Unnütze Gesten Es wäre grundverkehrt, die Digitalisierung der Bilder und die daraus resultierenden beliebigen Möglichkeiten der Manipulation als neues Phänomen aufzufassen. Neu daran sind nur die Technik, die Leichtigkeit der Handhabung und die Verbreitungsmöglichkeit. Die derzeitige Bilderschwemme in den verschiedensten Formen: Printmedien — also Photo —, Film, Fernsehen sowie, nicht zu unterschätzen, die private Bildherstellung via Photographie, trägt, genau betrachtet, die Züge eines Bildersturms. Das Kernproblem liegt in der «dialektischen Bilderzeugung, die erst in der Nicht-Identität von Bild und Abbild ihre dennoch notwendige Identität erreicht». Bazon Brock betont ausdrücklich die Parallelen neuerer Streitigkeiten um das Verhältnis zwischen Abbild und Abgebildetem zum byzantinischen Bilderstreit des achten Jahrhunderts. Tatsächlich gibt es, um einmal das Beispiel Fernsehen herauszugreifen, zwei konträre Standpunkte: Die einen behaupten, durch das Fernsehen verblödeten unsere Kinder und, seltener, wir selbst; man solle sich nur einmal das Programm anschauen usw. Die anderen, die noch an die Mündigkeit des Zusehers — Optimisten, die sie sind — glauben, heben die aufklärerische Funktion des Mediums hervor; wenn man etwas nicht mehr sehen wolle, könne man ja abschalten. Ob letztere sich Werbefernsehen ansehen, ist schwer zu sagen. Wenn sie es tun, konnten sie einen Werbespot bewundern, in dem Elton John von Satchmo begleitet wird, während ihnen im Publikum Humphrey Bogart und Lauren Bacall lauschen. Der kleinste gemeinsame Nenner aller vier, von denen Satchmo und Bogart bekanntlich schon tot sind, ist eine Limonade, für die sie werben. Louis Armstrong und Bogart sind meines Wissens noch nie zusammen in einem Film aufgetreten, und schon gar nicht zusammen mit Elton John. Möglich wird so etwas mit digitaler Technik. Die Ausführung ist so perfekt, daß das Irreale der Szene nur dem aufmerksamen Betrachter auffällt. Nicht weit entfernt davon, auf einem anderen Kanal, gibt es Reality TV, das pure Gegenteil, das sich mit der digital manipulierten Virtualität schon fast wieder trifft. Hier werden Videofilme gezeigt, von denen behauptet wird, sie seien «authentisch», Katastrophen oder Mord «live». All dies geschieht noch im herkömmlichen Verhältnis Bild — Betrachter. Die neue Technologie weist nun in den Cyberspace (eine Wortschöpfung des Science-fiction-Autors William Gibson), in eine virtuelle Realität, an der wir aktiv teilnehmen können, in die wir eintreten können. Wir sind dann Teil dieser, also, so kann man schlußfolgern, selber nur virtuell. Der Umkehrschluß hieße, wir seien real, und, da wir uns tatsächlich in einem Raum bewegten, müsse auch dieser Realität sein. Die Bilderzeugung, soweit können wir Brock folgen, mag dialektische Züge tragen, für die Bildrezeption muß das stark angezweifelt werden. Ausgangspunkt ist die begründete Annahme, daß, was uns als Bild erreicht, von uns als eine Art ‹Wahrheit› akzeptiert wird. Die Bilder in ihrer Fülle sind ein Teil der Realität — als Bilder —, die Wahrnehmungsgrenze zwischen Abbild und Abgebildetem verwischt aber immer mehr, das heißt, die Bilder werden nicht mehr als Bilder wahrgenommen. Im Jahr 787 auf dem zweiten Konzil von Nicea wurde von den Ikonodulen folgendermaßen argumentiert: «Niemand wird dermaßen irrsinnig sein, den Schatten und die Wahrheit, den Prototyp und das von ihm Abgeleitete, die Ursache und das aus ihm Hervorgegangene für der Substanz nach eines zu halten.» Das ist noch heute die Position unserer zweiten Gruppe. «Die Kunst», so resümiert Brock den Standpunkt der Bilderfreunde, «sei die Magd der Theologie, wie das Bild Magd des Bildbetrachters sei.» Es geht hier um die Zweckbezogenheit des Bildes, um ein Phänomen von höchster Aktualität. Wenn der Inhaber einer Werbeagentur behauptet, Werbung sei Kunst, so hat er im umgekehrten Sinne teilweise recht. Kunst war immer eine Art von Werbung, sei es für religiöse oder für weltliche Anliegen. Sie ist jedoch gleichzeitig und vor allem immer auch Werbung für ihre eigene Autonomie, für ihre Zwecklosigkeit. Auch die Postmodernen offenbaren in dieser Hinsicht