Schraubenkunst

Was das Schöne an der Alzheimerschen Krankheit sei? fragte mich vor ein paar Monaten mein Kollege Lothar Romain. — Nun, man lerne jeden Tag neue Menschen kennen. Es ist nicht mehr nachzuvollziehen, ob dieser doch etwas makabre Witz zum Eröffnungstag der Art Frankfurt 1995 bewußt wieder ausgegraben wurde. Auf jeden Fall sprach da kaum jemand mehr von der Verleihung des ‹Elsheimer-Preises›, sondern ein sehr großer Teil der Branche (die ja für ihre biestige Tratschigkeit wahrlich bekannt ist) meinte: Ja — möglichst schnell vergessen.

Das hat seine (tieferen) Gründe allerdings nicht nur in der allgefälligen Ignoranz oder auch Arroganz (die ja bekanntlich ihre tiefreichenden Schwimmwurzeln im Modder der Dummheit verankert hat) der Branche, sondern auch in berechtigtem Ärger.

Bevor ich die Äußerungen anderer zu diesem Thema nenne, mache ich's mal anders als unser Bundeskanzler, der sich bei Schwierigkeiten gerne hinter seine Bediensteten stellt, und stelle mich vor (die meckernden Kolleginnen und Kollegen): Vor gut zehn Jahren habe ich mehrfach öffentlich-rechtlich vor den möglicherweise kommenden US-amerikanischen Verhältnissen in diesem unserem Lande gewarnt — für den Fall, daß es so weiter weggehe vom Mäzenatentum und immer mehr hin zum von vielen so ersehnten Sponsoring. Nun, unser Bundeskanzler hat sich lange Zeit und andauernd hinter seinen Finanzminister begeben — und nun haben wir den Schlammassel: In allen Bereichen der Künste die Abhängigkeit von denen, die mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen die Löcher stopfen, die von keiner Muse je geküßte, pragmatische Politiker in unsere Kulturhaushalte gerissen haben.

So sei, stellvertretend, ein Exempel statuiert: Reinhold Würth, der Mann, dessen Name weltweit immer dann wie von Wirtschaftswunderhand eingeblendet wird, wenn sich ein Kamera-Team während der Verletzungs- oder Verschnauf-Auszeit einer Fußballmannschaft ausruhen darf (die Bandenwerbungspreise bitte bei der FIFA einholen); also jener, der diesen Hosenband-Orden erhielt auf der Art Frankfurt 1995, äußert ohne schwere Nöte (Honi soit qui mal y pense): Mit der Christo-Aktion in seinem Schraubengebäude im heimeligen, hohenlohischen Künzelsau spare er 2,5 Millionen Mark aus seinem Werbeetat. Wie das? Steuerlich absetzbare Kunst? Aber sicher: Es seien doch alle Fernsehkameras — und von denen gibt es ja mittlerweile (auch hierbei Dank an unseren Ober-Pfälzer) immer mehr — auf das Würth-Emblem gerichtet.

Letzteres ist eine ebenso ungefilterte Äußerung des Reinhold Würth, dem Manager seines (10-Milliarden) Umsatzes, wie eine andere — die die vielfältigen Spekulationen der kunstverkaufenden Träger von Hoffnungen durcheinanderbrachte (und bringt): Er kaufe sowieso nur beim Künstler direkt, weil billiger. Er ist eben ein gestandener Geschäftsmann, der es versteht, den Zwischenhandel außen vor zu lassen. — Und ausgerechnet dieser Kunstfreund erhält auf einem Kunstmarkt von denjenigen einen solchen Preis, die sich darum bemühen, ein Produkt überhaupt erst einmal bekannt zu machen.

À propos Kunstmarkt. Sagte da doch am Eröffnungstag ein Besucher zu seinem Begleiter: «Was ich bis jetzt gesehen habe, war ja recht ordentlich.» Mir stellte sich daraufhin die Frage, was er damit wohl gemeint haben möge. Das Angebot insgesamt oder die ‹neue› Ordnung, das ‹neue› Konzept, mit der es, die Kunst also, kanalisiert worden war?

«Abstrakt-gestische Tendenzen» heißt es da, oder «Konstruktiv-geometrische ...» — oder «figurative». Mir fällt dazu nur ein, daß die seriösen «kritischen Kunst-Interpretatoren» (Annemarie Monteil) mit ihrer Arbeit sich immerfort bemühen, die Übergänge fließender zu gestalten, das Schubladendenken abzuschaffen. — Aber was soll's?! Schrauben verkaufen sich ja auch viel besser, wenn sie vorher wohlsortiert wurden.


neue bildende kunst 3.1995, S. 75; nachgedruckt in Kurzschrift 3.2000, S. 13
 
Mo, 14.05.2012 |  link | (1183) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Geld



Schnäppchen-Kunst

Die vom verblichenen Andy Warhol als «Schwulenkrebs» bezeichnete Immunschwäche AIDS mag schrecklicher sein als andere Krankheiten. Doch ich kann mich langsam, aber bedrohlich des Eindrucks nicht erwehren, Krebs oder andere Schicksale, mit oder ohne Todesfolge, bekämen von einem Teil unserer Gesellschaft den Status zweiter Klasse zugewiesen. Oder sollte es, ohne mein Wissen, doch irgendwo Krebs- oder Multiple-Sklerose-Benefiz-Auktionen geben?

Wie auch immer: Diese Teil-Gesellschaft ist unsere Art-Society der mittleren achtziger, frühen neunziger Jahre. Sie geriert sich wie ein Rotstift-Kommando, das die menschliche Sehhilfe Kunst zum (spieß-)bürgerlichen Affirmationsgestell zusammenstreicht. Sie ist ein (bedauerlicher?) Teil unserer Gesellschaft, deren «Anliegen» (ein Begriff, das ein gewisser Theodor Wiesengrund in den Orkus der Unwörter stieß) Nicolai Sarafov kürzlich liebevoll-resignativ «die Verwaltung des schlechten Gewissens» nannte. Ich kann das allerdings nur als ‹Vorab-Erbschleicherei› bezeichnen. Ich meine diejenigen, die, ob in Frankfurt oder Köln, ob, um Karlheinz Schmid zu paraphrasieren, in Stadtteilhausen oder Teilstadtbergen immer dann, modisch brav und uniform herausgeputzt wie für den Kirchgang, losstolzieren, wenn es gilt, bei AIDS-Benefiz-Veranstaltungen ein Schnäppchen zu machen.

Mein langjähriger Ärger mutierte endgültig nach der AIDS-Auktion auf der letzten Art Frankfurt zur Wut. Da ich solche Veranstaltungen grundsätzlich meide, überkam sie mich erst spät am Abend. Da nämlich zitierte Vollrad Kutscher aus Angebot und Nachfrage.

