Mehrkren

Bereits vor der ersten Fühlungnahme seiner Zunge mit dem grob geriebenen Kren – wie der Meerrettich im ersten Wiener Bezirk tituliert wird mit einer Mischung aus Furcht, Respekt und jenem Rest Tollkühnheit, der bald zu verspäteter Reue ausbleicht —, begannen die Lidschatten seiner Begleiterin und deren Wimpern samt ihren Lippen in Tränen zu paddeln, die viel vom Kren ahnten und wenig von Sentimentalität hielten; es ersoff mit jedem Zentimeter, den das Schinkenbrot mit genannter scharfer Zierde an Nase und Mund heranrückte, das Alt Wien, da biß er, aus Gewohnheit in solcher Situation oder füllig gewordener Gier, in die bestellte Mahlzeit, es war zwei Uhr morgens, und in ein Ohrläppchen mit feuchten Augen, Bier stieß auf, und es wunderte ihn, daß an diesem Ohr jetzt kein Ring mehr hing und eine Hand nach seiner vom Sonnenschein ohnehin geröteten Wange schlug, daß es klatschte und ihm vor Schreck der Kren noch stärker in die Nase und aus dieser durchs marode Hirn zog — ein Mißverständnis mußte vorliegen, aber letztlich waren die Ohrläppchen sich so gleich wie die Schinkenbrote, nur die Erlaubnis, an ihnen zu nagen, erforderte mehr finanzielle Vorleistungen, doch jetzt hatten sie sich — Tränen hin, Tränen her — sämtlichen weiblichen Körperteile aus seiner Reichweite zurückgezogen, und er biß, mit verzweifelter Inbrunst und im Glanz seines Junggesellentums, zu, daß Schinken und Kren und das dick geschnittene Brot keine Gelegenheit mehr hatten, sich gegen das Mahlwerk seiner Zähne aufzulehnen, und plötzlich waren die Tränen weggeblasen von des Krens Schärfe, die wie November-Wind durch die Sinne schnitt, und er sah wieder klar — sie war verschwunden, und auch das hatte sie mit dem bestellten Brot gemeinsam, nur ihre Rechnung blieb zurück und eine Parfumsäule, die bald so verweht sein würde wie der Teller abgetragen; und er, seinen Gaumen befragend, wußte (wenigstens einmal im Leben!), was er wollte: mehr.

Markus Epha

Laubacher Feuilleton 18.1996, S. 6
 
Do, 12.03.2009 |  link | (1060) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gastrosophisches






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