelbes, graues Licht ein. Die Gegend hieß Alpen und war übersät von blauen Menschen mit roten Kappen, sogenannten Bahnwärterattrappen, die in immer schnellerem Takt sich verneigten, den Reisenden zuwinkten oder gar mit Mühe und Not vorm Freitod auf den Geleisen zurückgehalten wurden. Warum? Niemand wird diese Existenzen begreifen. Der Radrennfahrer bekam es mit der Angst zu tun und schaltete ab, d. h. in der Fachsprache, auf den Gang Nummer 18. 3. Als die Alpen verschwanden, kamen die Seen zum Vorschein. Tief ächzten sie, und vor allem rein seien sie jetzt, meinten Neugierige. Letzthin überfüllten sie sich auch mit Fischen. Schleien, Schleien und wieder Schleien. Für den Radrennfahrer ein fast unüberwindbar glitschiges Hindernis. Er griff zu einem Trick, der darin bestand, daß er sie einfach wegtelephonierte. Da sieht man die Macht der Telephone. Sie bedrohen ausnahmslos jede Landkarte. Selbst mangelhaft kartographiertes Terrain entgeht ihrem Ergeiz nicht. Grönland. Eine Geißel Gottes. Augenblicklich können sie einschlagen wie der Blitz. Dann bleibt nichts mehr auf seinem Platz. Jeder wird verrückt und wechselt blitzschnell die Fahrbahn. Als der Zug über die Schafberg-Nordwand in den Wolfgangsee gestürzt war, sagten alle Beleidigten oder Beteiligten, ganz wie man will: «Herr, erlaube uns, in die Schweineherde zu fahren.» Dieser Satz hätte dem Defizit der Schafbergbahn helfen sollen. Sie mißverstand ihn aber und faßte ihn als Kränkung auf. Im Wolfgangsee saßen dann jene beiden Schwestern, von denen die eine den Orgasmus erlitten hatte, während der Radrennfahrer das Thema vorzeitig wechselte. «Nehmen Sie Kürbisse», sagt er, der nun gänzlich verkleidet am Schalter die Bedeutung seiner Kappe ... Tatsächlich verkaufte er Karten, doch insgeheim verkaufte er Kürbisse, die ihm seine Mutter mitgegeben hatte, um sein Taschengeld aufzubessern. An seinem Schalter stand ein hölzerner Handwagen voller ausgehöhlter Kürbisköpfe, originelle Attrappen, für die ihn der Stationsvorsteher lobte und die die Urlauber entzückten. Als die Revisoren wegen ein paar Ungereimtheiten durchs Gebäude gingen, sagte er, ein Berliner namens Bracke hätte die Kürbisse im Stich gelassen, denn sein Zug sei pünktlich gestürzt. «Kann denn jemand mit Kürbissen verreisen?» Als die Revisoren dies verneinten, gab die eine der Schwestern die Selbstbefleckung auf und ließ sich vom Stationsvorstand mehrmals gebrauchen. Als die andere dies hörte, schrie sie: «Du Luder, du Luder!» Wer kann hier also zu Gericht sitzen, wer kann rechten? Nicht ein Mal hat sie gesündigt, sondern sieben Mal, und der, den sie jetzt beglückt, ist nicht ihr Mann, sondern ein Stationsvorstand, ein elender Taugenichts und Trunkenbold. 4. Währen dieser langen Zugfahrt waren die Gesäße abhanden gekommen. Unterwegs regnete es stark, im Abteil entstand ein Streit wegen der aufgespannten Regenschirme. Vollkommen durchnäßt saßen die Emigranten vor ihren Fluchthelfern da. Sie rauchten feuchte, qualmende Zigaretten, so gut es ging. Unter ihnen saß eine sehr schöne Porzellanfigur, die für das Memorieren eines einzigen Satzes circa die Hälfte eines Tages brauchte: ‹Comme il faut.› Als dieser Satz seine Bedeutung verlor, wurde er auf ein Blechschild übertragen, das Jahrzehnte später im Dorotheum, einem Versteigerhaus mit Tradition, versteigert werden sollte. Ein Preis, den nicht einmal die kühnsten Propheten in den Mund zu nehmen wagten, sollte dabei herauskommen. Und jedermann weiß, wie teuer komplizierte Rechnungen sind. Und erst ihre Aufführung. Andere Propheten verloren sich im windigen Wort ‹Wahlschwindel›. Allerdings stellten die reellen Mittel nichts anderes dar als jene Bücher, die unter dem Sammelbegriff ‹Esoterik› ein sehr probates Mittel gegen ‹Paracelsus wissenschaftlich gesehen› sind. Exsekration sagten die einen, Exsekration sagten die anderen und wußten doch nicht, wovon sie redeten. An diesem Tag, einem