Mark Twain ißt in Europa

Das europäische Mittagessen ist besser als das europäische Frühstück, aber es hat seine Fehler und Mängel, es sättigt nicht. Der Verbannte kommt gierig und hungrig an den Tisch, er schluckt die Suppe hinunter — irgend etwas Unbestimmtes fehlt an ihr; er denkt, der Fisch werde das sein, was er braucht — er ißt ihn und ist sich dessen nicht sicher; er denkt, der nächste Gang werde vielleicht derjenige, der die hungrige Stelle trifft — er versucht ihn und merkt, daß auch daran irgend etwas fehlt. Und so macht er weiter, von Gang zu Gang, wie bei einem Jungen, der hinter einem Schmetterling her ist, welchen er jedesmal, wenn er sich niederläßt, beinahe erwischt, aber schließlich irgendwie überhaupt nicht bekommt; und zum Schluß ist es dem Verbannten und dem Jungen ungefähr gleichergangen: Der eine ist voll, aber nicht satt, der andere hat viel Bewegung, viel Spannung und eine schöne Menge Hoffnungen gehabt, aber er besitzt keinen Schmetterling. Hier und da sagt ein Amerikaner, er könne sich erinnern, von einer europäischen Table d'hôte vollkommen satt aufgestanden zu sein; aber wir dürfen nicht übersehen, daß auch hier und da mal ein Amerikaner vorkommt, der lügt.

Die Anzahl der Gänge reicht aus; aber es ist eben eine so monotone Vielfalt unbeeindruckender Gänge. Es ist eine leblose Eintönigkeit von ‹gut bis mittelmäßig›. Es gibt keine Akzente. Wenn vielleicht der Hammel- oder Rindsbraten — ein großer, ordentlicher — auf dem Tisch käme und in voller Sicht des Gastes aufgeschnitten würde, könnte das der Sache den richtigen Anstrich von Gediegenheit und Greifbarkeit geben; aber das machen sie nicht, sie reichen das in Scheiben geschnittene Fleisch auf einer Platte herum, und so bleibt man vollkommen unbewegt, es regt einen überhaupt nicht auf. Aber ein riesiger gebratener Truthahn, breit auf den Rücken gelegt, die Füße in die Luft, und der kräftige Saft rinnt ihm aus den fetten Seiten ... aber ich kann ebensogut hier abbrechen, denn sie wüßten ja nicht, wie sie ihn zubereiten sollten. Nicht einmal ein Huhn können sie anständig kochen; und was das Tranchieren angeht, so besorgen sie das mit dem Beil.

Mark Twain

Laubacher Feuilleton 7.1993, S. 1

Poeten tischen auf, ein kulinarischer Streifzug durch die Weltliteratur, unternommen von Günther Cwoidrak, Eulenspiegel Verlag, Berlin 1987, S. 131 und 132

 
Di, 17.03.2009 |  link | (1308) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gastrosophisches






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