Dionysos — Bacchius Die Götter der Griechen Er ist der sinnlichste unter den Göttern und in unserer Ordnung der Aphrodite gegenüberzustellen, mit der wir begonnen haben. Spät erfolgt sein Kult in den griechischen Ländern, und sein Einzug kommt einer Erschütterung, ja Katastrophe gleich. Schon der Mythos seiner Geburt enthält außerordentliche Ereignisse. Semele wird von Zeus geliebt, aber aus Zweifel, ob er es wirklich sei, fordert sie von ihm einen Eid, ihr einen Wunsch zu erfüllen. Zeus sagt zu und wird nun von der liebenden Frau gebeten, in seiner eigentlichen Gestalt zu erscheinen. Er muß sich nun in Gestalt des Blitzes offenbaren, und von seinem flammenden Feuer verbrennt Semele zu Asche. So steht ein die Ordnung zerreißender Vorgang schon vor seiner Geburt: das Einhalten des Eids, des letzten Prinzips der Ordnung, bringt hier die Auflösung, den Tod. Und dies geschieht dem Gott des Eides selbst. Aber der Mythos geht weiter. Semele trägt ein Kind im Mutterlaib. Zeus entreißt es der brennenden Mutter, birgt es in seinem Schenkel und bringt es zur rechten Zeit auf die Welt. Wieder eine Zeusgeburt, aber wie anders als bei Athene! Von Hermes wird nun das mutterlose Knäblein zu den Nymphen gebracht und dort erzogen. Und nun erfindet der junge Gott den Weinstock und zieht durch die Lande mit einem Gefolge von ausgelassenen Geistern, von Satyrn und Silenen, von Nymphen und Mänaden, auf einem mit Tigern oder Panthern bespannten Wagen, nur mit einem Tiefell bekleidet, die Binde um das Haar, den Thyrsostab schwingend und mit Weinreben und Efeuranken geziert. Wo er auftritt, verfallen ihm die Menscen, besonders die Frauen verlassen ihre Webstühle, stürmen ins Freie, wenn sie die Evoe-Rufe hören, und geben sich seinem Gefolge und seinem ausgelassenen Treiben hin. Ohne Zweifel ist dieser Dionysoszug ein Abbild des Einzugs des Weinbaus mit seinen Folgen. Er erfolgt spät. Homer kennt Dionysos, er nennt ihn den Rasenden, erwähnt ihn, der ganz zuletzt in die Reihe der olympischen Götter aufgenommen wird, mit seltener und äußerster Zurückhaltung, denn sein ganzes Wesen ist den hohen homerischen Geistgöttern fremd. So geht durch den ganzen Mythos seines rauschenden Treibens auch immer der Widerstand gegen ihn, aber er ist vergeblich. Wir spüren, daß hier einfache, ländliche griechische Menschentum, völlig ungewohnt dieser neuen, den Menschen plötzlich verändernden Gabe des Weins, sich gegen ihn wehrt, aber der Verführung erliegt. Im Mythos widersetzt sich Agaue, die Mutter des Königs Pentheus, dem eindringenden Dionysoszug, aber sie wird vom Gott zur Raserei gebracht, so daß sie ihren Sohn für ein Tier ansieht und ihn mit ihren Frauen in Stücke zerreißt. So grenzt das Erscheinen des Weingotts und des Weins zunächst an eine Katastrophe. Aber je mehr der Grieche Maß und Sinn der göttlichen Gabe erkennt, mildert sich der Mythos und auch Dionysos Gestalt wird in einem großen Sinn bedeutend. Der Wein, der Sorgenbrecher, ist eine edle Gabe. Er beschwingt und befeuert den Geist, er verändert den Menschen. Er veräandert den Menschen. Das haben wir auch von Apollon gehört und nichts bringt uns das eigentliche Wesen des göttlichen Dionysos näher als sein Gegensatz zu ihm, der Gegensatz zwischen dem geistigsten und dem sinnlichsten Gott. Apollon fordert die fortgesetzte Selbsterkenntnis, Dionysos bringt die augenblickliche Selbstbetäubung. Apollon verkörpert das höchste Selbtbewußtsein, Dionysos hebt das Bewußtsein auf. Apollon der Weissagende kennt die Vergangenheit und die Zukunft, Dionysos kennt nur die Hingabe an die Gegenwart, den Genuß des schönen Augenblicks.Das rauschartige und ekstatische höchster Schaffenaugenblicke, die auch von Ewigkeitswert sind — das ist Dionysos. In Stefan Georges Siebenten Ring steht ein Vierzeiler gegen die unbeschwingten Bürger im Geiste: «Zwar nehmt ihr