Die regenerierte Unschuld

Es ergibt sich nach so viel an Vorwurf folgerichtig die Frage, wo denn der Verfasser vor Anker zu gehen gedenke und was, wenn nicht den Rückfall in eine prämoderne Erlebnis- und Erscheinungspoesie er anempfehlen möchte. Nun, da wird vieles auf Bescheidung und Moderation hinauslaufen und an sturer Grundsätzlichkeit manches vermissen lassen. A b e r, wenn es gleich nur um literarischen Revisionismus geht — kaum geeignet Sensation zu machen und nicht einmal für den Moment verblüffend — so verhehlt es doch die Behauptung nicht, daß nur ein neues Verhältnis zur naturalen und sozialen Wirklichkeit unsere zeitgenössisch-zeitentzogene Poesie aus ihrem ästhetischen Provinzialismus herausführen könnte. Eine revisionistische Ästhetik wird also mit langem Finger auf die so sträflich vernachlässigte Wirklichkeit, auf den Gegenstand als Widerstand verweisen und sich nicht scheuen, den altbackenenen Einwand vorzutragen, daß eine Leugnung der Bedeutungsdimension des Wortes keineswegs apriorisches Plus ist, sondern: vorerst Beschneidung, vorerst einmal Abtrag. Ein sehr großer Verlust sogar, da dem Wort mit seiner niedersten Funktion sein Geist genommen wird und mit seinem Geist sein Hauch und sein Basta. Es sei in diesem Zusammenhange nicht verkannt, daß die Absischt, das Wort durch eine Abdestillation seines flüchtigen Sinns dingfest zu machen, nicht einer gewissen theoretischen Zielstrebigkeit entbehrt — es ist aber gar keine Frage, daß die materielle Wertigkeit des Wortes nur außerordentlich gering veranschlagt werden kann. Das Prinzip Reduktion führt zu Schwundstufen des Literarischen, die nichts als die Krankheitssymptome auf ihrer Seite haben und überhaupt nur durch ihre Mängel ins Auge fallen. Eine Reinzüchtung ästhetischer Teilqualitäten strebt über Karg- und Kümmerformen unaufhaltsam auf die bilderlose Malerei, die lautlose Wortkunst zu, kurz, auf das blanke Blatt Papier, in dem ja junge Leute hin und wieder eine originelle Kundgabe des schöpferischen Offenbarungseides sehen.

Was ist da zu raten? Sicher nicht das Abstehen von der intellektuellen Produktion oder Koproduktion überhaupt — wir leben nun einmal nicht mehr in jenem Arkadien, wo dem Dichter die Formulierungen wie gebratene Tauben in den Mund fliegen — wohl aber, daß er das in aller Mund geschundene Wort synthetisch zu regenieren trachte, daß er Aug in Aug mit der Wirklichkeit experimentier; daß er bastardisiere, mische, kreuze, Reibetöne und Interferenzen erzeuge, daß er auf die Relationalität der Sprache setze, Relationalität in des Wortes wachligster Bedeutung! Hier die Sprache, dort die Welt, das will doch immer wieder als Bruch erfahren sein, als ständige Unsicherheit akzeptiert, als Problem der Schreibweise vorausgesetzt werden, und erst nach und nicht neben der Dissoziationen beginnt die Lösung des Gedichtes. Eine Lösung, die sicher nicht in Stutzformen und herkömmlichen Harmonien besteht, sondern in der Stiftung ganz neuer Balanceakte: statt des goldenen Schnitts der goldene Bruch!

Das könnte dann so aussehen, daß just die höchste Verstiegenheit zur Unschuld des Singens zurückfindet; daß ein Verlust, über die hohe Kante gebrochen, in den reichsten Farben blinkert und irisiert; daß sich eine Vereinsamung munter und gesellig gibt; daß etwas aus dem Schmerz kommt und vielleicht allen Ernst vermissen läßt.

Kunst, so würde es hier heißen, hat einen ihr eigenen Fortschritt, und der liegt sicher nicht im Abseits und unter der Käseglocke, sondern dort, wo die Spannungen geschürt und die Skrupel gefördert werden — immer in der Hoffnung, daß da ein Weg führe über das Bewußtsein und über das Experiment zu einer transmechanischen Grazie und einer zweiten Einfalt.

Peter Rühmkorf

Auszug aus: Selbstredend und selbstreimend. Gedichte — Gedanken — Lichtblicke, Auswahl und Nachwort von Peter Bekes, Philipp Reclam jun. Stuttgart 1987, S. 80 – 81; Original in: Akzente, 8. Jhg. 1961, S. 36 – 38. Mit freundlicher Genehmigung von Peter Rühmkorf für

Laubacher Feuilleton 2.1992, S. 10

 
Do, 20.11.2008 |  link | (1427) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Essai






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