Frische(r) Wahn

Vollkorn und Verfolgungsangst

Für unsere Betrachtung nehmen wir nichts Verrücktes aus dem Reformhaus, sondern einen «normalen», «allgemein anerkannten», ebenso teuren wie erfolgreichen Markenartikel. Hier der um Vertrauen werbende Text auf der Verpackung (ohne die Anweisung, wie die Packung zu öffnen sei, ohne Wiederholungen und die detaillierte Einschärfung, der Artikel passe ideal zu allen überhaupt möglichen Mahlzeiten): «ROGGI-BRÖD ist Vollkornbrot, aus dem mahlfrischen Mehl erlesenen Roggens behutsam gebacken. Vitamine, Mineralien und Nährstoffe des ungeschälten Roggenkorns bleiben dabei unversehrt erhalten. Das ergibt ein gesundes, nahrhaftes Vollkornbrot von köstlichem Aussehen, Duft und Wohlgeschmack. Seine Knusprigkeit regt zum guten Kauen an. Das beugt der Zahnkaries vor. Dank leichter Verdaulichkeit und niedrigem Kalorienwert — ein wahrer Freund der schlanken Linie».

«Aus Vollkornroggen, Hefe und frischem Quellwasser»
«das gute, echte Knäckebröd aus Schweden»
«aus den größten Knäckebrotwerken der Welt».

Der topos des Rekords als des Erfolgs, der weiteren Erfolg nach sich zieht (Motto: «thirteen million Americans can't be wrong»), ist am leichtesten zu lesen. Wir werden später seine Verwandtschaft zum terroristischen Modell von Reklame zu erweisen suchen (vgl. den Typus «man ist man»). Auf dem Wege der Assoziation und der Umkehrung versuchen wir nun, die übrigen Elemente zu interpretieren. Im «Vollkorn» klingt «Erfüllung» an, «Ganzheitlichkeit». Sein Name sagt, es sei voll und ganz Korn (und keine Ware). Der Name ist magisch, er beschwört, die Leere im Versprechen von ihr zu befreien. Indem er gegen sie versichern soll, deutet er auf das tatsächlich herrschende Gefühl von Leere, und das heißt: von Betrogensein um die Fülle der Dinge. «Vollkorn» weist auf die aktuelle Haben-Form der Dinge, vor allem für die ökonomisch Abhängigen: überdeckt von der platten Pracht der in allen Anilinfarben blühenden Verpackungen sind die «Sachen selbst» zu Schemen verblaßt und in ihrer äußerlich versprochenen Substanz bald so wenig faßbar wie das sagenhafte «Ding-an-sich» des bürgerlichen Agnostizismus. Ästhetik und Gebrauchsleib der Massenwaren sind dissoziiert und durch die Dissoziation beide beschädigt. Daß über den miesen Inhalt die strahlende Verpackung triumphiert, diskreditiert mit dem Inhalt den Triumph der Strahlen. Die Lust am Glanze wird falsch. Alles Fruchtige floß in die Hülle, und die Hülse droht leer zu sein. Daher: voll Korn.

Die Lobrede, die mit Vollkorn anhub, endet mit der Versicherung, «R» sei «ein wahrer Freund der schlanken Linie». Heißt das: es gibt nicht nur ein Verlangen nach Fülle, sondern auch Angst davor? Fühlen wir uns von den Genüssen verfolgt, die wir verfolgen? Müssen wir in Freunden Feinde fürchten, so daß es der beschwörenden Qualifizierung «wahrer Freund» bedarf? Wie die verdinglichten Menschen «fühlen sich» auch die kapitalisierten Dinge verfolgt. Die Konzentration und Zentralisation ihrer Produktion, d. h. ihre Vergesellschaftung innerhalb der Schranken des Privatbesitzes, räumt weitgehend auf mit den objektiven Unterschieden der «konkurrierenden» Markenartikel. Am Ende unterscheiden sich fast nun mehr die Artikelmarken. Das Besondere einer Ware hat seinen Ort jetzt in der Verpackung, die zugleich ihre zweite Oberfläche und ihre Maske ist, unter der sich ihre Unterschiedslosigkeit verbirgt. Wo aber tendenziell nur noch die Werbeveranstaltungen der Waren «konkurrieren», nimmt Werbung wahnhafte Züge an. In ihnen drückt sich eine Art Verfolgungswahn der Waren aus, der, wie man Freud umschreiben könnte, gesetzmäßig aus der Abwehr überwiegend gleichartiger Beschaffenheit von Waren hervorgeht, die zwanghaft Verschiedenheit beanspruchen müssen. Der Zwang zur unverwechselbaren Besonderheit spiegelt den kapitalistischen Charakter ihrer Produktion wider. Wäre ihre Produktion nicht nur der Stufenleiter, sondern auch der Form nach gesellschaftlich, entfiele dieser Zwang zum falschen Schein des Besonderen. Der Zwang zur scheinbaren Ungleichheit ist allen kapitalistisch, d. h. privat produzierten Waren, gemein. In den Erscheinungen der Waren drückt sich dieser Widerstreit aus: sie sehen aus, als fühlten sie sich von der Gleichheit der Warencharaktere verfolgt. Um sich als etwas Besonderes von den konkurrierenden Waren abzusetzen, müssen sie im Namen ihrer Marke den Abstammungsnachweis unverwechselbarer Qualität erbringen. Um diesen Nachweis wiederum leisten zu können, müssen sie sich wie irre mit ihrer dem Stand der Produktivkräfte wie der weitgehenden Zentralisation ihrer Herstellung verdankten massenhaften und standardisierten Produzierbarkeit herumschlagen. Daß sie hochproduktiv und in riesenhaften Quantitäten hergestellt werden können, müssen sie, um sich als «Marke» zu behaupten, wie einen Makel der Abkunft zu verdecken suchen.