jedes ziel mit sicherm trott Und, zuckt der strahl, so klärt auch euch das schöne. Doch steht euch rausch nicht an, wer den verpöne Ward nicht geeinigt mit dem höchsten gott.» Dieser Gott ist sicher nicht Apollon, aber er ist auch der höchste Gott genannt. So trägt Dionysos nicht selten den Lorbeer wie Apollon und gilt wie er als der Gott der seligen Begeisterung. Es ist freilich schwer, den geistigen Bereich des Griechentums in einen apollinischen und dioynysischen zu scheiden — Sie wissen, die These stammt aus Nietzsches Schrift Die Geburt der Tragödie —, so kann man doch wohl sagen: das Epos, der Hymnos, die Elegie entstammen dem apollinischen Bezirk, wer eine solche Dichtung beginnt, ruft Apollon oder die Muse an. Von Dionysos aber, dem späten Gott, stammt die bei allen Völkern späteste Dichtungsgattung, das Drama. Um dies zu verstehen, muß man das Element des Außersichseins, in das Dionysos versetzt, in seiner zweifachen Natur genauer betrachten. Es bedeutet zunächst die augenblicksweise Entäußerung des Selbst in der Ekstase, im Außersichsein. Er ist nicht recht bei sich, sagt in diesem Falle der Unbeschwingte, genauso wie er den Entrückten für einen Verrückten hält. Das zweite Element des Außersichseins bedeutet nach außen gehen, in die Geselligkeit, in die Gemeinschaft. Von Anfang an haftet dem Dionysos auch dieses Moment an. Apollo ist immer allein, ja fern im Hyperboreerland. Dionysos ist nicht nur nahe, er ist der Gott der Geselligkeit, des Festes, er ist immer ein ganzer Festzug. Dionysos, von den Römern Bacchus genannt, bedeutet immer ein Bacchanal. So ist er der Gott der Gemeinschaft. Sehen wir noch tiefer: Apollo ist der Gott der Ordnung und damit der Zeit, denn alle Ordnung ist zeitlich bedingt, die Ordnung von Tag und Nacht, von Arbeit, Schlaf und Essen, auf der der bürgerliche Alltag und damit der Staat und die Tradition beruht. Die Tradition ist der Regelgang aus der Vergangenheit in die Zukunft. Es ist immer eine hohe apollinische Leistung, die Vergangenheit über die Gegenwart hinweg zu sichern und zu konservieren. Aber Dionysos vernichtet Vergangenheit und Zukunft, er ist der Gott der Hingabe an die Gegenwart, er vertilgt die Zeit in der Hingabe an den berauschten Augenblick, er vertreibt die Zeit mit dem Zeitvertreib seiner Feste. Es gab in Athen alle vier Jahre das Fest der Panathenäen, die hochfeierliche Prozession zum Parthenon, wo der Athene ein neues Festgewand geschenkt wurde — ein durchaus apollinische Fest. Aber es gab auch die Dionysien, ein ungeheures Volksfest, zu dem ganz Attika nach Athen strömte, ein Fest mit gewaltigen Umzügen, Maskentreiben und Mummenschanz, wo der Bürger einmal außer sich sein durfte uns sich von der Regel des Alltags befreite. Wir wissen, daß diese Feste von den Römern als Saturnalien übernommen wurden, daß sie trotz des Widerstands der christlichen Kirche durch das ganze Mittelalter als Narren-Laufen, Schönbartspiele, Fastnachttreiben gehen und im heutigen Karneval sich einen Rang und Anspruch erobert haben, dem von seiten einer Obrigkeit zu widerstehen, einen Widerstand gegen Dionysos bedeutete, der wohl immer noch gefährlich wäre. Aus diesem geselligen Treiben, aus Umzügen, Tänzen und Sprechchören, aus Reden und Wechselreden bei dem Dionysosfest ist das attische Theater entstanden, die Dichtung der Wechselrede, entstanden aus dem Geist des Festes und der beschwingten Befreiung von der Regel der Zeit. Dies ist des Dionysos Gabe an die Menschheit. Vom Südabhang der Akropolis werden wir auf die Geburtsstätte des abendländischen Dramas, das Dionysostheater hinabsehen, wo nach athenischem Brauch der erste Sitzplatz nur dem höchsten Dionysospriester zustand. Friedrich Schuh Laubacher Feuilleton 11.1994, S. 15 José de Ribera Dionysos, Prado, Madrid Wikipedia
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