Willkür — des Willens Kür

Showdown am Flughafen Casablanca, Bogie erschießt den Bösewicht, leistet im weltpolitischen Interesse Verzicht auf seine Dulcinea, ein Polizeipräfekt läßt ‹die üblichen Verdächtigen verhaften›, und das ist dann auch noch der Beginn einer wunderbaren Freundschaft ...

Gute Willkür bei allen Beteiligten, aber wohl eine Szene kaum aus dem Leben, wo sonst Polizisten gummiknüppelnd Dienst tun samt ihren Vor- und Vorvorgesetzten, Potentaten mit Willen zur Macht allemal.

Unerschöpflich aber, ausufernd scheint der Katalog weitestmöglicher Willkürphänomene: eine Frau scheitert an der Nominierung zum Außenminister (zu kleine Ohren), ein Mann scheitert am Frauenparkplatz (Bukowski), Rohigkeit, Frivolität, Zwischenbeinliches gar, Begehrlichkeiten einer (Text-)Glieder losenden Liebe (ja!), die menschliche Intermittenz im Chaos (universell), der Torschrei auf den Lippen des Erfinder-Täters (Heureka), der Zufall, immer noch dem helfend, der sich seiner bedient (corriger la fortune), grüner Punkt und blauer Umweltengel auf rezyclierten und sinnentsorgten politischen Reden (Adenauers Enkel), Prometheus, den Göttern das Feuer klauend und daraus noch den ästhetischen Funken schlagend (peng), Nietzsche, Lüge wie Wahrheit im außermoralischen Sinne betrachtend und letztere kurzerhand zu einem beweglichen Heer von Metaphern, Metonymien und Anthropomorphismen erklärend (1 Hammer!), der Würfelwurf auf den Grund der Dinge tauchender Dichter nach dem Absoluten (Wurzel aus einer Minuszahl) ...

Kapriolen, die die Willkür geistiger Ordnungen schlägt, mag ein Zitat von Borges illustrieren, der wiederum nach einer chinesischen Enzyklopädie die Einteilung des Tierreiches zitiert: «a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.»

Dem nun doch verstörten Ordnungshüter fällt dann noch ein altes Hausrezept ein: das Wörterbuch der Gebrüder Grimm, sprachmusealen Wilderern, die sich von Wörtern zuschneien ließen und sie dann samt ihrer Verwendung alphabetisch ordneten (digitale Willkür!). Unter unserem Stichwort verzeichnen sie einen erst im neueren Gebrauch ‹tadelnden› Sinn von Willkür, zu unterscheiden von der sonst eher ‹nichttadelnden› oder gar ‹lobenden› Verwendung: «die grundbedeutung ist freie wahl oder entschlieszung» und mit dem Hauptgewicht zu solchem «handeln», nämlich als «wahlfähigkeit».

Auch ‹willküren› oder das Substantiv ‹willkürer› sind belegt — ein Schiedsrichter, aber auch ein Eklektiker kann damit bezeichnet werden, der wiederum ein treffendes Bild abgibt für den Autor von Essays wie für deren Arrangeur.

Essays wie auch deren Komposition in der feuilletonistischen Spielwiese sind Mischprodukte, die jedem Purismus die Nase drehen, sind Dokumente von Beweglichkeit, die gegen jede repressive Ordnung aufsteht: laut Adorno läßt der Essay sich sein Ressort nicht vorschreiben, sind ihm Glück und Spiel wesentlich, sind weder «seine Begriffe von einem ersten her konstruiert noch runden sie sich zu einem Letzten».

Wenn jetzt noch eine Kurzdidaxe folgt, zwischen Chancen und Risiken räsonnierend, dann zur Rechtfertigung des Feuilletons: Brüche dort zu belassen, wo sie sind, keinen harmonischen Organismus zu bauen, der Sinntotales verspricht und dem Leser das Denken abnimmt, sondern zerstückelnd zu arbeiten und des «Willens Kür» (Goethe) von Ideen tranparent zu machen, macht heute noch einen guten Willen zum Schreiben aus. Kein Ende des vielen Essaymachens und der Textbegehrlichkeiten! Denn immer könnte alles doch noch anders sein.

Ralph Köhnen

Laubacher Feuilleton 2.1992, Editorial, S. 1
 
Mo, 13.10.2008 |  link | (2252) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Essai






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