Sehen als Textkultur

Intermediale Beziehungen zwischen Rilke und Cézanne

Vieldeutig orakelte bereits 1928 Walter Benjamin, daß das Buch in seiner überkommenen Gestalt dem Ende entgegengehe. Seither sind, zugunsten der technischen Medien, hundertfach Begräbnisreden auf Bücher und mithin Texte angestimmt worden, deren Ende indessen immer noch nicht abzusehen ist. Wertkonservativ in diesem Sinne verhält sich auch das vorgestellte Buch, das emphatisch für die Erweiterung der Schriftkultur aus dem Geist der Optik plädiert, und zwar an einem Beispiel der Jahrhundertwende: wie sich in poetischen Krisenzeiten Rilke von der Malerei Cézannes anregen läßt, um Fragen der Perspektivwahl, der Raum- und Figurengestaltung, der Darstellung von Zeit und überhaupt alle möglichen Standortfragen für sich zu beantworten — oder neue Verwirrungen der Wahrnehmung aufzuwerfen, denn die Wahrnehmungsverschreibung des «neuen Sehens» ist schließlich über Ästhetiker wie Sklovsky (1916) bis heute zum Topos der Kunsthistoriker avanciert.

Ist für das Verhältnis beider Künste immer wieder die Geschwistermetaphorik bemüht worden — im 18. Jahrhundert bis heute, an die berühmte Fußnote des Horaz (‹ut pictura poesis›) anknüpfend, ist doch hier gerade kein Inzest am und im Werk, sondern reibt sich Rilke gerade am anderen Medium, der Farbe Cézannes, indem er seine Bilder nicht nur in vielen Briefen beschreibt, sondern seine Schreibweise von der Cézanneschen Darstellungsweise ändern läßt. Umgekehrt werden dadurch Cézannes Bilder anders ‹lesbar›, und insofern handelt es sich um Zwischendisziplinarität — um das modische Mimikry-Präfix ‹inter› zu vermeiden — im genauesten Sinne.

Goethe hat, wie um Benjamin vorab zu widersprechen, in seinen Maximen und Reflexionen einmal gesagt, daß Bücher ihr Erlebtes haben, das ihnen nicht entzogen werden kann. Nun geben sich wissenschaftliche Texte im allgemeinen unverdächtig dafür, daß ihnen noch irgend Subjektives, Privates, Erlebtes anhaften könnte, und sicherlich hat das Buch nichts von der Goetheschen Eurhythmik. Doch ist ein bißchen von dem Vitalismus Nietzsches hineingewandert, der in seiner Fröhlichen Wissenschaft das Leben selbst zum Erkenntnismedium erhebt — Leben, der vielleicht zentrale Begriff für Kunst um 1900, wie auch sein Gegenteil: die Abstraktion. Beides gilt hier: denn das Leben verdünnt sich auch zum Zeichen, und soviel wird deutlich: nicht um Dinge an sich geht es, sondern bei Cézanne und Rilke ist es die Erscheinungsweise der Dinge, der Name oder der Farbfleck des Dinges, was interessiert. Und so sehr auch Cézanne als eine Art Jackson Pollock vorgestellt wird, der in den Farben deliriert, so sehr auch Rilkes Romanfigur Malte Laurids Brigge in entregelter Wahrnehmung schwelgt, wird doch die konstruktivistische Intention beider deutlich, im doppelten Sinne: Leinwand bzw. Buchseite werden zum Fluchtpunkt, an dem sich ein chaotisch gewordenes Leben zusammenballt, zum Ort, an dem mit künstlerischen Zeichen gespielt wird. Und mit solchem Möglichkeitssinn soll dann auch eine Anderssicht der Dinge eröffnet, damit vielleicht auch, so der idealistische Glaube, die Dinge selber geändert werden. Das gilt auch für Rilkes Neue Gedichte: seine Blaue Hortensie ist vor allem eine Sprach-Hortensie, kein botanisches Abziehbild; sie will zu der Sichtweise anleiten, daß alle Dinge immer auch noch anders sein könnten.

Einige Strömungsverhältnisse der Theoriebildung werden mit dem Buch erneut in Fluß gebracht, Althermeneutik wird angefeindet, Dekonstruktion bevorzugt, kritische Theorie (Adorno, Benjamin) mit dem Optimismus des neuen Sehens enggeführt. Was den Anmerkungsapparat angeht, ließe sich wiederum mit Benjamin spötteln: «Bücher und Dirnen — Fußnoten sind bei den einen, was bei den anderen Geldscheine im Strumpf.» Was schließlich die Argumente der Studie — oft genug die inneren Gegensätze betonend — angeht, sollen sie aus jeder Einbahnstraße befreien und zu Richtungsänderungen des Wahrnehmens ermutigen.

Detlef Bluemler

Laubacher Feuilleton 18.1996, S. 12

Ralph Köhnen
Sehen als Textkultur
Intermediale Beziehungen zwischen Rilke und Cézanne
Aisthesis Verlag, Bielefeld 1995

 
Fr, 20.03.2009 |  link | (1874) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Schrift und Sprache






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