eine seltsame teleologische Sehnsucht nach Sinn — wenn sie sich auch (aus guten Gründen, ist anzunehmen) der mühseligen historischen Analyse verweigern. Es entsteht dann die «individuelle Mythologie», die jedem Fitzelchen von Gedankenabsonderung einen absoluten Anspruch verleiht. «Individualisierung meint erstens die Auf lösung, zweitens die Ablösung traditionaler kollektiver Lebensformen durch solche, in denen die einzelnen auch innerhalb von Kleinfamilien ihre Biographie selbst durchhalten und zusammenflickschustern müssen.» — so der Soziologe Ulrich Beck. Ein Bestandteil dieser Herstellung einer individuellen Biographie war schon immer die (Amateur-)Photographie. Sie bot eine Verschränkung von objektiver und subjektiver Realität, denken wir beispielsweise an Urlaubsbilder: Die Seufzerbrücke in Venedig etwa ist objektive Realität, die nicht zu dem Zweck hergestellt wurde, als Kulisse für Photographien zu dienen. Trotz der der Photographie zu einem gewissen Grade immanenten «Automatisierung der Wahrnehmung», wie Paul Virilio das genannt hat, trägt der Hersteller einer Photographie — außer es ist ein Automat — ein subjektives Element in diesen Prozeß hinein, sei es durch Blickwinkel, sei es durch Plazierung eines Familienmitglieds vor der jeweiligen Sehenswürdigkeit, in unserem Fall der Seufzerbrücke. Eine solche Erschaffung einer — fiktiven — Bildbiographie kennen wir von Marcel Duchamp, der einen Steckbrief mit zwei fast unkenntlichen Automatenphotos von sich selbst und einer Beschreibung, die auf jeden zweiten paßt, mit einer langen Liste von Namen, unter denen der Gesuchte aufgetreten sein soll, als Ready-made 1923 anfertigte; oder von Christian Boltanski, der sein Prinzip der Fingierung der eigenen Biographie und der anderer mit äußerster Konsequenz betrieb. Eine Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität ist bei ihm nicht möglich, denn, so Boltanski: «Je allgemeiner das Abbild ist, desto näher kommt es dem Leben.» Cindy Sherman schlüpfte in die verschiedensten Verkleidungen, ohne ihre wirkliche Identität preiszugeben; sie hat in der Konsequenz ihres ästhetischen Prinzips keine, denn auch die ‹wirkliche› ist in diesem Falle nur Verkleidung. So ist die Individualität, die suggeriert wird, nur Schein, ‹Fake›. Das geschönte Gesicht eines Politikers (z. B. ohne Doppelkinn, Warzen etc.), das uns von Wahlplakaten entgegengrinst, basiert auf der Hoffnung, die Betrachter würden —auch durch die Masse der gleichartigen Bilder — die Realität mit dem Bild verwechseln. Aber erst wenn die abgebildete Person nur noch als Bild existiert, also wenn das Original entweder wegfällt (was vorstellbar ist) oder wenn die Wirklichkeit dem Bild angeglichen wird, ist Deckungsgleichheit gegeben. Für letzteren Fall gibt es ein prominentes Beispiel. Der Popstar Michael Jackson wurde in der Realität — durch Gesichtsoperationen — dem Bild angeglichen, das, so kann man vermuten, von seinen Werbestrategen entwickelt worden war: nicht zu schwarz, nicht zu weiß, nicht zu maskulin, nicht zu feminin. Bei seinen Auftritten greift er sich ans (männliche) Geschlechtsteil — für die (weiblichen) Fans —, das Gesicht ähnelt dem von Diana Ross zu ihren besten Zeiten — für die (männlichen) Fans. Jackson ist eine lebendige Projektion. Die Faszination durch Fremdartiges, die einen in der eigenen ‹Normalität› bestätigte, wurde abgelöst durch ein Identifikationsmuster, hergestellt aus dem Durchschnitt aller in Frage kommenden Konsumentengruppen. Das Ergebnis ist ein Monster, das beispielsweise schon immer als Vorbild für alle modebewußten Frauen durch Modezeitschriften geisterte. Roland Barthes hat es beschrieben: «So ist also die Frau, wie sie gewöhnlich von der Rhetorik der Mode bedeutet wird: unbedingt feminin, auf jeden Fall jung, selbstsicher und gleichwohl eine widersprüchliche Persönlichkeit. Sie heißt Daisy oder Barbara, verkehrt bei der Comtesse de Mun und Miss Phips; ihre Arbeit als Direktionssekretärin hindert sie nicht daran, zu jeder Jahres- und Tageszeit auf allen Festen dabeizusein. Regelmäßig fährt sie ins Weekend, reist ständig nach Capri, auf die Kanarischen Inseln und nach