Provinz-Notizen

Nachrichten von der Kritik-Front

«Geradezu verbissen», schreibt Herr Bredl in der ‹Rems-Zeitung› vom 11. Oktober 1994, «scheinen die Macher des Laubacher Feuilleton beweisen zu wollen, daß es da noch Leute gibt, die, vom Herrn mit der Gabe einer hundertprozentigen Sehschärfe und ungeheuer viel Muße sich durch eine mühselige Reise durch eine schwarzweiße ‹Bleiwüste› aufmachen. Das Layout des Intellektuellen-Blattes [...] ist schlicht grauenhaft.»

«Nun», merkt Claus Heinrich Meyer* in der ‹Süddeutschen Zeitung› vom 18. Oktober 1994 an, «die Fernsehgeneration schaut immer erstaunt und etwas blöde, weil sie ganz allgemein nicht gut mitkommt; etwa, wenn wir zu schnell reden oder eine ausufernde Syntax bevorzugen. [...] Und wenn sie mal nicht nuckelt an ihrem süßen Brei? Will sie dasselbe auf Papier, quengelt nach ‹Infotainment›, lechzt nach ‹gedrucktem Fernsehen›. Vermeintlich. Doch die Ärmsten der Armen. Mußten sich bisher furchtbar quälen. SZ, FAZ, ZEIT — fluchwürdige, unersteigbare Gebirge der Alphabetisierung.»

Glücklicher Herr Redakteur Bredl, dürfen Sie doch Ihre Ostalb-Kulturseiten weben, darin bisweilen solche Sätze stricken: «Schon damals sah der große Geist (Diderot; Anm. d. Red.) sich bemüht, die Umwelt mit Satz-Sauriern zu traktieren.» Schrecklich, dieses Laubacher Feuilleton druckt so etwas auch noch nach!

Was fällt uns dazu ein? Beispielsweise ein (längerer!) Text von Michael Winter, ebenfalls in der ‹Süddeutschen Zeitung› vom 18. Oktober 1994, mit dem Titel «Verlieren wir unser Bewußtsein?», der die Gefahr des Vergessens eines Herrn namens François-Marie Arouet (1694 – 1778), vermeintlich etwas bekannter unter dem Namen Voltaire, beklagt: «... Sollen wir einen Stückeschreiber feiern, für den Shakespeare ein Monstrum war und der uns auf dem Theater mit Schauspielern in Allongeperücken langweilt, die mit bebender Stimme endlos Alexandriner auf uns herabnäseln? Sollten wir dieses Mannes gedenken, dann würden wir einen Lebenskünstler ehren für die Kunst, sich den Schwächen des Körpers, den Fallen der Zensur, dem Abgrund des Bankrotts stets im geeigneten Augenblick zu entziehen. Wir würden einen Filiou feiern, einen, der genug Zynismus aufbrachte, um vierundachtzig Jahre alt zu werden, ohne an irgendwelche Verhaltensweisen zu glauben, mit denen man sich den Himmel verdienen könnte. [...] Wie können wir ihnen (dem Autoverkäufer aus New Jersey, dem aus «dem Iran, aus dem Irak oder aus Kuwait», dem Kulturredakteur der Rems-Zeitung; Anm. d. Red.) erklären, daß in dem, was dieser Mann dachte, die Quintessenz des europäischen Geistes enthalten ist, nämlich das Vertrauen auf die Vernunft und auf die Kritik aus Vernunft, sowie die Toleranz gegenüber der Unvernunft, solange sie nicht die Oberhand gewinnt. Wir verdanken Voltaire, seinen Vorgängern, Mitstreitern und Nachfolgern die Freiheit unseres Denkens. Wir verdanken den Aufklärern den Glauben an den Fortschritt durch die Vernunft. [...] Voltaire ist der Hauptmann jener Apostel, die uns Gott wieder von den Schultern genommen haben, die die Religionen zur Privatsache erklärten und den Staat zur Toleranz verpflichteten, die die Menschen lehrten, an die Naturgesetze zu glauben und die Geschichten der Bibel als Literatur zu lesen.»

Diderot, dieser Aufklärer (der «die Umwelt mit Satz-Sauriern zu traktieren» pflegte), bemerkte in einem Artikel aus der Enzyklopädie zum Stichwort ‹Liederlichkeit›: «Der Ausdruck Liederlichkeit wurde nicht nur auf die Ausschweifung im Genuß von Wein angewendet; man dehnte in auch auf jede andere weitverbreitete und übermäßige Ausschweifung aus. Die Liederlichkeit ist das Gegenteil der Wullust; die Wollust setzt feine Auswahl unter den Gegenständen und sogar Mäßigung im Genuß voraus; die Ausschweifung setzt die gleiche Auswahl unter den Gegenständen, aber keine Mäßigung im Genuß voraus. Die Liederlichkeit schließt beides aus.»

Und im Aufsatz über die ‹Scharlatanerie› meinte unser Enzyklopädist: «Der Unterschied zwischen dem Kleinigkeitskrämer und dem Scharlatan besteht darin, daß der Scharlatan weiß, wie wenig das, was er anpreist, wert ist, während der Kleinigkeitskrämer Kleinigkeiten anpreist, die er für wunderbare Dinge hält.»

Hier brechen wir ab, um zu verschweigen, daß Diderot mit dem einen den Tor und den anderen den ‹Matois› meinte. Alles klar?

dbm

*Claus Heinrich Meyer war im übrigen vor längerer Zeit die Sehschärfe arg abhanden gekommen.

Laubacher Feuilleton 12.1994, S. 5

Der Anlaß von Herrn Bredls «mühseliger Reise» folgt als Kommentar.

