Ikonoklastische Geometrie

Im Italien des 14. Jahrhunderts nährte sich die Bildung des Künstlers aus den Reichtümern seines Landes und Zeitalters. Dieses Wissen wurde bald mit ‹Antiken› angereichert. Dann wurden Orientalismen, Japanismen und einige ‹Chinoiserien› hinzugefügt, die die abendländische Kultur nicht nur bereicherten, sondern ihr oft auch widersprachen. Im 19. Jahrhundert kann man beobachten, wie sich das Wissen des ‹abendländischen Künstlers› um die archaischen (griechischen, ägyptischen, sumerischen et cetera) präkolumbianischen, afrikanischen, ozeanischen und anderen Künste erweitert, wobei jede dieser Kulturen ihre eigene Entwicklung beinhaltet und ihre eigenen Widersprüche in sich trägt.

Was fängt der Künstler unserer Tage mit all diesen Reichtümern an? Sicherlich gibt er weder eine Übersicht, noch zieht er die Gesamtsumme daraus. Eher heben sich die verschiedenen Faktoren gegenseitig auf, als daß sie sich zusammenzählen lassen. Einige gerinnen, mehr oder weniger bewußt, zu gelehrten Verbindungen, in denen Phidias mit einer Prise afrikanischer Kunst verjüngt wird oder sich die japanische Kalligraphie mit Hieronymus Bosch verbindet.

Da wir dieses Chaos durchschauen, tun wir alles, um diesen Reichtum aus unseren Werken zu vertreiben. Wir möchten klarer sehen. Darum bedienen wir uns einer möglichst einfachen, belanglosen Sprache und versuchen, jedes große Formproblem einzeln zu erörtern. Wir sind davon überzeugt, aus den einfachsten Mustern (beispielsweise aus geometrischen Elementen) nicht nur ein großes ästhetisches Vergnügen zu ziehen, sondern auch unseren eigenen Geschmack besser zu verstehen. Der Erfinder der Arabesken der Alhambra in Granada, aber auch Mondrian hatten sich in ihrer Zeit offensichtlich mit Fragen beschäftigt, die den unseren sehr ähnlich sind. Ihre Haltung bestärkt uns.

Ishtar, Nr. 2, Paris, Juni 1959, S. 74


Ein tiefer Graben tut sich heute zwischen den ‹inspirierten Künstlern› auf, in deren Werken jedes Detail durch eine rein von der Intuition geleitete Wahl endgültig festgelegt ist, und den experimentellen Künstlern, die Situationen anbieten, in denen sich Raum und Zeit nicht nur für, sondern auch durch den Betrachter verändern.

The choice in present day art, in: DATA, Directions in Art Theory and Aestetics, Faber and Faber, London, 1968, S. 236


Wie ich diese Mißverständnisse beim Informationsaustausch liebe! Geistige Haltungen, nicht füreinander geschaffen, prallen aufeinander, perverse Gesinnungen bilden widernatürliche Paarungen, also schlicht alles, was dem Verstand zu einem freien, noblen und absurden Dasein verhilft.

François Morellet


Laubacher Feuilleton 4.1992, S. 7; mit freundlicher Genehmigung des Autors

Aus: Ikonoklastische Geometrie und verunfallte Geometrie, in: Bulletin, Galerie Liliane und Michel Durand-Dessert, Paris 1981

Übersetzt aus dem Französischen von Stefanie Buhles

 
Di, 25.08.2009 |  link | (1224) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Gedanken






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