12.367 tägliche Gedanken Täglich hat der Mensch 12.367 Gedanken, behauptet eine PKW-Werbung im BBC. Das Image des dynamischen Geschäftsmanns scheint zum neuen Modell zu passen und das Soll zu erfüllen: so sieht jemand aus, der wie sein Fahrzeug am Tag fünfstellig denkt. Wieviel denkt der Mann in der Nacht? Solchen Gedanken hängen wir so lange nach, daß wir alle weiteren versäumen, die uns die halsbrecherischen Einstellungen und Schnitte aufdrängen wollen. So wären wir als Testpersonen bei der Gedankenzählung sofort weit unter den Durchschnitt gefallen, wobei uns auch keiner an die Automarke mehr kam. Gedankenstrich. Freiheit, Gut, Blitz, Sprung, Spiel, Splitter, Armut, Reichtum, Austausch, Gang, Akrobatik, Übertragung und Verbindung lassen sich dem Wort anhängen. Aber Zählung ist neu. Was wird gezählt, wenn Gedanken gezählt werden? Zählen Hintergedanken? Rechnen Nebengedanken halb? Fällt Gedankenschwere ins Gewicht? Gedanken werden durch Zeichen übertragen. Auch die Zeichen einer chinesischen Zeitung kann jeder nachzählen. Aber sie vermitteln vielleicht nur den Gedanken, daß man sie im Kramladen zum Einwickeln von Reisschalen brauchen kann. Wir können die Zeichen nicht lesen, andere können es. Doch spätestens die ‹Konkrete Poesie› hat gezeigt, daß eine Menge Zeichen allein noch nichts Genaues bedeuten muß. Vom Schulaufsatz wissen wir ungefähr, seit Wittgensteins Tractatus klar und deutlich, daß ein ordentlicher Grund-, Kern- oder Leitgedanke in Hauptgedanken zerfällt. Diese wiederum können in einer numerierbaren Hierarchie von Explikationen gegliedert werden: Generäle, Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften. Auch bei verschiedener Gewichtung ergibt die Summe der Punkte allerdings weder die Gedankenzahl des Tractatus noch die des Autors und seiner Leser. Das Prinzip 1.1.1.1 ... kennen wir vom Inhaltsverzeichnis oder von Computerdateien. Der Datenbegriff führt zu unserem Werbestreifen zurück. Wir halten fest: 1. Gedanken gehen aus Stromstößen im Gehirn hervor. 1.1. Stromstöße kann man registrieren. 1.2.1. Auch gedankenlose Stromstöße werden mitgezählt. 2. Das Kreativstudio hat Gedanken mit Daten verwechselt. 2.1. Die Datenautobahn befördert das Produkt Automobil. 3. Die digitale Verrechnung von allem, was der Fall ist, favorisiert die Umwandlung von Gedankenflügen in Datenmengen. 3.1. Die Alptraumströme, die bei der elektronischen Gedankenzählmaschine abfallen, können nur ungenau gemessen werden. 3.2. Was sich nicht genau messen läßt, existiert nicht im System. Es ist das Wunderbare. Hier verlassen wir den Highway und finden uns im Fragengestrüpp. Wie drückt sich ein Bildgedanke in Frequenzen aus? Entsprechende Berechnungsmodi konnte man in der euphorischen Gründerzeit der Informationsästhetik bei Max Bense nachlesen, der die Qualität von Rembrandt-Radierungen gemessen hat. Sie wäre sicher hinter der Computeranimation und Schnittechnik unseres Spots so weit abgefallen, daß man dem Künstler die 12.367 täglichen Gedanken nie abgenommen hätte. Selbst diese Zahl wäre erst Durchschnitt und kein Geniemaß. Erst der Rembrandt-Trailer im Internet könnte den beschleunigten Gedankenstandard erreichen, den heute der Kunstkonsument verlangt. Zur Methode fällt uns ein, daß man Impulse umso genauer quantifizieren kann, je gleichförmiger sie verlaufen. Dann wäre die ideale Testperson diejenige, die einen Tag lang 12.367 mal gleichförmig ‹ein Streichholz› denkt. Das wäre zugleich autogenes Training, das eine erholsame Gedankenleere im Gehirn erzeugt, bei der auch das Streichholz bald verschwindet. Danach könnte es ein Maß für Wiederholungen geben, das sich zwar für den Mittelwert, nicht aber für die Werbung eignete, weil zu oft wiederholte Zeichen auch bei einem Produkt ihren Sinn verlören. Übrigens verzeichnet das Guinessbuch der Rekorde niemanden, der es an einem Tag auf 12.367 Streichhölzer gebracht hätte. Wer statt des Streichholzgedankens hauptsächlich den National-, Rasse- oder Elitegedanken im Kopf hat, eignet sich trotz der einfältigen Impulse weniger zur Ermittlung des statistischen Durchschnitts, denn die emotionalen Amplituden könnten bei der Messung Unschärfen ergeben. Aber das würde uns jetzt zu weit ins Feld der Nachtgedanken führen. Thomas Zacharias Laubacher Feuilleton 19.1996, S. 16
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