Für eine Sprache des Tuns

1.
Unsere Sprache ist eng an die Entwicklung des westlichen Denkens und der Philosophie seit Aristoteles gebunden. Sie entspricht dieser Tradition insofern, als sie ein Mittel der Introversion von Widersprüchen der Außenwelt ist, anders gesagt, als sie die Ansprüche der Außenwelt dem Individuum gegenüber vertritt.

Sie entspricht dieser Tradition auch insofern, als sie die Außenwelt zum Reflex ihrer selbst macht. Das bedeutet, daß die Außenwelt so ist, wie sie «gesagt» wird. Indem sie die Außenwelt durch die Interpretation, die sie von ihr gibt, ersetzt und den Anspruch ihrer Interpretation dem Individuum gegenüber manifestiert, sichert unsere Sprache mechanisch die Herrschaft der Repräsentation über das Leben.

2.
Diese Herrschaft sichert unsere Sprache durch die Teilung. Sie teilt das Leben in «Realität» und «Idee». Dank dieser Teilung installiert sie sich als unersetzliches und einziges Medium, und Dank der unaufhörlichen Inbesitznahme des zwischen Individuum und Außenwelt geschaffenen Raumes ersetzt sie nahezu vollkommen jede direkte und primäre Kommunikation durch die «repräsentative» Information eines Mediums, durch dessen Monolog. In dem Maße, als das Medium repräsentativ wird für die Außenwelt und diese endlich ganz ersetzt, wird das Individuum abhängig von ihm und sieht sich gezwungen, sein Recht auf die Außenwelt schrittweise abzutreten.

Solange als das, «was geschieht», nur dem entspricht, «was schon immer geschehen ist», solange als die immer autonomere Repräsentation auf dem gegenwärtigen Augenblick lastet, verwaltet unsere Sprache die Unvereinbarkeit (um sie zu verbergen) zwischen dem Verlangen nach Kommunikation und ihrem eigenen «repräsentativen» Charakter, der diktiert, was das Verlangen des Individuums «zu sein hat»: die Welt (sprachlos) zu ertragen.

Seitdem die Ideologie des Humanismus (deren Prophet Aristoteles war) installiert ist, erbringt unsere Sprache den reichlichen Nachweis ihrer Eignung zum Vehikel dieser Ideologie der Entmachtung und Entfremdung aller Individuen.

3.
Jede Suche nach einer neuen Sprache, die sich ausschließlich als Suche nach einem neuen poetischen Code verstünde, kann nur als Weiterführung des traditionellen Denkens begriffen werden und nicht dem Vorwurf entgehen, einmal mehr das Feld der Möglichkeiten für die Herrschaft der Repräsentation über das gelebte Leben zu erweitern und zu vertiefen.

Die «visuelle Poesie», die zu keinem Zeitpunkt eine nur literarische Bewegung war, insofern, als sie Ziele proklamiert hätte, die man als Teil der akademischen oder anti-akademischen Position der Gegenwart bezeichnen könnte, hat sich vielleicht zum ersten Mal, durch die Anwendung einer Praxis auto-informativer Elemente, mehr als nur einem poetischen Code widersetzt. Sie hat sich tatsächlich den Machtverhältnissen in ihrer Gesamtheit widersetzt, die in unserer Sprache unterhalten und täglich neu geschaffen werden und also auch in unserer Gesellschaft.

In dem Maße als diese Sprache die Verständnislosigkeit des Individuums gegenüber der Außenwelt, deren Teil es ist (und die ihm doch immer fremder wird) nährt, fordern die «Visuellen» die Belebung der Außenwelt nicht durch ein Jenseits oder durch die Repräsentation (Mißbrauch der zum Objekt der Interpolierung gewordenen Außenwelt), sondern durch den ihr eigenen Willen, sich zu begreifen und sich zu entziffern. »Visuelle Poesie» — der Ausdruck wird übereinstimmend mit der Definition von Emmet Williams für die konkrete Poesie («konkrete Poesie ist, was konkrete Poeten machen») verwandt — ist Träger der der Außenwelt innewohnenden Evidenz, ist es in dem Maße, als das Individuum und die Welt Teil derselben Vision des Lebens sind.

4.
Die Praktizierung einer sich ständig selbst veröffentlichenden Schrift, einer Schrift zugleich, die sich selbst alleiniger Inhalt ist, führt ganz natürlich zur Entdeckung zahlloser Informationselemente außerhalb des alphabetischen Zeichenbestands — das photographische Bild, die Gesten weitab vom Papier, jede Situation des gelebten Lebens. Unter der Bedingung, daß alles, was existiert, durch seine ihm eigene materielle Existenz «spricht», kann Kommunikation stattfinden. Für die «visuelle Poesie» bedeutet das, daß sie eine Notwendigkeit außerhalb ihrer selbst gefunden hat und eine «wirkliche Reflexion in der Außenwelt» (Dick Higgins).

5.
Indem sie die Ansprüche der Außenwelt, so wie sie ist und so wie sie schon immer war, dem Individuum gegenüber vertritt (und nicht umgekehrt), gliedert unsere Sprache es in ihre Interpretation der Außenwelt ein. Das Individuum wird, wie gesagt, anstatt Träger von Sprache Sprachobjekt und damit sprachloser Teil der durch die Sprache errichteten widersprüchlichen Ordnung. Es kann deshalb nicht das Ziel einer Praxis sein, diese Sprache durch einen neuen «repräsentativen» Code zu ersetzten, der einerseits den Umschlag von Leben in Sprachlosigkeit nur akzeptieren könnte: jeder Moment, ausnahmslos alles muß seinem Anonymat, seiner Langeweile entrissen werden; durch die ihm eigene Sprache, den ihm eigenen Willen zu sein.

Jochen Gerz

Laubacher Feuilleton 1.1992, S. 8; Nachdruck aus: Texte, hrsg. von Erich Franz, Karl Kerber Verlag, Bielefeld 1985; Erstveröffentlichung 1970, Uomini e Idee 23/25, Neapel 1970; Theoretische Positionen zur Konkreten Poesie, Tübingen 1974; S. 13–15
 
Mo, 26.01.2009 |  link | (1935) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Schrift und Sprache






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Letzte Aktualisierung: 05.12.2013, 18:31



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