Corrida. Madrid. Oman. Der bullige Prediger, der neulich wie vom Rinderwahn geschüttelt am Fuß der Nelson-Säule auf dem Trafalgar Square seinen geduldigen Hörern apokalyptische Ängste einjagte, fiel mir zunächst als einziges zum Thema Tierschutz ein. Auch archetypische Symbole und massenpsychologische Erklärungsmuster verschwanden schnell in der Erregung unter der Haut und dem widersprüchlichen Gefühlsgemisch, das der Versuch möglichst unverstellter Wahrnehmung hinterließ. Zwischen Mai und Juni ist im großen Stadion von Madrid Hochsaison: die Elite der Matadore und täglich sechs Stiere vor 25.000 Zuschauern. Garcia Marquez, als er hier letzte Woche sein neues Buch vorstellte, beklagte im Fernsehen, daß er keine Karten mehr bekommen habe, worauf sie ihm zugeflogen sein sollen. Sie fliegen einem zum halben Preis auch zu, wenn man fünf Minuten vor dem Augenblick kommt, in dem der erste Stier aus dem Holztor sprengt. Auch der Staatspräsident mit Leibwache kommt in letzter Minute. Dann ist die Arena genau in der Mitte in eine Sonnen- und eine Schattenseite geteilt. Die Vorzugsplätze liegen im Schatten. Der Schwarzmarkt scheint zu blühen, von den kleinen Dealern bis zu den großen Bossen, die nach dem Schlachtfest ihre schweren Limousinen demonstrativ durch die entlasteten Massen schieben. Diese latente Gewalt erinnert auch daran, daß Menschenopfer im Straßenverkehr kein Thema und schon gar kein Fall für öffentliche Veranstaltungen sind, sondern in einen Versicherungsfall und eine persönliche Katastrophe zerfallen. Zwischen sieben und halb zehn Uhr, bevor es in der Dämmerung nochmal richtig losgeht, der Durst in der Kehle gelöscht und die Erregung im Kopf debattiert wird, ist es ruhig um die Stände mit den Devotionalien der Stierkampf-Folklore, mit Getränken, Nüssen, Zigarren und Hüten. In den umliegenden Straßenkneipen gönnen sich die Kellner eine Verschnaufpause. Dann kann man hier ohne Gedränge beim Bier den Kampf auf dem Bildschirm verfolgen oder dort das pompöse Stadion aus Ziegel und die Apotheosen der Helden in Bronze betrachten. Wo sich in der rührseligen Tradition verblichener Friedhofsplastik ein geflügelter Genius nackt über die Requisiten beugt, steht der Satz: «Es starb ein Torero, ein Engel wurde geboren.» Das geschah erst in den achtziger Jahren. Beginn und Ende der Schau, der Einzug der Charaktere und ihr von einem Triumphzug überhöhter, von einem schmählichen Abzug erniedrigter Auszug, sind ritualisiert und selbst substantiell. Sie brauchen keine An- und Abmoderation, weder Talkshow-Geschwätz noch Olympiade-Pathos. Man kommt schnell zur Sache. Das Publikum kennt die Regeln, den Ablauf und die Kämpfer. Lediglich eine in die Mitte getragene Tafel kündigt den nächsten Bullen an, sein Gewicht großgeschrieben. Schon ist er da und stürmt los. Mit einer Fanfare beginnt jede neue Sequenz der sechs Kämpfe. Ist das Tier schließlich zusammengebrochen, dann wird nach dem Todesstoß eine Schlinge an seinem Horn befestigt. Ein Dreigespann, wie Braurösser aufgeputzt, schleift den Kadaver im Bogen zum Ausgang. Hat sich der Stier während der kurzen öffentlichen Kulmination seiner Lebenszeit zäh und kraftvoll gegen die ruhige Eleganz des überlegenen Gegners gewehrt, dann bekommt er postmortalen Applaus. «Toro» ruft ihm die Masse nach, manchmal fliegen sogar Blumen. Enttäuscht er die Erwartungen schon am Anfang, worüber vor allem die Profis in Abschnitt 7 durch Buhrufe und durch das Schwenken grüner Tücher entscheiden, so wird er ausgewechselt. Einige Augenblicke steht er dann verlassen im weiten Rund der Arena vor 