Tahiti, obwohl jede Reise an die Côte führt. Sie hält sich immer nur in mildem Klima auf und liebt alles gleichzeitig, von Pascal bis zum Cool Jazz.» Bild und Realität stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Es ist beileibe nicht so, daß ausschließlich die Realität die Form der Bilder bedingt. Die Bilder interpretieren die Realität, und diese wird, im Rahmen ihrer Veränderbarkeit, den Bildern angeglichen. Indem der Bildraum dem realen Raum angeglichen wird oder umgekehrt, entfällt jene fruchtbare Spannung, die die Avantgarden in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts zwischen beiden Bereichen errichtet haben. Dies ist der Fall bei digital gespeicherten Bildern bzw. im Extremfall bei dem, man kann in diesem Falle nicht mehr sagen ‹Phänomen›, Cyberspace. Die Möglichkeiten dieser Simulationstechnik sind, folgt man den Visionen der Techniker, phantastisch und nahezu unendlich. Man wird nicht mehr nur virtuelle Wirklichkeiten am Rechner konstruieren können, sondern man wird sich in diesen auch bewegen können. Es ist schwer vorstellbar, daß wir in Dallas zusammen mit J. R. Ewing einen Drink nehmen. Der Weg jedoch ist vorgezeichnet, wie man das an dem Gerangel um die Ranch der Ewings sehen kann. Diese Ranch ist nicht vergleichbar mit der Seufzerbrücke, denn sie ist eine rein konstruierte Wirklichkeit, wird aber genauso rezipiert wie die objektive (man müßte diesen Begriff immer in Anführungszeichen setzen) ‹Die Realität› gibt es nicht. Es gibt nur subjektive Wahrnehmung, die aufgrund der Beschaffenheit unseres physiologischen Wahrnehmungsapparates bestimmte feststellbare Ähnlichkeiten aufweist. Duchamp hat das in seiner Installation >Étant donnés: 10 la chute d´eau 20 le gaz d´éclairage (Gegeben sind: 1. der Wasserfall 2. das Leuchtgas) im Philadelphia Museum of Art vorgeführt. Es existiert nur das, was man sieht, das heißt alles, was außerhalb des Gesichtsfeldes oder unter der Oberfläche ist, ist nicht das, was wir uns mittels der Oberfläche oder des Ausschnitts vorstellen bzw. ergänzen. Der Betrachter kann auch nicht in den Raum eingreifen, er ist in die Position des Voyeurs, des Spanners gezwungen, denn er muß, um etwas zu sehen, durch zwei kleine Gucklöcher in einer Holztüre blicken. Dort, wo das Gesichtsfeld aufhört, hört auch das Geschehen innerhalb des Raums auf. Ähnlich verhält es sich im Cyberspace, in den einzutreten man heute noch eines Helms und eines Data Glove bedarf. Der Rechner ermittelt nur die Daten für den gerade gewählten Ausschnitt, der wieder im Speicher verschwindet, um dem nächsten Platz zu machen, wenn man sich ‹umdreht›. «Zu den bedeutendsten Aspekten der Entwicklung von neuen Technologien der digitalen Bildproduktion und des synthetischen Sehens, das die Opto-Elektronik ermöglicht hat, gehört für mich», so Virilio, «die relative und relativierende Durchmischung von Faktischem (oder, wenn man das vorzieht, von Operationellem) und Virtuellem, gehört die Überlegenheit des ‹Realitätseffektes› über ein Realitätsprinzip, das übrigens, vor allem in der Physik, schon weithin abgelehnt wird.» Von einer Manipulation von Bildern, wie es sie schon immer gegeben hat, bis zum Cyberspace oder gar zu der Entwicklung einer künstlichen Intelligenz ist noch ein weiter Weg. Vielleicht sind dies auch die neuen Utopien, an die sich manche Menschlein in ihrer Hilflosigkeit klammern? Auf Kongressen über das Thema jedenfalls geht es, wie Dirk Schümer in der FAZ schrieb, «wildromantisch» zu. Neurobiologen sehen die Entwicklung nüchterner. Sie sind der Ansicht, daß außerhalb der physischen Realität Information nicht verfügbar sei. Das Leben wird nicht zu einer spiritistischen Sitzung werden. Wir können nur den Stoff verarbeiten, der da ist. «Ich bin allein, im Dunkeln. Und nur diese Feststellung. Ich glaubte mich fähig, frei eine Welt zu erfinden, die endlich von irdischen Dingen geräumt wäre. Nichts hat sich geändert. Ich kann lediglich laufen, dumm herumrennen, unnütze Gesten machen.» (Maurice Henry 1928 in der Zeitschrift Le Grand Jeu) Ivo Kranzfelder Laubacher Feuilleton 4.1992, S. 11
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