Ein paar Hausnummern: Hella Berent spendet eine Arbeit aus dem Jahr 1993 zum «Aufrufpreis» von 1.800 Mark; sie geht wegen mangelden Interesses zurück. Tomas Schmits 1980er Bratkartoffel, von Barbara Wien für 900 Mark zur Verfügung gestellt, wird von einem Jäger für 750 Mark «abgeschossen». Den Wert von 3.000 Mark stellte sich Marina Abramowicz vor als AIDS-Benefiz-Gabe für eine Arbeit aus dem Jahr 1993; bei dem Höchstgebot von 900 Mark geht sie zurück. Eine Blau-rote Überkreuzung von Rainer Ruthenbeck aus dem Bestand der Arbeitsgemeinschaft deutscher AIDS-Stiftungen sollte 1.800 Mark erbringen; Ergebnis: 1.000 Mark weniger. Einen mehr als günstigen Heerich wollte keiner, auch einen Förg nicht, und auch bei Nam June Paiks RCa von 1982 schnappten die Börsen der risikofreudigen Kunstfreundinnen und Kunstfreunde zu.

Und das ist die Crux: Während New York, die Metropole dieser Erste-Klasse-Krankheit AIDS, zu Veranstaltungen mit präservativem oder reparativem Charakter unter 500 Dollar nicht mal Eintritt gewährt, richtet unsere mittelalterliche Achtziger-Jahre-Boutiquen-Gesellschaft, diejenige, die sich später zur Art-Society gewandelt hat, in den Beeten des Solidar-Gedankens einen exorbitanten Flurschaden an. Anstatt auf den Scheck für den Aufrufpreis nochmal dieselbe Summe zu schreiben, um den gesellschaftlich-verantwortlichen Wert solcher insgesamt für- und vorsorglichen ‹Auktionen› entsprechend zu bewerten, wird — im Grunde – «abkassiert». Hier erfährt der Begriff der siebziger Jahre, Ware Kunst, für den der ‹Eingeweihte› heute nicht einmal mehr ein müdes Stirnrunzeln übrig hat, eine unappetitliche Wiedergeburt: Kunst wird wie im Frühjahrs-, Sommer- oder Winterschlußverkauf verramscht – in Frankfurt, Basel, Köln oder anderswo.

Krebs hin, AIDS her — diese Party-Nachricht würde ich gerne demnächst von einem der vielen Noch-Besserverdienenden hören: Vossmerbäumer auf Benefiz-Auktion ergattert. Sehr günstig. 1.200 Mark. Hab' ich gleich noch 1.000 draufgelegt. Na ja, gibt ja 'ne Spendenquittung dafür.


artis 6.1994 + Laubacher Feuilleton 10.1994, S. 1
 
Sa, 12.05.2012 |  link | (1604) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Geld



Geld und Heilige Kühe, Gold oder Kunst

Gedanken eines Spekulanten

«Kümmern Sie sich ums Geld», hörte er am Schluß zu sich sagen, und so trivial, volkssporthaft diese Aufgabe herkömmlicherweise in die Tat umgesetzt wird, er wollte mehr — und wußte auch schon wie: Mehr durch Spekulation! Spekulation, was sonst? Selbstzufrieden schmunzelnd begann er an später zu denken, wenn er dem gespannten Auditorium übertrieben leise den Weg zum Geld offenbaren würde. Mit seinem alten Scherz — ‹wer den Pfennig nicht ehrt, ist die Mark nicht wert› — würde er die Erwartungen der Zuhörer in die Höhe treiben, um dann immer noch nicht zur Sache zu kommen. Nein, zunächst gelte es, zu danken.

Wertvolle Anregungen kämen von den Babyloniern, den Alten Griechen, von den Antikenforschern Bernhard Laum und Carl Friedrich Lehmann-Haupt. Zeitgenössischer Dank gehe an Otto Steiger, Hans Christoph Binswanger, Michael Ende, Joseph Beuys. Walt Disney schließlich habe in in allerfrühester Jugend die Augen für das Thema geöffnet, habe die fruchtbarsten Bilderkämpfe entfacht, und mit den Geldbädern des Dagobert Duck einen verhängnisvollen Anachronismus auf die Spitze getrieben. Das Haptisch-Stoffliche dieses trägen Rubbelgeldes sperre sich den modernen Anforderungen in unseren Geld-muß-arbeiten-Zeiten. Die Hoffnung, die Lösung verkörperten dagegen die Panzerknacker. Als Vorkämpfer des modernen Prinzips machten sie deutlich, daß die Moneten nicht dem sinnlichen Genuß eines einzelnen, wenn auch noch so netten Bonzen dienen dürften. Das Geld müsse befreit, sozialisiert, unters Volk, auf Trab gebracht werden — zirkulieren. Den in der Jugendlektüre entdeckten Prinzipienstreit habe er sich später zu übersetzen versucht, etwa als: Lord Keynes gegen die Klassiker. Allerdings sei er von solchen Gedankenspielen bald wieder abgekommen. Mehr denn je meine er mittlerweile, daß der Dauerkampf Panzerknacker gegen Duck die realen Geldzustände exakt charakterisiere, nämlich als Herrschaft der Vielfalt. Das heißt, es gebe gar kein Geld an sich, hingegen würden die unterschiedlichen Geldtheorien und -praktiken das Leben durchziehen. Schläfriges Sparstrumpfgeld und lichtgeschwind digitalisiertes existierten in vielen Abstumpfungen und zur gleichen Zeit. Alle Geldbegriffe zusammen hätten sich im Lauf der Geschichte zu einem buntscheckigen Amalgam verschmolzen, zu einem real existierenden Geldgebräu. Das Geld gleiche der Zwiebel, bei beiden könne man auf der Suche nach dem Kern immer mehr Schalen lösen, bis dann zum Schluß nichts mehr übrig bliebe. «Wirklich nichts?» würde er die verdutzten Zuhörer fragen, würde sich zugleich an die Nase greifen, den Mund verziehen und, ohne abzuwarten, selbst die Antwort geben: «Nichts, abgesehen vom Geruch.»

So weit also war sein fiktiver Vortrag gleich gediehen, und im selben Stil hat er ihn dann zu Ende geschrieben. Eine goldene Nase im herkömmlichen Sinn war mit dieser Art Spekulation natürlich nicht zu verdienen. «Dafür sind aber auch die Verluste vernachlässigbar», sprach er bedächtig vor sich hin, als er in dem fertigen Manuskript blätterte. Mehr als schon in der fiktiven Einleitung angedeutet, sprang er da von Epoche zu Epoche, handelte von sogenannten Fünfzigpfennigjungfern, von gebrauchsunfähigen Werkzeugen, von Wagenrädern, Goethes Faust, Legionären, Kredit ohne Geld, Gottesbeweisen, davon und von vielem mehr, alles im Zusammenhang mit Geld. Man wird sich wohl persönlich ein Urteil über diese Art der Spekulation bilden müssen. Er selbst meint, daß sein Schluß, die Geschichte mit dem Beuys-Geld, vielleicht noch einmal kontrolliert werden sollte. Aufgebaut hat er seine Argumentation vermeintlich ganz fleischlich: Sollen die doch ihre Heiligen Kühe schlachten! Dieser gute Rat geht einher mit großen Versprechungen, die allerdings nicht, wie man meinen könnte, den Buddhisten in Indien gelten, sondern unseren gebeutelten EG-Bauern. Der in Aussicht gestellte Lohn soll ihnen ein Opfer schmackhaft machen, genau gesagt, ein Tieropfer, zelebriert am Altar der Überproduktion. Vom Strom des Tierbluts — dieser Gedanke drängt sich auf — verspricht man sich systemreinigende Wirkungen. Dahinschmelzende Butterberge, verdampfende Milchseen sollen auf höherer Ebene kristallisieren, eine Metamorphose durchlaufen, von der kostenträchtigen, kräftezehrenden Ware zum einerseits spar-, andererseits dynamisierbaren Geld.