25.000 Augenpaaren, bis eine kleine Herde scheckiger Ochsen hereintrottet. Sie umzingelt ihn und drängt ihn gelassen hinaus, wo den Versager das unheroische Ende im Schlachthaus erwartet. In den Abschnitten, in denen die Sonne auf die Zuschauer brennt, bewegen unzählige Fächer die steil ansteigenden Sitzreihen wie eine konkav nach oben gekippte Wasseroberfläche bei leichter Brise, wenn es so etwas gäbe. Sie widerlegen die weitverbreitete Ansicht, der Stierkampf sei die ausschließliche Domäne der südlichen Macho-Gesellschaft. Dabei scheint die Branche, die in ihrer streng geregelten Opfer-Liturgie ja auch sakrale Züge hat, zumindest in der Frauenfrage weiter zu sein als die gerade in Spanien besonders konservative katholische Kirche, obwohl diese schon lange das Opfer in der Messe unblutig vergegenwärtigt. Ein Torero kann jetzt auch weiblich sein. So durfte Christina Sanchez, zum Matador ordiniert, diesmal als erste Frau in der Hochsaison von Madrid auftreten. Bei der Abschlußrunde im Stadion ist die Sonne untergegangen. Im Scheinwerferlicht glitzern die Goldtressen des letzten Toreros. Schon im Erscheinungsbild hebt ihn das Funkeln über die Vorgänger und steigert seinen vorangegangenen Auftritt. Vielleicht will es die Regie so, zumindest war der letzte an den beiden Abenden der Star. Der Mythos des ungleichen Kampfes braucht den Star, er scheint nach dem Großkünstler zu schreien. In der Reaktion des Publikums ist der beste Matador nicht nur etwas besser als die anderen beiden. Er ist der Held, die anderen sind die Flaschen. Die finstere Kreatur muß eh dran glauben, aber zuerst ihre triebhafte Urkraft vorführen, die der Torero durch seine Souveränität aus dem angestochenen und gereizten Tier herauszuholen hat. Je besser er das schafft und je wilder der Stier, umso ehrenvoller für seinen Bezwinger. Nur der kühnste, geschickteste und disziplinierteste wird gefeiert, aber dann enthusiastisch. Ein Heroenkult wie auf den mythologischen Bildern im Prado und in anderen Weltkunstmuseen, die dem Massenandrang der Saison als Quintessenz abendländischer Kultur neben der Madonnen-Idylle ebenfalls blutiges Hauen und Stechen bieten. Wenn der jugendliche Held zum Schluß, Stolz in der Brust, siegesbewußt um die Arena stolziert oder auf den Schultern seiner engsten Fans getragen wird, die sich manchnmal um diese Ehre rangeln, winkt ihm zum rhythmischen «Torero»-Ruf eine Schaumkrone weißer Tücher. Auch Hüte fliegen. Ein mexikanischer Matador bringt mexikanisches Gefolge. Sombreros segeln besonders gut. Aber das Hoch zum Finale gilt dann doch dem Spanier. Die beiden weniger brillanten Kämpfer müssen mit ihrer Equipe die Arena unter Pfiffen und Buhrufen durchqueren, den Kopf so eingezogen wie beim Favoriten die Brust geschwellt. Von den Rängen fliegen statt Blumensträußen die braunen Polster in den Sand, die man zuvor für 150 Peseten seinem Gesäß gegönnt hat. Das ganze Schauspiel wirkt ebenso prächtig wie regressiv, so stimulierend wie tief verwirrend. Während die Prozeduren der Tierverwertung sonst hinter nur scheinbar keimfreien Fabrikgrenzen dem öffentlichen Blick entzogen werden, ist man hier dem rituellen Rinderschlachten ausgeliefert und in die Massenekstase eingesogen. Sie scheint die Tieropfer für die Vitalität, einen Heros für den Jubel und Verlierer für die Verachtung zu verlangen. Sie fasziniert und schlägt zugleich im Rausch ihrer rüden Eigendynamik jeder aufgeklärten Differenzierung ins Gesicht, für die ein archaischer Triumphalismus mit seiner brutalen Kehrseite zur chauvinistischen Erbsünde gehört. Auch im