Die Nacht, die Oper Daß eine Vierjährige sich weigert, alleine zu Hause zu bleiben, ist nicht weiter bedeutsam. Dieses Alleinsein war jedoch nur ein relatives, waren da doch wechselweise gutwillige Damen, sogenannte Babysitter, vorhanden, um das Kind zu hüten, dessen Schlaf zu überwachen. Das wurde durch eine Glasfront erleichtert, die im Kinderzimmer eine Wand ersetzte, die von der Flurseite her mittels eines dichten, braunen Vorhangs mit Blumen- und Jagdmotiven abgedunkelt werden konnte. Um ein Minimum an Intimität und Unbeobachtung zu erreichen, war diese Glasfront zwar notdürftigst mit Abziehbildchen und Nasenpopeln zugekleistert, doch der Vorhang geriet immer wieder in Bewegung, wenn es darum ging, den Schlaf des Kindes zu prüfen. Es galt also für das Kind, sich der einmal wöchentlich wiederkehrenden Aufgabe zu entledigen, mit immer wechselnden Damen lästige Spiele spielen zu müssen. Diese Notwendigkeit wurde erschwert durch die Tatsache, daß das Kind, allerdings mit nur mäßigem Erfolg, die verschiedensten Varianten des Dramas ‹Ich ziehe aus› (das Sich-mit-leerem-Koffer-im-Keller-Verstecken) durchgespielt hatte. So blieb nunmehr die einfache Weigerung, nicht mehr alleine zu Hause zu bleiben. Das Kind durfte sein schönstes Kleidchen, ein braunes, samtenes aus Brüssel, anziehen, ließ sich widerstandslos kämmen, was bei einem Schopf aus drahtigen Locken und einer ungeduldigen Mutter nicht eben ein leichtes Unterfangen war, und an der Hand der Eltern zum ersten Mal in das Dunkel der Nacht treten. Die schillernden Lichter, der besondere Geruch, der die Nacht parfümiert, all die Menschen, die auch im Bus fuhren und so anders angezogen waren und anders rochen als sonst, diese Verlockungen und dieser Zauber sollten das Kind ein Leben lang faszinieren: immer würde es die Nacht und deren Künstlichkeit als das wahre Leben begreifen. Das Kind saß in der dritten Reihe Sperrsitz und war gebannt von den vielen Lampen, all dem Gold und von der Höhe des Theaters, der bemalten Decke, dem großen Lüster und dem roten Vorhang aus Samt, der alles verbarg. So nahm es weder die mißbilligenden Blicke der Erwachsenen, noch deren Getuschel wahr: ob der Unvermessenheit dieser Eltern, die das auch nicht weiter zu stören schien, ein Kind mit in die Oper zu nehmen, das nicht in die Schule ging, also nicht lesen und schreiben konnte und jedes R am Anfang eines Wortes geflissentlich ausließ. Man gab La Traviata von Guiseppe Verdi. Es wurde dunkel im Saal, der Vorhang ging auf, und das Kind sank hinüber in eine andere, fremde Welt. Ein Fest wurde gefeiert, alle prosteten sich zu, und dann kam sie, Violetta, in einem weißen Kleid, ausgeschnitten und mit Blumen übersäht. Später ging sie mit einem Mann irgendwo anders hin, dann war da plötzlich eine Treppe, die sie hinunterschritt, dieses Mal in einem schwarzen, glänzenden Kleid, und der Mann, mit dem sie vorher weggegangen war, schmiß ihr einen Haufen Papier vor die Füße. Nun war sie allein, saß in einem hellblauen Nachthemd an einem kleinen Tisch und gab das weg, was sie am liebsten hatte, und war sehr krank. Als der Mann zurückkam, starb sie. Das Licht und der Applaus riß das Kind aus seinen Tränen, Tränen darüber, nicht verstehen zu können, daß Violetta, deren Tod so wirklich schien, lächelnd und lebendig vor den Vorhang trat. Das Kriterium der subjektiven Wahrheit hinter der absoluten Künstlichkeit der Oper und ihres Nummerngesangs ist eine Absage an den schönen Ton, der verbrennt und Asche ins Publikum wirft, dort, wo er lodern und das Publikum in Brand stecken sollte. Wenn Tosca wirklich für die Kunst und die Liebe gelebt hatt, dann leuchten die Sterne für ihren Mario. Nur dann. Anne Maier Die Autorin, Jahrgang 1955, war Schauspielerin, Journalistin, ist Pressereferentin in Berlin, ab 2009 im Haus der Kulturen der Welt. Laubacher Feuilleton 2.1992, S. 2
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