Zugegeben, solche Ansichten sind etwas ungewohnt. Was jedoch dahintersteckt, ist einfach: Bevor der Bauernstand selbst vertrieben wird, hält er sich — und züchtet er — potentielle Ersatzopfer, die, je zahlreicher, produktiver, ordengeschmückter sie sind, um so wirksamer seinen Schutz zu übernehmen versprechen. Prinzipiell nicht anders verfuhren — ganz allgemein — unsere vorzeitlichen Brüder und Schwestern, nachdem sich herumgesprochen hatte, daß die Götter einerseits auch mit Ersatzopfern vorlieb nahmen, daß sie andererseits trotz Menschenopfern nicht unbedingt verläßlich wirkten. Die Konsequenz heißt Tierhaltung. Die Tiere schaffen Manövriermasse für religiös-mythische Zwecke. Tierhaltung siedelt im religiösen Denken, und was ihre wirtschaftliche Seite betrifft, so mag da eher jener Satz gegolten haben, der von den Bantu-Negern noch aus dem letzten Jahrhundert überliefert ist: «Warum sollten wir uns Herden halten? Die Tiere sind doch da, um für unsere Ernährung zu sorgen, und nicht umgekehrt, wir für die ihre.»

Die Entwicklung für Menschenopfer über das Opfertier zum Geld bahnt sich im Kultischen ihren Weg. Wenn diese Aussage im folgenden mehr und mehr Plausibilität erlangt, dann müßte auch jene Behauptung akzeptiert werden, die da meint, der Handel und die Wirtschaft hätten das Geld nicht erfunden sondern vorgefunden; hätten es dann für ihre Zwecke übernommen und adaptiert. Dies klingt schon einigermaßen logisch, wenn man bedenkt, daß ein eigenes Wertsystem zu erfinden, zu lancieren und durchzusetzen für die Wirtschaft ungleich mühsamer gewesen wäre. Der Umweg über eine bestimmte Wertrelation mag dies verdeutlichen: die Wertrelation zwischen Silber und Gold.

Lange Zeit, von der Antike bis weit hinein in Mittelalter und Neuzeit galt in vielen Landstrichen die Relation 13 1/3 : 1 als Wertverhältnis zwischen Silber und Gold. «13 1/3 : 1 = 40 : 3, verhalten sich, worauf zuerst Lehmann-Haupt hingewiesen hat, ‹wie 360 : 27›, d. i. das Verhältnis der Tageszahl des sexagesimalen Rundjahres zu der des periodischen (siderischen) Monats bzw. das Verhältnis der scheinbaren Umläufe der Sonne und des Mondes. ‹Gold ist hier der Sonne gleichgesetzt und Silber dem Monde. Ob der Mythische Vergleich zwischen Sonne und Gold, Mond und Silber das Hysteron oder das Proteron ist›, mag unentschieden bleiben.» (Beides, Zitat und Zitat im Zitat, präsentieren Lehmann-Haupts Erkenntnisse in Kurzform. Ausgedehnte Beweise führt er um diesen Satz auf Seite 598 herum in dem grundlegenden Artikel über ‹Gewichte› in Paulys Real-Encyklopädie, Supplementband 3, Stuttgart 1918.) 13 1/3 : 1, als kosmischer Takt im Reigen der Himmelsgötter, als Liaison zwischen Sonne und Mond galt den babylonischen Priestern erhaben genug, um auch Modell sein zu können für weltliche Beziehungen. Maße in Zeit und Raum sind dieserart vom Himmel über die Babylonier nach Westen gewandert. Lapidar vermerkt dazu Lehmann-Haupt: «Wo Zahlenverhältnisse zu ordnen sind, stützt man sich überhaupt stets gerne auf bereits gegebene, wenn auch auf anderem Gebiete verwendete und wirksame Abstufungen und Verhältnisse.» (Seite 599)

Von planetarischen Konstellationen als Norm scheint heute nichts mehr übrig zu sein. Schon jede Stammtischrunde würde schwören, daß die Preise aus nichts anderem als der Knappheit resultieren. Wer jedoch weiß mit Sicherheit, wie knapp dies und jenes ist oder oder gar in Zukunft wird? Global bestimmt niemand, und trotzdem würde man seine Hand ins Feuer legen dafür, daß Gold immer teurer sein müsse als Silber. Daß es aber so ist, liegt einzig an der Relation 13 1/3 : 1. Aus dem Bewußtsein gerückt und doch darin eingesenkt bildet die Relation die Norm, die die Rangfolge zwischen Silber und Gold begründet und die neben vielen anderen, hier nicht erörterten Elementen der kollektiven Erfahrung Orientierungspunkte markiert. Die Norm regelt den Grundsatz und — jetzt wieder bezogen auf Silber und Gold — setzt den Fixpunkt, um den herum dann erst die temporären Knappheiten und Überschüsse den Tagespreis tänzeln lassen. Diesen realen, irdischen Marktumständen verschloß sich übrigens auch das alte Babylon nicht und setzte doch alles — nämlich Macht — daran, um der himmlischen Ordnung auch auf Erden Geltung und Wahrheit zu verschaffen. Mit Macht wurde durchgesetzt, daß die Tribute aus den eroberten Gebieten in der erwähnten Quelle flossen. Die Quote war das Werkzeug, mit dessen Hilfe den Besiegten die babylonischen Himmelsgötter ins Bewußtsein gemeißelt wurden. Das Werkzeug diente, so darf man vielleicht sagen, geistigem Hegemoniestreben; die Wirtschaft hatte an alledem offenbar keinen Anteil. Ihre Grundlage hatte die Gold-Silber-Relation im Himmel, und davon sollte der kleine Umweg über Babylon zeugen.