Mittwoch, handelte der Radrennfahrer mit Kürbissen aller Art. Erst am Donnerstag waren Taschentücher im Angebot. Ganz zu schweigen von den Kommisionswaren und Saisonartikeln. Der Laie macht sich gar keinen Begriff von den Schwierigkeiten, die vielfältigen Wünsche der Bahnreisenden zu befriedigen. Der eine will dieses Ei, der andere jenes, ein Intellektueller, er soll Schriftsetzer sein und für die Sportkolumne der Zeitung ‹Standard› den Satz einrichten, also Tichy, ein unzuverlässig Reisender, schrie, wie aus weiter Ferne, das Wort «Frosch». Alle drehte sich um und ... gingen angeekelt weiter. Ein sogenannter Schlammtaucher. Zurück blieb der Radrennfahrer mit seinem Rucksack, der eine wahre Fundgrube voller Wunder ... eine Wundertüte ... ein Allzweck ... Ein offner Pkw, der aus seinem Fond die pappenen Eierkartons, die Aussehen wie eine rauhe, zerhüpfte See, hervorschauen ließ, dann Eier im Glas, dann verschiedene Eierspeisen, wie z. B. ein Kartoffelpüree, teilte die Abgeekelten sehr artig in mehrere Lager, Generationen und schließlich Rassen. Die Rassenkunde. Es war übrigens ein Freitag, als der Ausdruck ‹Das sechzehn Meter breite Becken› aufkam. In Wirklichkeit handelte es sich um das Eierbad, samt seinem Schwimmkerl Tichy. Diese unerwartete Wendung mit der Wirklichkeit unterbrach der Schaffner sofort: radebrechend spanischte er daher: «Wenn Sie es machen, dann machen Sie es, aber nicht hier. Machen Sie es im Postwagen.» Das hatte zur Folge, daß sich die einen beeilten, um gleich darauf so zu tun, als wäre nichts passiert, und daß die Routinierten sich Zeit ließen, mit der Bemerkung: «Dasteßen werd i mi?» Im Postwagen reflektierte sich das fahle Licht der Seen, in einer Art violetter Notbeleuchtung. Ein Postler, der Briefe in die verschiedenen Fächer legte, sie sozusagen sortierte, kniete auf dem Boden. Betete er? Nein! Natürlich nicht! Offensichtlich suchte es seinen abhanden gekommenen Schoßhund, der durch die Ritzen eine Witterung aufgenommen hatte und — von Parieren keine Spur — davongelaufen war. Als er zurückkam, hielt er in der Schnauze ein großes Stück Fleisch, auf dem es gewissermaßen surrte, weil es Fliegen frequentierten, die ihre Eier darauf ablegten. Da jedoch der Kontrollor — ich nenne den Schaffner jetzt Kontrollor, das verleiht ihm eine höhere Glaubwürdigkeit — entgegen der Dienstvorschrift eine gewisse fleischliche Praktik im Postwagen gestattete, traute sich niemand gegen die Fliegen etwas zu sagen oder sich gar zu beschweren. Man nahm sie hin, wie das Klima, wie das Kino. Als es unerträglich viele Fliegen wurden, öffnete er die Fenster. Der Zug wehte den Großteil hinaus. «Schmeißfliegen», sagte der Kontrollor, «immer, wenn wir in diese Gegend kommen, werden wir von ihnen heimgesucht. Sie setzen sich hierhin, dahin und fliegen nicht mehr weg. Es ist der schwierigste Streckenabschnitt. Das Leben ... Die unfähige Regierung hat seit Jahren nichts für die Eisenbahn getan.» «Eine unfähige Regierung?» fragte die eine der beiden Schwestern. «Ich verbitte mir diese Anschuldigung. Schließlich sind die Schmeißfliegen das Resultat dieses elenden Schoßhündchens, das hier herumwildert», sagte ein bis jetzt Schlummernder. «Das könnte so sein, müßte aber nicht so sein. Auch sie hurten im Postwagen herum. Das wird Folgen haben.» Wer sagte das? Im nächsten, längeren Abschnitt, als es zwölf Uhr läutete und sich die meisten zum Mittagessen in den Speisewagen begaben, zitterte plötzlich der Zug seltsam. Die Notbremsung half nichts mehr. Man hörte es mehrmals klatschen, und Schreie gellten, dann bedeckte ein Tunnel die Reisenden. Im Speisewagen ging das Gerücht um, der Kontrollor hätte die andere Schwester wollen. Das von den Fliegen demolierte Fleisch schmeckte abgebraten noch immer tadellos, und in der Dunkelheit war es ein Trost, wie Fleisch, egal welcher zertropften Art, immer ein Trost ist. Der Spiegel, in den ich gerade schaute, zeigte ein Trachtenpärchen, überschrieben mit der Frage: Ist der Österreicher naiv. Max Blaeulich Laubacher Feuilleton 12.1994, S. 3 aus: Abendessen mit kleinen Dialogen und ein Kleiderständer zum Aufhängen, Reihe Oxyd 5 in: Kanzlei mit Vision Dieter Huber, A-5020 Salzburg; mit freundlicher Genehmigung des Autors und Oxyd.