«R» beteuert Einmaligkeit und Ursprungsnähe: «mit frischem Quellwasser» ist das «mahlfrische Mehl erlesenen» — das heißt: nicht für die Massen, sondern für eine Konsumelite bestimmten — Roggens zubereitet. Der Fabrikationsprozeß muß sich zur «Behutsamkeit» bescheiden: nur ganz unwesentlich sei das Natürliche umfabriziert. Gegen die Schattenseiten des Fabrikatcharakters, Konserve zu sein — das heißt: zeitlos, vor Vergänglichkeit «bewahrt» — protestieren die Versicherungen von Unmittelbarkeit und Frische. «Frisch» spekuliert wiederum auf gesellschaftlich durchaus begründete Zwangsvorstellungen der Menschen. Die Angst, veraltet zu sein, abgestanden, wird angetippt in dem Wörtchen «frisch», das sechsmal auf jeder Packung fungiert, davon dreimal in Zusammensetzungen («mahlfrisch», «Frischhalte»).

«Frisches Quellwasser» kann zunächst als Symbol für eine unbefleckte und quellend unverdinglichte Lebensart gelesen werden. Es wird aber mehr noch die latente Angst und Sehnsucht — im Modus der Enttäuschung — derer ansprechen, die von den Profitinteressen abgespeist werden mit abgestandenen Surrogaten, und dies in einer «Umwelt», die von denselben Profitinteressen rücksichtslos in einer Weise verwertet wird, die Verwüstung und nicht nur Verschmutzung genannt zu werden verdient. Für die in der Großindustrie und den großen industriellen Zentren arbeitenden Massen wird «frisches Quellwasser» zum Topos aus der ihnen als Sprache der Waren gegenübertretenden Mythologie ihrer Sehnsüchte. Dem verwerteten Leben verspricht die Werbung Gesundung in topoi der idyllischen Naturästhetik Rousseaus: «Unversehrtheit», «Naturreinheit», «Gesundheit», «ungeschält» und «von köstlichem Aussehen, Duft und Wohlgeschmack». Liegt in «bleiben» und «erhalten» der Akzent auf konservativen Reizworten, so regrediert im Onkel-Doktor-Ton der Scheinaufklärung über Mineralien und Lebensstoffe sowie im kindischen Kosenamen «Roggi» das dieser Werbung entsprechende Bewußtsein vollends ins Infantile. Die Werbung beutet aus und befestigt so, indem sie mit dem Antiurbanismus die Vernunftmüdigkeit anspricht, ein reaktionäres Gefüge von Wahnideen und ins Infantile zielenden Symbolen. Im Wahn steckt jedoch soviel Wahrheit, daß die Welt, in der er seine Wirkung nicht verfehlt, immer irrationaler in ihren Zielen wird. Man hat allen Anlaß, sich vor falschen Freunden zu hüten. Genuß ist verfälscht oder rächt sich. Nichts hält, was es verspricht. Und was dir etwas verspricht, bedroht dich auch. Das Ganze wird immer schwerfälliger und undurchsichtiger. Inmitten des Reichtums sind wir frustriert und verflucht: wenn wir uns nicht der Befriedigung enthalten, um derentwillen wir uns zur Leistung antreiben ließen, müssen wir Angst haben, zu verfetten und mit verfallenden Zähnen aus dem Verfolgungsrennen auszuscheiden. Der von den irren Verhältnissen produzierte Wahn und selbst das Echo, das er im Irrsinn der manipulativen Phänomene findet, ist «der Ersatz für den Traum, daß die Menschheit die Welt menschlich einrichte, den die Welt der Menschheit hartnäckig austreibt», wie die kritische Theorie den Sachverhalt umschrieb.

Wolfgang Fritz Haug

Laubacher Feuilleton 9.1994, S. 7

Wolfgang Fritz Haug, Warenästhetik, Sexualität und Herrschaft Gesammelte Aufsätze, Frankfurt am Main 1972, S. 33–36

 
Di, 17.03.2009 |  link | (1896) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gastrosophisches






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