Nun aber zurück zur Geldfrage. Die Entwicklungslinie vom Menschenopfer über das Opfertier zu dem noch symbolischereren Opfer Geld steht zur Debatte. Alle drei gelten nur, wenn man an sie glaubt. Der Glaube ans Geld liegt heute in seiner simulierten Kaufkraft. Sollte hingegen jedes Geldstück diese Kraft real beweisen, dann fände sich niemand, der Geld akzeptierte; jeder wollte es ja umsetzen. Dem gegenüber auf die augenblickliche Vergewisserung zu verzichten, zugunsten späterer Segnungen, ist allen Opfern gemein. Nur, anstatt der Kaufkraft, ist es beim Götteropfer die Weihe durch den Priester, die die Anerkennung vermittelt. Neben dieser Ähnlichkeit geht die Spur des Geldes noch ganz unmittelbar in den Kult zurück: Zum kultischen Opfer gehören Gerätschaften, und mit diesen zu hantieren, zeichnet die berechtigte Person, den Priester aus. Die Übertragung solcher Werkzeuge vermittelt Prestige an die Nächsten, die kultischen Geräte selbst erhalten eine Aura, werden Objekte des Glaubens und Begehrens. Der Schritt zu einer Art ‹Gerätegeld› könnte erfolgen, indem die Priester solche Werkzeuge an würdige Nachfolger weitergeben und, mehr noch, an verdiente Personen — einem Orden gleich — verleihen. Tatasächlich fand Gerätegeld in der Bronzezeit weite Verbreitung, war in ganz Mitteleuropa in Gebrauch, wobei allerdings schon massenhafte Verwendung darauf schließen läßt, daß hier nicht nur Originale in Umlauf kamen. Um Fälschungen aber handelte es sich ebenfalls nicht, in Umlauf gelangten schlicht Nachbildungen der ursprünglichen kultischen Geräte. Diese Opferwerkzeuge waren im praktischen Sinne keine mehr. Ihre Form war stilisiert, verkümmert. Die Äxte etwa hatten stumpfe Schneiden, geringere Größe, verengte Stiellöcher; dem ideellen Wert dieser Gegenstände konnte das jedoch nicht schaden. Zu beweisen ist es zwar nicht, aber die Möglichkeit liegt nahe, daß die Priester selbst solche Nachbildungen der Kultgeräte anfertigen ließen und in Verkehr brachten — dies, um dem Opfernden einen Beweis seiner Gabe aushändigen zu können, ihm wieder, dem Orden gleich, ein Ehrenzeichen zu verleihen.

Einen ähnlichen Wandel in Richtung Gerätegeld haben die bronzenen und später eisernen Spießchen durchgemacht, die im frühen Griechenland dazu dienten, den Beteiligten am öffentlichen Opfermahl die ihnen zustehende Fleischration zuzumessen. Den Bürgern wurden dieserart ihre Verdienste für den Staat durch den Staat entgolten, wobei die Fleischration als ‹Zahlung› mehr als schlichten Nährwert besaß. Ihr Mehrwert hieß Ehre, war die Auszeichnung, die man als Teilnehmer am gottgeweihten Opfermahl erfuhr; ein gewisses Mengenargument steigerte die Ehre, und das drückte sich in der Größe des Spießchens aus, das man beim Opfermahl zugeteilt bekam. So ein Spießchen übrigens hieß ‹Obelos›, und im Zusammenhang mit Geld kommt der Obolus selbst heute noch vor.

Eine Form des Geldes, die ebenfalls bis heute ungebrochen existiert, ist das Rund der Münze. Entstanden ist diese Münzform im siebten vorchristlichen Jahrhundert. Könnte sie nun ebenfalls als Gerätegeld bezeichnet werden? Die Münze ist rund — rund wie das schnelle Wagen-, das fleißige Spinnrad. Von dieser Seite betrachtet wäre das Vorbild dieser Münzform recht irdisch. Ebensogut könnten aber auch hier die Götter mitgespielt haben; sie hätten, vermittelt über die Priester, das Rad als ihre Spende für die Menschen reklamiert. Eine durchaus nützliche Geste wäre das, besonders daran gemessen, daß in der Legende das Feuer den Göttern noch hatte gestohlen werden müssen.

Wie dem auch sei, immerhin taugt die runde Form der Münze trefflich zum göttlichen Symbol. Um die Götter sollte sich das Leben drehen, dies könnte der Kreis in seiner Ewigkeit, ohne Anfang und Ende, vermitteln. Immerhin zeigten die Prägebilder auf den Münzen lange Zeit kultische Szenen, Opfergaben und deuteten in Richtung Opferersatz — man betrachte nur die deutsche Fünzigpfennig-Jungfer, die anstatt ihrerselbst einen Eichbaum übergibt.

Das Werkzeuggeld in seiner ganzen Vielfalt stammt — das ist wohl nicht zu leugnen — aus dem Opferkult. Diese Werkzeuge nebst Nachbildungen wurden ‹verliehen› und begannen als sakrales, nicht wirtschaftliches Wertobjekt zu zirkulieren. Auf staatlicher Ebene dienten sie zur Abgeltung einer außerwirtschaftlichen Schuld, sie dienten als Zahlungsmittel im religiösen und rechtlichen Leben. Auch der Sprung in die Wirtschaftssphäre, vom Zahlungs- zum Tauschmittel, muß eng mit diesem Glauben verbunden gewesen sein, profan ausgedrückt: mit Kredit. Die Notwendigkeit des Kredits setzt temporär unvollständigen Tausch voraus, d. h. die Erfüllung der materiellen Gegenleistung ist für einen späteren Zeitpunkt versprochen. Daran zu glauben fällt leichter, wenn jemand dieses Versprechen gibt, der schon anderweitig positiv ausgewiesen ist, etwa als Besitzer dieser außerökonomischen sakralen Wertobjekte. Solche immateriellen Wertzeichen dann auf den Gläubiger zu übertragen — als Pfand —, wird die nächste Stufe sein. Nach Einlösung der materiellen Schuld muß das Pfand den Rückweg zu seinem ursprünglichen Besitzer antreten; das Pfand würde sich wieder zurückverwandeln von der Kreditsicherung zum immateriellen Wertstück. Ist andererseits die Akzeptanz des Pfandes erst universell geworden, dann löst sich das persönliche Band zwischen Pfandgeber und Pfand. Das Pfand beginnt frei zu zirkulieren, und dem Versprechen auf Gegenleistung, das es in allgemeiner Form in sich trägt, glaubt man analog zum Götteropfer: Via Kredit zieht das Geld ins Wirtschaftsleben ein und stützt jetzt den Glauben an die ersehnte Gegenleistung. Vom Götterzeichen als Begrenzer der Ungewißheit im Universum wandelt sich das Geld zum Beruhigungsmittel für Handel und Wandel; Wandel zum Beispiel, wie er im England des ausgehenden 14. Jahrhunderts stattfand.

Die Welt dort hatte sich damals gründlich verändert. Nach Bauernaufständen waren dem Adel die Leibeigenen davongelaufen. Ihre Revolution blieb jedoch auf halber Strecke stecken, Land erstritten die jetzt Freien nicht. Dem Adel andererseits nützten mangels Arbeitskräften die Ländereien nur noch wenig; die alten Verhältnisse waren zebrochen, die neuen blieben unvollständig. Etwas mußte geschehen, um die beiden Getrennten, Arbeit und Boden, wieder zusammenzubringen. Das Bindemittel hieß Kredit; Geld aber war in dieser naturalwirtschaftlich dominierten Gegend kaum in Umlauf. Sogar die Aristokratie war, im finanziellen Sinne, mittellos. Schaden sollte das nicht, denn der damalige Kredit setzte überhaupt kein Geld voraus. Es gaben ihn die Ärmsten, die freien Bauern, indem sie, bewegt von dem Versprechen, am Ertrag beteiligt zu werden, die Feldarbeit wieder aufnahmen.