50 Gesänge, 22.795 Verse Das finnische Nationalepos Kalevala Ob es vor diesem Gedicht nicht schon vielen gegangen ist wie mir? Als ich es vor zehn Jahren kennenlernte, eines Morgens es anblätternd, da hielt es mich den ganzen Tag und die darauf folgende Nacht fast ohne Unterbrechung im Zauber, bis wieder Morgen war und die dreiundzwanzigtausend Verse ausgesungen verklangen! Der finnische Doktor Elias Lönnrot hatte 1849 diese dreiundzwanzigtausend Verse zum ersten Male beisammen. Er glaubte als Sammler der Volkslieder seines Stammes, wie sie als epische und magische Runen unter den Bauern lebten und von den Laulajat, den Vorsängern, wachgehalten und zu den mannigfaltigsten Einheiten verbunden wurden, — er glaubte endlich auf die Vorgestalt des unzersplitterten Nationalepos gestoßen zu sein, und der Glaube half ihm. Aus Glauben wurde Anschauen. Und Lönnrot wurde etwas wie ein letzter Homer. Vielleicht ist die Zeit des Kalevala bei uns jetzt gekommen. Viele von uns haben die physischen-allzuphysischen Holzereien in den bekannteren Heldenliedern anderer Völker satt; wir sind gegen kriegerisches Wesen und gegen die sogenannte Jugendkraft, die darin besonders deutlich faßbar werden soll, skeptisch geworden. Auch im Kalevala fehlt es an dumpfer Grausamkeit nicht, aber sie dient nur zum höheren Ruhme des Sänger-Wortes. Man könnte dieses Epos überschreiben: Kalevala oder die Allmacht des Wortes. Das Wort schafft die Unterscheidung der Dinge und damit in einem höheren Sinne die Dinge selbst, es ist der Träger aller Vorstellungen und Einbildungen und damit der Schöpfer der Geister, Dämonen und Götter. Sie sind nur letzte Exponenten des Wortes, ohne Gewalt außerhalb seines Bereiches, sie umwirbeln es leicht wie Blätterstreu. Der eigentliche Gott ist der erste und oberste Sänger: Väinämöinen. Seine Mutter, die Tochter der Luft, vom Winde geschwängert und zur Wassermutter geworden, hat ihn siebenhundert Jahre getragen, bevor sie ihn gebar. «Alt und wahrhaft» geht er über die Erde. Ihm ist gegeben, das Nordlandsvolk in Schlaf oder gar ganz fort zu singen, die Gestirne vom Himmel zu spielen. Alle lebenden Wesen kommen, ihm zuhorchen, und ihm selber quellen die Tränen der Entzückung bei seiner Musik, «voller als des Sumpfes Beeren, runder als des Feldhuhns Eier, größer als die Schwalbenköpfe». Die Tränen wandern an seinem Körper hinab wie an einem Gebirge und bergen sich nach weiterer Wanderung über die Erde als Perlen im Meere. Er kann, was der Schöpfer singen können würde, denn er ist der Schöpfer: der «säng' des Meeres Flut zu Honig, Meeres Sand zu schönen Erbsen, Meeres Schlamm zu gutem Malze, säng' zu Salz den Kies des Meeres, säng' zu Kornland breite Haine, Laubwald rasch zu Weizenfluren, Berge bald zu süßen Kuchen, Steine schnell zu Hühnereiern». Das «Wort» ist das Herrlichste. Durch das Wort wird im Kalevala die Weltentstehung und Weltgeschichte ein Weltbegreifen. Wenn das Gedicht anhebt, sind alle Dinge zwar schon da, aber es wird so getan, als wären sie noch nicht da, und die zweite Schöpfung der Erklärung, der Überlegung allen Zusammenhanges scheint älter, ernster und gewaltiger als die erste. Eine Ente baut auf dem Knie der Wassermutter ihr Nest, legt Eier hinein, die Eier fallen ins Meer, zerplatzen und entlassen Erde, Himmel und Gestirne, — es schadet nichts, daß die Ente früher da ist als der Kosmos, zu dem sie als ein kleiner Teil gehören wird. Anton Schiefner hat das wundervolle Buch 1852 zuerst ins Deutsche übertragen, Martin Buber hat es vor einem Jahrzehnt verbessert und jetzt ein Drittel der