Von Müsli für Menschen

Müsli ist Schwyzerdütsch und bedeutet Mäuslein. Soviel für alle, die sonst nicht weiterlesen würden, weil sie denken, sie erführen hier einiges über gesunde Frühstückskost. Wer also meint, im folgenden Neues über die kernige Körnermahlzeit zu erfahren, kann die Lektüre sofort abbrechen.

Die Geschichte ist rasch erzählt: Vorwitzige Maus geht per Bahn auf Wanderschaft und erlebt, vornehmlich in Paris, eine Vielzahl aufregender Abenteuer. Wenn die Hauptrolle von einem Tier besetzt ist, handelt es sich meistens um einen klassischen Kinderstoff (Ausnahmen: ‹Der weiße Hai›, ‹Die Straße der Ölsardinen›). So auch hier. Aber wann immer sich die Literatur an den Nachwuchs wendet, bekommen wir Erwachsene das spitz. Und wir können nicht anders, als da reinzuschnüffeln. Sei es, um eine Form erziehungsberechtigter Vorzensur zu üben («Der Schund kommt mir nicht ins Haus!»). Oder einfach, weil die Adressaten des Lesens noch nicht oder nur in sehr begrenztem Maße mächtig sind («Es war einmal ein ... jetzt hör gefälligst zu, wenn ich Dir schon vorlese, du Rotzlöffel!»).

Manchmal stoßen wir dabei auf wahre Kleinodien, auch wenn es gelegentlich Jahre dauert. Wie zum Beispiel bei Die Zugmaus von Uwe Timm, für die der Zürcher Diogenes Verlag bereits 1981 das Copyright angemeldet hat. Diese Zugmaus ist eine gewöhnliche Hausmaus, heißt Stefan, wird aber von allen nur Mausebiber genannt, weil sie als Kind Baumstämme angenagt hat (das verwirrt Leser/innen und/oder Zuhörer/innen zunächst, tut aber eigentlich überhaupt nichts zur Sache).

Diese Hausmaus/Zugmaus namens Stefan/Mausebiber wird zu Beginn der Geschichte gebeten, ihre Pariser Abenteuer zu erzählen, woraus der gebildete Vorlesende zweierlei Schlüsse ziehen kann: 1. Es handelt sich um eine Rahmenhandlung mit eingeschobener Rückblende (das werden wir tunlichst für uns behalten, weil es die Kids sowieso nicht interessiert). 2. Stefan hat all seine Abenteuer offensichtlich überlebt (und das werden wir ebenfalls nicht groß rumposaunen, weil sonst für die Zuhörer die Spannung raus wäre. Denn seien wir doch mal ehrlich: Hin und wieder wollen wir das blanke Entsetzen in den Kinderaugen sehen. Und ab und zu auch mal ein kleines Tränchen ...).

Unsere Zugmaus erzählt also. Zunächst über ihre Herkunft. Über ihre Verwandtschaft. Und wie ihr der Zirkuspudel Isegrimm eines Tages den Mund (denn natürlich ist Stefan so sehr ein vermenschlichtes Lebewesen, daß er keine Schnauze hat) wäßrig macht auf die Schweiz, speziell auf den dort produzierten Käse: «Die Löcher werden von Schweizer Mäusen kunstvoll herausgenagt. So kunstvoll, daß man nicht die kleinste Spur von einem Mausezahn erkennen kann.» Fortan träumt Stefan von einer Karriere als Diplom-Käsenager («Nein, Kleines, Teenager sind was anderes»). Aber bevor er seine Träume in die Tat umsetzen kann, muß es erst mal ganz dick kommen (Blankes Entsetzen! Kindertränen!): Das Münchner Mäusedomizil fällt der Abrißbirne zum Opfer (Bauspekulation), der Lüftungsschacht einer nahegelegenen Tiefgarage ist kein adäquates Übergangsquartier (zu zugig), und der zwischenzeitlich entstandene Neubau entspricht nicht Großvaters Mäuse-Einmaleins: «Wo Menschen leben, da gibt es auch Abfälle.» Die wandern nämlich in dem Neubau (Fluch moderner Architektur) auf der Direttissima in den Müllschlucker.

Wie der sozial entwurzelte Homo sapiens, landet auch unsere Mäusefamilie am Hauptbahnhof. Da ist die Welt (fast) noch in Ordnung, denn, so Stefan: «Wir kannten inzwischen einen Imbißstand, wo viele leckere Sachen am Boden lagen, zum Beispiel Pommes frites.» So weit, so gut. Aber: «Leider waren sie oftmals durch Ketchup verdorben, das die Menschen aus unerklärlichen Gründen darüberschmieren.»