Kommt dieses Versprechen schriftlich daher, dann ist geradezu ein Wunder vollbracht, der Geldschein erfunden. Literatur geworden ist diese Art Geldschöpfung bei Goethe, im Faust, in der Tragödie zweitem Teil. Um dort sozusagen der Inflation vorzubeugen bzw. den Kredit, den Glauben ans Geld nicht zu verspielen, muß sein Herrschaftsgebiet wachsen, wird im Drama dem Meer neues Land entrissen. Nach dem gleichen Muster stützten die römischen Legionäre das Geld und arbeiteten zunächst auf Kredit. Sie bekamen zwar Münzen, mußten denen aber im Feindesland erst noch Anerkennung und Geltung verschaffen. Ihr Eigeninteresse und das Machstreben der Kaiser wirkte dieserart — wie später in England — trefflich zusammen.

Wirtschaft und Geld, nachdem beide zusammengekommen waren, haben sich durchaus kräftig befruchtet. Den Glauben an das Geld beflügelten dessen kultische Wurzeln; die Verweltlichung des Geldgebrauchs aber ließ das Wissen um seinen göttlichen Ursprung verkümmern. Das Geldgeheimnis wuchs, der Glaube daran wanderte von außen, von Form und Prägung der Münze, nach innen, zum Material. Die Wertschätzung geht vom Bild zum Bildträger, und der muß dann selbst mehr und mehr vom Feinsten bieten: Edelmetall. Daß aber auch die Edelmetalle voll sind von religiöser Symbolik, mag nicht nur die babylonische Gold-Silber-Gleichung in Erinnerung rufen. Hinzu kommt die Zeitlosigkeit des Edelmetalls — rostfrei, ewig, wie die Götter. Solche Ähnlichkeiten waren nicht zufällig. Sie wurden im Gegenteil bemüht, und das läßt sich aus dem harschen Umgang schließen, den die Herrschaft mit eigenmächtigen Münzfälschern pflegte: In allen griechischen Staaten und auch in Rom stand auf Münzfälschung der Tod, und bis in die mittelalterliche Strafordnung hinein galt sie als geistiges Vergehen, nicht als weltliches Delikt. Das war so, obwohl andererseits die Münzen immer deutlicher zum Propagandamittel der weltlichen Herrscher mutierten, die Münzstempel den Ruhm der Herren in die Welt zu tragen hatten und ihren raumzeitlichen Machtanspruch auf diesem Wege markierten.

Die modernen Geldformen stehen mittlerweile zu ihrer weltlich-wirtschaftlichen Existenz. Sie verzichten, laut Lehrbuch, auf jeglichen inneren Wert, und selbst solche Hilfskonstruktionen wie die Golddeckung sind, obwohl sich das anscheinend noch nicht überall herumgesprochen hat, abgeschafft. Ersatzlos. Geld muß heute nichts anderes als funktionieren, als Recheneinheit, als Zahlungsmittel, zur Wertaufbewahrung.

Welche Rolle aber spielt in diesem kühlen Funktionalismus der Zins, eine Einrichtung übrigens, gegen die das Christentum jahrhundertelang Sturm gelaufen ist, die Allahs Banken noch heute verschmähen? Bei aller Diesseitigkeit des Geldes: der Zins vermittelt ihm so etwas wie Schöpferkraft von innen heraus, ist vom Charakter her das, was auf religiöser Ebene nie gelungen war: Gottesbeweis. Während den Göttern die Hände gebunden sind, bekommt man die Gewalt des Geldes schwarz auf weiß vorgeführt — z. B. per Zinsgutschrift auf die über 600 Milliarden Sparmark, die bundesdeutsche Privathaushalte mittlerweile angesammelt haben.

Wie fruchtbar jedes einzelne dieser Markstücke im Zeitablauf rechnerisch wäre, hat der Schriftsteller Michael Ende vorexerziert, als er 1985 in Wangen im Allgäu mit einem anderen Künstler, Joseph Beuys, drei Tage lang diskutierte. Eine Mark im Jahr Null auf die Bank gebracht, ergäbe, so Ende, bei fünf Prozent Jahreszins in der Gegenwart ein Vermögen, das dem Wert von vier Goldklumpen entspräche — jeweils im Umfang der Sonne. Jemand, der im gleichen Zeitraum fleißig gearbeitet hätte, etwa fünf Millionen Arbeitsstunden, käme auf einen bedeutend kleineren Goldklumpen: Durchmesser eineinhalb Meter. Daß diese Geschichte nicht unendlich funktionieren kann, scheint logisch, und für Michael Ende ist klar: der Besen ist dem Zauberlehrling außer Kontrolle geraten.

«Alles unter Kontrolle», melden hingegen die wirklichen Fachleute, und gegen die wiederum hat Joseph Beuys seine Argumente vorgebracht. Das Geld, so Beuys, dürfe lediglich als ‹Rechtsdokument› fungieren und nicht, wie mittlerweile üblich, als eigenständiger ‹Wirtschaftswert›. Was darunter zu verstehen sei, hat Beuys nicht nur mit Worten versucht darzustellen. Nach umfangreichen Recherchen und Gedankenexperimenten, nach verworfenen und immer wieder neu installierten Versuchsanordnungen hatte sein Geldwesen im Jahr 1982 das ‹Labor› hinter sich gelassen. Ein Prototyp des Beuys-Geldes war entstanden, der dann im Feldexperiment geprüft werden mußte. Dies geschah in Gestalt der ‹7000 Eichen› auf der documenta 7 in Kassel. Zu sehen gab es dort zunächst eine amorphe Skulptur aus 7000 vor dem Fridericanum aufgeschichteten Steinquadern. Trotz seiner unartifiziellen Behäbigkeit war das Gebilde mehr als labil; es trug insofern Dynamik in sich, als seine 7000 Bestandteile an dieser Stelle nicht bleiben sollten. Jeder einzelne Stein war dazu bestimmt, umzusiedeln, an anderer Stelle im Stadtgebiet neben einer neu gepflanzten Eiche zur Ruhe zu kommen. Auf ihrem Weg in die Stadt verwandelten sich die Steine in symbolische Werkzeuge. Sie bewirkten, anders als die versteinerten ‹Argumente› der Demonstranten, ein Sesam-öffne-Dich, die Beseitigung des Asphalts, um aus der Erde neues Leben sprießen zu lassen. Die Umsetzung, der Umsatz, erbrachte je Stein 500 Deutsche Mark, und so begann ein Wandlungsprozeß, der aus 7000 mal 500 kapitalistischen Geldeinheiten dreieinhalb Millionen Alternativ-Mark metamorphisierte. Schlichter ausgedrückt: diese Einnahmen bildeten den Grundstock zur Vorfinanzierung, Kreditierung weiterer ökologischer Projekte; die Bepflanzung des Spülfeldes in Hamburg sollte ja folgen.