Schiefnerschen Verse durch bessere, genauere, getreuere aus Eigenem ersetzt. Oskar Loerke (1923) Laubacher Feuilleton 16.1995, S. 4 (Fremde Epen) Aus: Trajekt 1.1991, S. 142f. «Soll ich selbst Verstand nicht haben, Werd' ich ihn beim Schwerte suchen; Nun du alter Väinämöinen, Sänger mit dem breiten Maule, Laß du uns die Schwerter messen, Laß die Klingen uns beschauen!» Sprach der alte Väinämöinen: «Nimmer fällt's mir ein zu fürchten Deine Waffen, deine Weisheit, Deine Schneide, deinen Scharfsinn; Doch dem sei nun, wie ihm wolle, Mit dir, der du so erbärmlich, Werd' das Schwert ich nimmer messen, nie mit dir, dem armen Wichte.» Doch der junge Joukahainen Zieht gar schief den Mund und schüttelt Samt dem Haupt die schwarzen Haare, Selber spricht er diese Worte: «Wer sich scheut das Schwert zu messen Und die Klinge zu beschauen, Den werd' ich zum Schweine singen, Ihn zum Rüsselträger zaubern, Stecke Helden solchen Schlages Diesen hierhin, jenen dorthin, Drück' ihn in den Düngerhaufen, Stoß' ihn in die Eck' des Viehstalls.» Unwirsch ward da Väinämöinen, Unwirsch ward er und ergrimmte, Fing nun selber an zu singen, Hob nun selber an zu sprechen; Keine Kinderlieder sang er, Kinderkram und Weiberwitze, Sondern Sang des bärt'gen Helden, Den die Kinder nimmer können, Auch die Knaben nicht zur Hälfte, Freiersleute nicht ein Drittel, Jetzt in diesen schlimmen Zeiten, Bei dem sinkenden Geschlechte. Sang der alte Väinämöinen, Seen schwankten, Länder bebten, Kupferberge selbst erdröhnten, Starre Steine selbst erschraken, Felsen flogen voneinander, Klippen an dem Strand zerschellten. Sang auf Joukahainens Krummholz Zaubernd junge Baumessprossen, Weidenbuschwerk auf das Kummet, Weiden an des Riemens Ende, Sang den schöngeschmückten Schlitten In den See als schlechtes Strauchwerk, Bannt' die perlenreiche Peitsche An den Meeresstrand als Schilfrohr, Sang das Roß mit weißer Stirne An den Wasserfall als Steinblock. Sang das Schwert mit goldnem Schafte Dann als Blitzstrahl an den Himmel, Bannt' des Bogens bunte Wölbung Auf die Flut als Regenbogen, Wandelte die flücht'gen Pfeile Um zu Habichten, die kreisen, Dann den Hund mit krummer Schnauze Um zum Felsblock auf dem Boden. [...] Sang den Joukahainen selber Bis zum Gurt in tiefe Sümpfe, Bis zur Hüft' in Wasserweisen, Bis zum Arm in Sandestiefen. Jetzt wohl mußte Joukahainen, Mußt' er merken und begreifen, Daß er diesen Weg gegangen, Diese Fahrt er unternommen, Um zu streiten und zu singen Mit dem alten Wäinämoinen. Wollte seinen Fuß bewegen, Nicht vermocht' er ihn zu heben, Wollt' den andern darauf wenden, Doch er war mit Stein beschuhet. Schon gerät jetzt Joukahainen In gar große Angst und Sorge Und versinkt in starkem Jammer; Redet Worte solcher Weise: «Oh du weiser Väinämöinen, Zaubersprecher aller Zeiten, Wende deinen starken Bannspruch, Nimm zurück die Zauberworte, Laß mich aus dem Schreckensloche, Aus der unbequemen Enge, Gute Zahlung will ich geben, Ich gelob ein kräftig Lösgeld!» [...] Laubacher Feuilleton 16.1995, S. 4 (Fremde Epen) Zitiert nach: Kalevala, das National-Epos der Finnen; Übertragung von Anton Schiefner; bearbeitet und durch Anmerkungen und eine Einführung ergänzt von Martin Buber, Meyer & Jessen Verlag, München 1922 (1852), S. 14-15; das Original ist nachzulesen bei Suomalaisen Kirjallisuuden Seura (Finnische Literatur-Gesellschaft, SKS). Die ins Deutsche ‹übersetzte› Schreibweise Wäinämoinen ist hier wieder ins originale Väinämöinen rückübertragen worden; ebenso bei Loerke Kalewala in Kalevala. Einige Abschnitte aus dem Kalevala in Ton-Bilder umgesetzt hat der finnische National-Komponist Jean Sibelius. Und so hört sich Väinämöinen an, wenn John Soininen ihm die Stimme leiht (mp3). Finnische Lieder, unter anderem aus dem Kalevala; Aufnahmen aus den dreißiger Jahren (collected by Sidney Robertson Cowell in Berkeley, California).
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