Pädagogischer Fakt Der große Fake-Coup Noch immer gilt der bombastische Spruch: «Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.» Humbug. Der römische Philosoph Lucius Annäus Seneca, kurz Seneca, geboren im Jahr 4 vor unserer Zeitrechnung und gestorben im Jahr 65 durch Selbstmord, in den ihn Kaiser Nero trieb, schreibt zur moralischen Aufrüstung in seinen ‹Briefen an Lucilius› genau das Gegenteil. Schließlich war der Mann kein Dummkopf. In der Epistel 106 heißt es im Original: «Quemadmodum omnium rerum, sic literarum quoque intemparantia laboramus: non vitae, sed scholae discimus.» Und die Übersetzung davon lautet: Wie in allem, so leiden wir auch in der Wissenschaft an Unmäßigkeit: nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir. Wer den armen Seneca so infam verfälscht hat, dürfte namentlich kaum mehr festzustellen sein. Bestimmt war es keine philologische Schlampigkeit, kein Übersetzungsfehler, sondern ein vorsätzlicher pädagogischer Akt irgend eines autoritären Schulmeisters im 19. Jahrhundert. Hier ist ein Überzeugungstäter am Werk gewesen! Fest etabliert hat sich die Fälschung bereits 1876 in Karl Friedrich Wilhelm Vanders ‹Deutschem Sprichwörter-Lexikon›, einem «Hausschatz für das deutsche Volk», Neuauflage 1964. Und die Fälschung, mit Seneca als angeblichem Urheber, geistert bis heute weiter auch durch neueste seriöse Lexika: sicher zur Freude vieler Pauker und auch vieler Eltern ... Aber der gute alte Büchmann rettet in seinen Geflügelten Worten Senecas fast verlorene Ehre, indem er korrekt zitiert: «Non vitae, sed scholae discimus — Nicht fürs Leben, für die Schule bloß lernt man!» Und fügt treuherzig hinzu: «Natürlich äußern wir solche ketzerische Ansicht nicht unseren Kindern gegenüber [...].» Niels Höpfner Laubacher Feuilleton 19.1996, S. 7
Da sieht man es. Nicht in der Schule, durchs Bloggen lernen wir. (Oder in diesem Fall durchs Feuilleton.) Der bildenden Zeitung
sollte man es vielleicht mal zuschicken. Ob's helfen würde, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Da müßten schließlich viele Blätter umgedruckt werden. Außerdem wär's unbequem. Und das ist wohl, wie heute (wert)konservativ übersetzt wird (Anmoderation).>> kommentieren kid37, "We learned more from a three minute record than wie ever learned in school" (Bruce Springsteen, "No surrender") >> kommentieren |
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