Über das Bäumepflanzen hinaus wollte Beuys mit seinem Kasseler Prototyp die Wandelbarkeit des Geldwesens selbst erkunden. «Der Funktionswandel des Geldes», so schrieb er im begleitenden Documenta-Katalog, habe durch die Geldemission der modernen Zentralbanken ein neues Kreislaufsystem entstehen lassen, ohne daß dem der Geldbegriff selbst adäquat angepaßt worden wäre. Um dies nachzuholen, sei das Geld keineswegs gänzlich abzuschaffen. Es reiche die partielle Beschneidung der Rechte, die von ihm ausgehen.

Eine wesentliche Grundlage seiner Gedanken zum Geld spielt die von ihm so genannte ‹Demokratische Zentralbank›. Schon 1977 hat Beuys auf einer seiner ‹31 Tafeln um Geld› (vgl. den Katalog zur Ausstellung ‹Museum des Geldes›, Düsseldorf 1978) das Schema dieser ‹anderen› Zentralbank skizziert. «In 5 Jahren nachkontrollieren!» steht auf einer der Tafeln über einem Gewirr von Kreidekreisen und hingekritzelten Begriffen zu lesen. Diese damals von ihm geäußerte Notwendigkeit der Kontrolle fand dann — so hat es den Anschein — tatsächlich statt, eben auf praktische Art: in der Aktion ‹7000 Eichen›. In dem erwähnten Katalogtext von 1982 schreibt Beuys dazu, daß Geldschöpfung in seiner wie in der herkömmlichen Zentralbank aus dem Nichts geschieht. Von dort aus geht das Geld als Kredit an die Unternehmungen. Es leistet — auch das ist im Prinzip nichts Neues — die Vorfinanzierung der Produktion und läßt zugleich die Einkommen der Arbeitnehmer entstehen. Bei der folgenden Einkommensverwendung fließen hier wie dort die Konsumentenausgaben als Umsätze an den Produktionssektor zurück. Jetzt aber, anders als im ‹wirklichen› Leben, wird das Beuys-Geld wertlos: «Als solches berechtigt es die Unternehmen, an die es gelangt, zu nichts.» Diese Einnahmen müßten in voller Höhe an die ‹Demokratische Zentralbank› zurückfließen, und von hier aus wird die neue Produktionsrunde eingeleitet.

So eindeutig dieses Schema zu sein scheint, auf der praktischen Ebene läßt es noch viele Fragen offen. Woher sollte z. B. ausgerechnet eine noch so demokratische Zentralbank ihre Weisheit nehmen? «Wir werden sehen», hatte Beuys auf solche Bedenken gerne geantwortet, ohne damit auf die visuelle Ebene zu setzen. Wirklich zu sehen gab es im Lauf der Zeit nur das, was zu erwarten war: 7000 ungleiche Paare, ein Baum, ein Stein, in Kassel verteilt.

Mehr Stoff zu verarbeiten bekam hingegen das geistige Auge; ein Kunststück vielleicht würde sich da auftun, von dem wahrhaft zu behaupten wäre, daß jeder es vollbringen könne. Ein Wirtschaftswert, verkäufliche Kunstwerkware ist solche Massenkunst natürlich nicht. Ihr Wert wäre von anderer — ökologischer — Natur. Beuys selbst ist mit dieser Aktion aus der Kunst ausgetreten, und so ein Ausstieg ist doch wohl ein Opfer, zumindest auf wirtschaftlicher Ebene. Mit dem Künstler übrigens haben noch viele andere, etwa die Käufer der Steine, Verzicht geübt: Verzicht auf persönliches Eigentum als Gegenleistung für ihr Geld. Nicht einmal — Modell Parkbank — ein dezentes Spendertäfelchen hält die Erinnerung an sie wach. Die Opfer allenthalben machen — wiederum geistig — aus den Pflanzungen in Kassel 7000 Opferstätten, die, in diesem Fall, den ökologischen Göttern geweiht wären. Als erstes Zeichen der Götter, daß sie von den dargebrachten Eigentumsopfern angetan sind, gilt das Stück Erde, das sie für neues Leben, zur Stadtbewaldung, freigegeben haben. Demgegenüber zu behaupten, es sei das Geld gewesen, das diesen Prozeß bewerkstelligte, wäre zweifellos ebenso berechtigt. Faktisch waren es beide nicht, weder Steinquader noch Geld, die das Werk vollbrachten. Geschafft haben es — eine Platidüde — die Menschen. Als übergeordnetes Werkzeug, um die Getrennten, Natur und Zivilisation, sich wieder ein Stückchen näher kommen zu lassen, diente Geld; allerdings scheint auf, daß mit zwei ganz verschiedenen Geldbegriffen das Ziel zu erreichen wäre. Mit herkömmlichem Geld, das sich nie verbraucht, das die Menschen sogleich zur nächsten (Un-)Tat drängt, um stetig die Zweifel an seiner ewigen Fruchtbarkeit zu widerlegen. Das andere Geld — das Beuyssche Rechtsdokument — käme nach vollbrachter Tat zur Ruhe. Seine Kraft wäre verbraucht, es würde niemanden und zu nichts mehr berechtigen.

Dauerhaft geschaffen hat die Kasseler Aktion solche Rechtsdokumente natürlich nicht. Auch die 3,5 Millionen Zuflüsse von den 7000 Steinkäufern sind dem herkömmlichen Geldkreislauf nicht wirklich entzogen. Immerhin aber, zumindest im Bild, ist dieses andere Geld entstanden, in Form der Steinquader nämlich, die nach vollbrachter Tat zur Ruhe kommen und verwittern. Als stumpf gemachte Nachbildung der weltbewegenden Geldkräfte treiben diese Werkzeuge nur noch die Legendenbildung an, nicht das Wirtschaftsleben.

Rainer Willert


Laubacher Feuilleton 9.1994, S. 4
 
Fr, 14.01.2011 |  link | (1587) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Geld



Frau Rodenstocks Brille

Von Viren und Rädern

«Der Wahnsinn hat einen Namen», war auf dem Telefax zu lesen. Dieser Ausruf war Ausdruck der Fassungslosigkeit, die den Absender überkommen war angesichts des kulturkritischen Strip-tease einer Gesellschaftsdame.
«Inge Rodenstock studierte an den Akademien in Düsseldorf, Paris und München. Mit einer Kollektion von mehreren hundert Werken besitzt sie eine der bedeutendsten Kunstsammlungen Deutschlands.»

So stand es in der Wirtschaftswoche. Überschrieben war damit eine der bemerkenswertesten Charakterisierungen einer Wirtschaftsfrauenvereinigungsvorsitzenden, die das Neue Zeitalter je hervorgebracht hatte. Studierte. Kollektion. Besitzt. Kunstsammlung. Bei solchen Qualifikationskriterien ist man berufen, nein, wird man gerufen — zu lehren, zu zeigen, wie's da drinnen aussieht: Herz aus Kunst.

Und die Muse weinte bitt're Tränen.