 
Do, 17.09.2009 |  link | (1920) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inwendiges


edition csc   (17.09.09, 16:22)   (link)  
Wie die Empfindung
eines Akkords entsteht

Unsere Ideen sind einfach oder können auf einfache Wahrnehmungen zurückgeführt werden. Da sie ja klare Wahrnehmungen sind, die uns irgendeinen Gegenstand, der etwas anderes ist als wir, deutlich zeigen, können wir sie zerlegen, bis wir zur Wahrnehmung eines einfachen und einheitlichen Gegenstands gelangen, der gleichsam ein Punkt ist, den wir mit einem einzigen Blick vollständig wahrnehmen. Unsere Empfindungen dagegen sind verschwommen, und dies bringt uns eben auf die Vermutung, daß sie keinesfalls, was immer der berühmte Locke darüber sagen mag, einfache Wahrnehmungen sind. Was uns in dieser Vermutung bestärkt, ist die Tatsache, daß wir jeden Tag Empfindungen haben, die uns im ersten Augenblick einfach erscheinen, aber in Wahrheit, wie wir später entdecken, durchaus nicht einfach sind. Auf Grund der genialen Experimente, die der berühmte Ritter Newton mit dem Prisma angestellt hat, weiß man, daß es nur fünf Grundfarben gibt. Doch aus der verschiedenen Mischung dieser Farben entsteht jene unendliche Verschiedenartigkeit der Farben, die man in den Werken der Natur ebenso bewundert wie in den Werken der Maler, ihrer Nachahmer und Rivalen, obgleich auch ihr erfindungsreichster Pinsel nie der Natur gleichkommen kann. Dieser Mannigfaltigkeit von Farben, Farbtönen, Nuancen entsprechen ebenso viele unterschiedliche Empfindungen, die wir für einfache Empfindungen — genau wie die von rot und grün — halten würden, wenn uns die Experimente Newtons nicht bewiesen, daß es Wahrnehmungen sind, die aus denen der fünf Grundfarben zusammengesetzt sind. Ebenso verhält es sich mit den Tönen in der Musik. Treffen zwei oder mehrere Töne von einer bestimmten Art gleichzeitig das Gehör, so erzeugen sie einen Akkord. Ein feines Gehör nimmt zugleich diese verschiedenen Töne wahr, ohne sie gut zu unterscheiden; sie gehen ineinander über und verschmelzen miteinander. Eigentlich vernimmt das Gehör keinen dieser beiden Töne; vielmehr entsteht aus ihnen eine freundliche Mischung, aus der eine dritte Empfindung resultiert, die Akkord oder Zusammenklang heißt. Ein Mensch, der diese Töne nie einzeln gehört hätte, würde die Empfindung, die ihr Akkord hervorruft, für eine einfache Wahrnehmung halten. Sie wäre dennoch ebensowenig einfach wie die violette Farbe, die entsteht, wenn auf einer Fläche Rot und Blau in gleichen Portionen gemischt werden. Jede Empfindung — zum Beispiel die des Tons oder die des Lichtes im allgemeinen — ist deshalb, so einfach und unteilbar sie uns auch erscheint, ein Kompositum von Ideen, eine Sammlung oder Anhäufung von kleinen Wahrnehmungen, die in unserer Seele so schnell aufeinanderfolgen, alle so unbeständig sind oder gleichzeitig in so großer Zahl auftreten, daß die Seele, die sie nicht voneinander unterscheiden kann, von diesem Kompositum einerseits — im Hinblick auf die kleinen Teile und Wahrnehmungen, die dieses Kompositum bilden — nur eine sehr verschwommene Wahrnehmung, andererseits aber eine sehr klare hat, insofern die Seele sie nämlich von jeder anderen Aufeinanderfolge oder Sammlung von Wahrnehmungen deutlich unterscheidet. Daher kommt es, daß jede Empfindung, die — in sich selbst gesehen — unklar ist, ganz klar wird, wenn Sie sie einer anderen Empfindung gegenüberstellen. Wenn diese Wahrnehmungen nicht so schnell aufeinanderfolgten; wenn sie nicht gleichzeitig in so großer Zahl aufträten; wenn die Ordnung, in der sie auftreten und aufeinanderfolgten, nicht von der Ordnung der äußeren Bewegungen abhinge; wenn es in der Macht der Seele stünde, diese Ordnung zu ändern: wenn all dies der Fall wäre, dann wären die Empfindungen nur noch reine Ideen, die verschiedene Ordnungen der Bewegung vorstellen würden. Die Seele stellt sie sich wohl vor, aber im kleinen, in einer Geschwindigkeit und Fülle, die sie verwirrt und daran hindert, eine Idee von der anderen zu unterscheiden, obwohl sie von allen zusammen lebhaft berührt wird und eine bestimmte Aufeinanderfolge der Bewegungen von einer bestimmten anderen Aufeinanderfolge, eine bestimmte Ordnung und Anhäufung von Wahrnehmungen von einer bestimmten anderen Ordnung und Anhäufung deutlich unterscheidet.

Denis Diderot

Laubacher Feuilleton 11.1994, S. 3

Aus: Denis Diderot, Enzyklopädie, aus dem Französischen von Theodor Lücke, erschienen 1961 im Aufbau-Verlag., dtv 4026, 1969 (Philosophische und politische Texte aus der ‹Encyclopédie›). S. 238 – 240



caterine bueer   (20.09.09, 10:11)   (link)  
Aus der Fernsehgeneration
ist längst die Internetgeneration geworden. Und die weiß gar nicht mehr, was Redakteure sind, schon gar keine für Kultur, jedenfalls nicht in der Provinz. Die kennt nur noch Praktikanten oder arbeitslose Lehrer. Und ob sich für die das Lesen- und Schreibenlernen über die Universität hinaus gelohnt hat, darf auch bezweifelt werden.






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