Deutschland-Deutschland,

unsere ständige lebenslange Begleitmelodie. Ich hab übrigens schon sehr früh das Trennungsmotiv aus dem gedoppelten Namen herausgehört und mir viele lyrische und prosaische Gedanken darüber gemacht. Auf eine Art von Einheit hingearbeitet oder zumindest doch zugehofft habe ich seit den 50er Jahren, was in zahlreichen Artikeln nachzulesen ist. Nur vorgestellt hat man sich das Zusammenkommen der beiden Teile dann doch ein bißchen anders: etwa so, daß im östlichen Deutschland mehr Freiheit ausgerufen würde und im hiesigen Teil ein bißchen mehr Chancengleichheit. Nun erleben wir den ungebremsten Durchmarsch der Freiheit ohne jede Besänftigung durch mäßigende Gleichheitsvorstellungen, und die Resultate sind dem entsprechend katastrophal. Nicht die geringsten Revisionen, Bedenklichkeiten, Selbstkorrekturen an unserem Ellbogenkapitalismus und statt dessen die ersatzlose Austilgung jener anderen, auch nicht gänzlich verdienstlosen Republik. Als wir gleich nach dem Fall der Mauer nicht in diesen unbedingten Einheitsjubel einfielen, hat man sofort gesagt: «Ihr habt euch nicht genug gefreut.» Nun, inzwischen merken gerade die lautesten Jubler — viele verführte kleine Leute darunter —, daß sie sich zu früh gefreut haben, und nun taumeln sie vor lauter Schreck sofort in die nächste Verirrung.

Aber unter vielen Ihrer Kollegen scheint die Freude doch noch recht ungebrochen.

Der Rechtsruck bei unseren ehemals linken Intelligenzen ist nicht mehr viel mehr als strömungsbedingtes Konjunkturrittertum. Früher folgten sie scharenweise einem bewußtseinsbildenden Aktionismus, der die Institutionen nicht mehr kritisch durchdringen, nein, der sie kaputt machen wollte. Und angelegentlich des Golfkriegs fühlten sie sich auf einmal wie Kriegsberichterstatter der Legion Schwachkopf. Daß ich alt gestandene und gar nicht umzuschmeißende Linke rühmend davon ausnehme, ist gar keine Frage. Nicht die Linke ist bei meinen polemischen Einlassungen gemeint, sondern dies wetterwendige Gros, das schon immer zu den Siegern des Geschichtsprozesses gehören wollte.

Sie haben nicht den Eindruck, daß Sie eben auf dem falschen Dampfer gesessen haben?

Das Versagen der Linken bezieht sich nicht auf die gar nicht so wenig gewesenen linken Patrioten, die sich ein vereintes Deutschland nur als sozial geordnetes Gemeinwesen vorstellen mochten. Versagt hat einzig jene Schickerilla, die immer auf dem Schauplatz sein muß, egal ob es revolutionäre Spektakel oder Kriegsschauplätze sind. Mir selbst sind diese Vorgänge derart an die Leber gegangen, daß mir in Prosa schon gar nichts mehr dazu eingefallen ist. Nur noch so'n paar Vanitas-Shanties. Schiff ahoi heißt eines, aber das werde ich vor der Premiere nicht in der Zeitung absingen.

Haben Sie das Gefühl, daß neue Mauern errichtet werden?

Tatsache ist, daß sich die ersatzlos weggewünschte Mauer nun auf einmal in einen heimlich zurückgesehnten Schutzwall verwandelt hat — jedenfalls im Unterbewußtsein von vielen Menschen — und daß an die Stelle von hochnotwendigen Reformideen nun diese ressentimentalen Gedankenblasen treten. Alle Probleme, die uns auf den Pelz rücken, sind sozialer Natur — und sie sind es besonders dort, wo man mit dem Wort Sozialismus am liebsten gleich die Stammsilbe soz exorziert hätte —, das geht dann noch bis zur Schleifung des Sozialstaates.


Laubacher Feuilleton 8.1993, S. 16

Teil eines Gesprächs, das Eva Schobel anläßlich der Verleihung des Georg Büchner-Preises an Peter Rühmkorf mit dem Preisträger führte und das in der Süddeutschen Zeitung Nr. 238 abgedruckt wurde, am 14. Oktober 1993, auf Seite 14 im Feuilleton, und das nachzudrucken uns der damals noch Sprechende und Schreibende die Genehmigung erteilte.

 
Do, 22.10.2009 |  link | (1236) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftliches






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