Alle beschwörenden Entgegnungen halfen nichts — es sei nichts besonderes, es sei die Schilderung des Status quo der künstlichen Welt, der Kunstwelt, dieser Fruchtblase eines Monstrums namens Neuer Liberalismus, diese Evolution der Revolution ergehe sich nunmal in einer etwas schlichteren Ausformung der Reflexion, diese von der Geldamme gesäugte, unvermögens zu Warenwerten gelangte Species erbreche fortwährend solchen Kunstbrei, der überdies in allen möglichen Blättern focusiert würde. Es fruchtete nichts — der Autor des Telefax wollte sich sofort über sie hermachen. Alles Einhaltgebieten half nichts. Er wollte sie niederringen, diese Walküre der Saatchi-Kultur. Sie sollte keine (Hirn-)Toten mehr nach Wallstreet-Walhall bringen, um sie dort bekränzen, beweihräuchern und im Gral versinken zu lassen. Mit großem Walhallali sollte dieser Pilotin der tieffliegenden Kunstfliegerei in die Luft geholfen werden. Seine Determinanten waren klar: Im tiefen Tal des drögen Geldvernichtens durch Kulturkonsum könne kein reiner Gedanke entstehen, also: ab in die Höhenluft, wo sich bekanntermaßen selbst minimale Leistung maximiert, auch geistige — er ist ein Prediger des Kognitiven: er glaubt an das Intellektuelle im Menschen.

So will ich denn, bevor unser Fluglehrer abhebt ins Kultur-Nirwana, (an-)moderieren, Inge und den Rodenstock-Kreis qua Funktion des schon länger über den Esoterikern Kreisenden vor diesem Berserker des Verismus aasend auf den Arm nehmen, indem ich (ein wenig nur) apologistisch zu skizzieren versuche, was El Niño zum finalen Wiegenfest des letzten Jahrtausends dieser Welt auf den Gabentisch geblasen hat.

Auch als schon etwas in die Tage gekommener Kultur-Kanal-Arbeiter muß ich wohlfrisierte Glatzköpfe mit modifiziertem 50er-Jahre-Wurmfortsatz um Mund und Kinn nicht in die ewige Kanalisation der TV- und Internetwelt wünschen. Denn sie surfen ja bereits mit genußvollem Getöse in deren Ausscheidungen, in Fluß gehalten durch laufende Schriftbänder, die im wesentlichen aus hieroglyphischen Zahlen bestehen. Es ist überdies ja hinlänglich bekannt, daß das Land zwar weit ist, die Sau sich jedoch am wohlsten dort fühlt, wo der Dreck zusammenläuft, sich konzentriert: im Schlammloch.

Ein Nebengleis führt dabei in mich hinein, für das ich von unseren Freunden aus dem Wilden Westen vermutlich zu einer lebenslänglichen Hamburger-Injektion verurteilt werde: Nachgerade zu einem Interruptus meines seit Denkenkönnen anhaltenden Kaas-Lemaire-Maurane-Morato-Dämmercoitus genötigt, schalte ich das Fernsehgerät ein, um ein Portrait der (von mir sehr geschätzten) US-amerikanischen Sängerin Dawn Upshaw zu sehen beziehungsweise zu hören. Glaubte ich zunächst an ein mittelwestliches Intermezzo, so stellte sich bald heraus, daß dieses da gemalte Bild zur Gänze aus diesen faden Farben bestehen sollte: Anstatt die stimmliche und emotionale Strahlkraft dieser Frau zu illuminieren, zeigt, in einer unsäglichen Anbiederung an das, was man wohl für US-amerikanische Musik-Avantgarde hält, ein französischer Sender in Coproduktion mit dem bayerischen öffentlich-rechtlichen 45 Minuten hochtoupierte Folklore, überwiegend aus dem Lagerbestand eines US-amerikanerischen Versicherungsvertreters (nichts gegen Versicherungen!) namens Charles Ives. (Ist hier gar des peu à peu zum Americanix mutierenden Troubadix'-Le Fataliste Drang verwurzelt, zunehmend öfter eine dieser seltsamen, aus dem noch weiteren Westen stammenden Sportuniformmützen und mit dem Schild nach hinten aufsetzen zu müssen?)

Mit dieser «Neuen Musik» aus der Innovativ-Welt glaubte man sich im Klassik-Radio-Reich, der Heimat jener Menschen, bei denen es (ganz neudeutsch) nur «Sinn macht», die nichts aufregender finden als (dann wieder eher altdeutsch) «vor Ort» zu sein, also jenen, die sich nie ins Zentrum, in den Ort begeben (vermutlich aus Angst, einfahren zu müssen in die Grube), demzufolge auch nie von den tatsächlichen Eruptionen umfaßt werden. Es sind die Menschen, deren «romantische» Gefühle im Geflacker des Kleingeistigen dahinglimmen und deshalb nicht im horizontfreien Licht des Tages auflodern können. Es sind die Menschen, bei denen schon in Spermien-Gestalt die Schere im Kopf klapperte, die bereits vor ihrer Zeugung Inkarnation waren: der Neigung zum geduckten Gang.

In diesem Hades der gen Tumbheit fließenden Mittelmäßigkeit heißen die Sirenen Moderatoren, und deren serviler Reklamegesang hält den Ton einer permanent von James Galway, diesem «André Rieu des Blasinstruments» (Herbert Köhler), in Betrieb gehaltenen Affirmations-Dauerflöte (tempi passati), die nur eine (immergleiche) Note kennt: «First-Class-Music», «Klassik-Vision», «Bunte — das europäische People-Magazin», «Einmal täglich Gute-Laune-Klassik — und garantiert ohne Nebenwirkungen», «Das Wetter». (Bei den gebührenpflichtigen Rundfunkanstalten ist solcher Erbschleicherjargon glücklicherweise dann doch limitiert.)

Die Oper brennt, rufen sich Taxifahrer in Frankfurt am Main über Funk zu, wenn die Vorstellung zuende ist, also im Foyer das Licht eingeschaltet wurde, und gemäßigte Fuhren zu erwarten sind. Denn das eigentliche Ereignis findet nach der Vorstellung statt. Einander sehen und gesehen werden und dann schön essen gehen. Zum Italiener. Im Hintergrund dirigiert der Musik-Adlige Neville Marriner sich durch die ergiebigen Altölvorkommen «des ganzen Klassik-Radio-Landes».

Dort treffen wir sie dann wieder, unsere Magistras (die Magister sind noch nicht soweit — langsam, wie Jungs nunmal sind, befinden sie sich noch auf Arbeitssuche) der Kunstgeschichte, die später auch Mitglieder der Klassik-Radio-Gemeinde werden. Doch erst muß noch geheiratet und Mama geworden werden.

Ja, richtig: jene, die ganze Lastkraftwagens (kurz: Lkws) voller Informationens (Infos) aus der Studienberatung schleppten, weil es sich als äußerst belastend erwies, eine Entscheidung zu treffen zwischen Banklehre mit anschließendem Studium der Betriebswirtschaft oder dem der Kunstgeschichte, letzteres sich jedoch als zukunftsträchtiger andeutete, da der Kunst das Geld immanent geworden ist (und andersrum) und wegen nur dem Geld viel weniger supertolle Events abgehen wie bei der Kunst und natürlich auch wegen, wie schon Inge Rodenstock in der Wirtschaftswoche geschrieben hat (und die muß es ja wissen): «Der Kunstmarkt boomt, die Preisentwicklung ist ähnlich wie nach dem Börsencrash 1987, als viele Anleger in Kunstwerke geflüchtet sind.»