Vom Bahnhof ist es für unser Mäuschen nur noch ein kleiner Schritt ins Hobo-Dasein auf der Strecke Köln-Hamburg. Anderthalb Jahre D-Zug. Dann der erste Lichtblick: Stefan steigt um und rast mit 200 Stundenkilometer nach Basel. Dabei beobachtet er messerscharf: «Das Eigentümliche an diesem Intercity-Zug war, daß fast ausschließlich Männer darin saßen. Die meisten trugen Anzüge und Krawatten und hatten alle, wie auf Verabredung, kleine lederne Aktenkoffer bei sich («Richtig, mein Sohn, auch Dein Papi ist gelegentlich gezwungen, in dieser Aufmachung rumzureisen»).

Eine weitere Ernüchterung gibt es für Stefan in Basel, wo ihn die Schweizer Bahnhofs-Maus Wilhelm über die diplomierte Käsenagerei aufklärt: «Das isch doch nur e Märli. Vilicht isch das viel friener emol so gsi, aber hüt mache das nur no Maschine. Für uns Müsli isch do kei Platz me.» Und faßt zusammen: «D'Schwyz isch kei Land für Müsli. Do isch alles suuber und ordlig.»

Aber gottlob haben auch Basler Bahnhofs-Müsli ihre Mythen. Und die lassen nur ein Ziel offen: Frankreich, «unter de Schwyzer Müs e Gheimtip». (Unter den fein gekleideten Herren im Intercity auch!) Folglich gehen Stefan und Wilhelm gemeinsam auf Achse und landen in Paris. Offensichtlich ist an Schweizer Mythen mehr dran als an deutschen, denn: «Noch an demselben Abend entdeckten wir eine Gewohnheit der Franzosen, die uns entzückte. Die Franzosen pflegen zu allen Mahlzeiten langgezogene Brötchen zu essen [...], wie für Mäuse geschaffen, denn dabei fallen natürlich viele Krümel ab.» Aber die nahmen sie nur als «Zubrot», denn es gab noch einiges mehr: zum Beispiel in Rotwein eingelegte Oliven. Von denen «lagen viele am Boden, da sie von den amerikanischen Touristen, in der Annahme, sie seien verdorben, meist unter den Tisch geworfen wurden.» Und die erste Lektion in Pariser Lebensart, speziell über die Benutzung der Boulevards, lernen unsere beiden Zugereisten von Pierre (Pariser Bahnhofs-Maus): «Nicht laufen, sondern schreiten. Was huscht, das sieht man.»

In der Folgezeit muß dann aber doch eine ganze Menge gehuscht werden, denn wo es viele Mäuse gibt, da sind auch die Katzen nicht weit. Höhepunkt ist eine Verfolgungsjagd rund ums Bein eines Müllmanns (Blankes Entsetzen! Kindertränen!). Unsere Freunde landen schließlich bei einem Zirkus und lernen notgedrungen eine Menge artistischer Tricks, aber alles soll hier natürlich noch nicht verraten werden ... («Da müßt ihr schon zuhören, bis der Papi zu Ende gelesen hat.»)

Deshalb abschließend lieber noch ein paar kritische Takte zu den Illustrationen. Die sind von Tatjana Hauptmann, teilweise farbig und ausnahmslos sehr hübsch. Nur: Die meisten Schlüsselszenen wurden leider nicht mit dem Zeichenstift erfaßt. Auf einem Dutzend Bilder ist weit und breit keine Maus zu sehen, und häufig flüchtet sich die Illustratorin in die Standardsituation «arme, kleine Maus und großer, gefährlicher Schuh» («Uiii, Papi, gleich tritt sie drauf, stimmt's!?» Blankes Entsetzen! Kindertränen!). Und damit, finden wir, wird unser kindliches Vorstellungsvermögen doch wohl auf eine harte Probe gestellt. Recht so!

Ullrich Jackus


Uwe Timm
Die Zugmaus
Illustriert von Axel Scheffler
dtv junior, Reihe Hanser
120 Seiten, Euro 6,95; SFr 12,40

Jackus' Anmerkung zu den Zeichnungen von Tatjana Hauptmann bezieht sich auf die Ausgabe des Diogenes-Verlages von 1981.

Laubacher Feuilleton 16.1995, S. 13

 
Sa, 07.03.2009 |  link | (3491) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Schrift und Sprache






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