Sultanat Oman gibt es Stierkämpfe, aber damit enden bereits die circensischen Gemeinsamkeiten trotz der arabischen Vorgeschichte in Spanien. An jedem mohamedanischen Sonntag, der dort ein Freitag ist, schaffen Toyota-Pickups auf ihren Ladeflächen Stiere mit kamelartigen Höckern aus den umliegenden Gütern zum westlichen Rand der ausgedehnten Capital Area, die verkürzt Muskat heißt. Außer seltenen Touristinnen sieht man in dem unscheinbaren Wüstenstadion keine Frauen. Dabei seien sie in diesem relativ liberalen islamischen Staat ebenso im Kommen, wie weltläufige Omanis versichern. Es gibt auch keinen Torero. Nur Tierführer, die wie die Zuschauer das helle, bodenlange Dishdash tragen, das sich wie der weißgestrichene Betonring um die Arena blendend vom gelblichen Grund abhebt. Der Zugang ist frei, der Sand innen wie außen derselbe. Es ist mindestens zehn Grad wärmer als in Madrid. Nur die roten Berge in der Nähe und vereinzelte dürre Baumäste erheben sich über die flache Szene. Rings vor den paar schmucklosen Sitzreihen warten die angepflockten Tiere, bis sie paarweise gegeneinander losgelassen werden. Nichts bezeichnet Bullen oder Züchter, nichts Anfang oder Ende. Es fängt einfach an und hört einfach auf, wenn die Runde durch und die Sonne untergegangen ist. Außer verhaltenem Palaver und gelegentlichen Zurufen ist es ruhig. In langer Reihe hocken die Züchter herrschaftlich auf dem Boden vor dem Publikum, das patriarchale Bambusstöckchen in der Hand oder neben sich aufrecht in den Boden gesteckt. Auch sonst kann man ungehindert ins Kampffeld, aus dem einen niemand außer den Kampfstieren verscheucht, wenn sie schnaubend zu nahe kommen. Es geschieht, daß ein Bulle den anderen quer über das Feld schiebt. Oder daß sie sofort wild aufeinander losgehen und in einer Staubwolke verschwinden, um die der Schiedsrichter und die Wärter mit Stricken herumtänzeln. Es geschieht auch, daß zwei stehenbleiben und nicht mögen. Oder daß einer meist geradlinig zustößt, während der andere von der Seite kommt. Oder der eine erscheint schwach und gerät erst nach einigen Schlappen richtig in Rage. Oder sie stemmen sich mit ihrem Schädel gegeneinander, und keiner weicht von der Stelle: gleichstarker Druck statt gleichstarkem Zug wie bei den Champions im oberbayerischen Fingerhakeln. Oder daß einer sofort abhaut, durch eine der Öffnungen im Ring verschwindet und dann irgendwo zwischen Wüste und Autobahn wieder eingefangen werden muß. Kundige parken deshalb ihren Wagen möglichst fern von den Ausgängen. Selten verletzen sich die Tiere. Ein Blick auf Fischer und Fleischer im Land zeigt schnell, daß man sich auch hier keine Illusionen über Tierliebe machen darf, wenn auch die Pflege einheimischer Arten und Nahrungsketten zur Staatsräson gehört und die Ziegenherden das ökologische Gleichgewicht bedrohen. Die Bullen sind zu kostbar, um sie zu opfern, und das Jahr hat viele Freitage. Der Schiedsrichter bestimmt den Sieger, wovon der Uneingeweihte meist kaum etwas bemerkt. Stricke werden rasch um die Hinterläufe geschlungen und die Kämpfer auseinandergezerrt, um an kurzer oder langer Leine zu ihrem Pflock zurückzutrotten. Keine Spur von öffentlicher Ehrung oder Verdammung. Statt für den Kick durch den beschleunigten Blutkreislauf und für die Inszenierung schicksalhafter Symbolik, unter Beifall oder in Schande zu sterben, dürfen sie mit ihrem Leben auch ihr Gesicht wahren. Thomas Zacharias Laubacher Feuilleton 20.1996, S. 16 Die Photographie stammt von Jean-Pierre Jeannin und steht unter CC.
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