Ja, jene, die sich schwertun beim durchgehenden Lesen bzw. Erfassen von mehr als drei Seiten Geschichte der Kunst (es sei denn, sie hätten sie selbst verfaßt, und auch dabei ist's fraglich), die besser Schumacher studiert hätten, um zu lernen, welcher Schuh ihnen paßt, daß man sich nicht pompeux auf die monegassische, höchst kurvenreiche Hochgeschwindigkeitsstrecke begibt, sondern eher etwas tiefergelegt daherfährt. («Nichts gegen Rennfahrer!» würde der Kunsthistoriker Ivo Kranzfelder jetzt wieder ausrufen, so, wie er in Kurzschrift 2 bereits die Dermatologen verteidigt hat.)

Richtig: diese Frauen in (Armani-) Uniform der Kunst-Heilsarmee mit ihrer Generalissima Inge (oder anderer Führer-Figurinen). Sie haben geschworen, diese nur abzulegen, um dem Herrn zu dienen. Meistens handelt es sich dabei um den aus der 31. Etage. Wenn's nicht klappt, darf es auch mal der aus der 12. sein. Und wenn sich letzteres als unumgänglich herausstellen sollte, bilden sie dann den Mittelbau unserer Kunst-Kampf-Truppe, werden gern gesehene Besucher jener Kunsthandlungen, deren Betreiber zuvor (schon) in Kosmetik gemacht haben. («Nichts gegen Dermatologen!»). Sie sind dann von Inge Rodenstocks «Kunstvirus» befallen.

«Wer sich mit dem Kunstvirus infiziert hat, gibt ein Vermögen aus», läßt Frau Inge uns wissen. Wenigstens ein kleines (für die Kunstzwerge). Das man beispielsweise benötigte, um einer Galerie in Toronto Joseph Beuys 100 frontal Views von Arnaud Magg abzukaufen, das «trotz», wie uns sogar Inge Rodenstock verblüfft wissen läßt, «einer Auflage von drei» 65.000 Mark kostet. Also, gibt uns die Kunst-ist-Leben-Ratgeberin, nachdem sich ihr Erstaunen ein wenig gelegt hat, den Hinweis, «müssen wir uns auf Neuland begeben, dorthin, wo freche, respektlose, innovative Kunst angesagt ist. Neu sehen lernen ist gefragt.»

Neu sehen lernen! Sehen. Hat sie geschrieben.

Ja, aber nicht etwa profan wie Birgit Vanderbeke, deren Erzählerin in ihrem Buch Ich sehe was, was du nicht siehst unter provençalischem Himmel begonnen hatte, «Cézanne für Kinder» zu schreiben, «weil das Licht gegen Ende des Sommers so grau wurde, ganz durchsichtig leuchtend grau, daß ich Cézanne plötzlich besser verstand als früher» und der Gedanke an «van Gogh für Kinder» ihr Unbehagen bereitete, das jedoch «so undeutlich» war, «daß ich nicht weiter darüber nachdenken mochte — nicht, solange wir noch im Niemandsland lebten und uns jeden Tag erzählten, was wir sahen, und jeden Tag war es etwas Neues, und jeden Tag war es schön und wurde immer noch schöner von Tag zu Tag».

Sehen lernen. Bei Frau Rodenstocks Sehschule drängt Herbert Achternbusch sich auf, jener malende Film-Theater-Mensch, bei dessen feixischem Gegrinse in der Süddeutschen Zeitung zu Dieter Dorns Maximilianstraßen-Über-Kreuzung ebenfalls Farbe ins Spiel kam: «Jedenfalls habe ich die Farbe Gelb auf den Kammerspielen eingeführt. Als ich für die Luise in Weg eine gelbe Perücke wollte und eine blonde bekam, deutete ich auf den gelben Abfalleimer. Ab da sollen die Farben nicht gar mehr so geschmäcklerisch gewesen sein [...].» Ja, jener Achternbusch, der in den 70er Jahren diese heilvolle Drohung ausstieß, die sich, weit über die Grenzen der Maximilianstraße, dort, «wo die vielen Möchtegern-Riefenstahls gehen», erfreulicherweise immer wieder erneuert: Dieses Land habe ihn kaputt gemacht, und jetzt bliebe er solange hier, bis man es ihm ansehe.

Sehen. Ja — vielleicht «An-Sehen». Aber bloß nicht anschauen! In Frau Rodenstocks Sinne also möglicherweise so: «Kunstsammeln macht Arbeit, erfordert viel Information, viel Fleiß und sehr viel Gespür. Wer sich mit dem Kunstvirus infiziert hat, gibt ein Vermögen aus.» Und versteckt den Schimmel von Diter Rot-Dieter Roth im Plexiglasstall. Stallkunst also. Wildpferdchen anfüttern, in Kasachstan oder im schottischen Hochland oder im (zur Zeit überhaupt britischen) Neuland, solange, bis sie uns drauflassen, diese respektlosen, innovativen Künstler? Oder uns mit ihrem wilden, jungfräulichen Urin (der ja nicht nur in den Träumen von Alt-Herrenreitern nicht stinkt, sondern die dabei an Champagner denken sollen) beglücken, unsere irgendwann dann eben brit-artigen Künstler. Bis sie bei Frau Inge unter der Beglückungs-Tafel liegen. Ist Mister Miller-Horaz ob der Dauerstriegelei von Frau Rodenstock-Maecenas dann schlecht geworden? Oder ist er einfach nur erschöpft — der vielen Pressekonferenzen wegen oder weil er sich, wie Ivo Kranzfelder meint, «in einer anhaltenden Phase des Schaffensdurchfalls» befindet? Und haben die Glitzerkaskaden dieser geldadligen Höflingsmanufakturen die immerselben Genialischen so geblendet, daß sie abtauchen mußten in die solipsistische Dunkelheit, in die kein Quentchen Realitätsschimmer mehr vorzudringen vermag, in der Arkadia in Masturbation umbenannt wurde? Und benötigt die Dame Rodenstock gar eine noch stärkere Sehhilfe? Um sie zu sehen, diejenigen, die in den Kratern liegen, die diese Peanuts-Monokultur-Granaten der einst friedensbewegten und jetzt enorm jungdynamischen Fünfzig- bis Siebzigjährigen gerissen haben?

Ein Recht auf ein gerüttelt Maß an Angewidertsein hat er, der seinerzeit ebenso in den Geist der 68er Gewehte, beim Anblick der Versammlung ehemaliger Revolutionäre, die das Mundwerk nur noch aufmachen, um Austern zu schlucken (nur nicht kauen, das widerwärtig-schlüpfrige Zeugs, es könnte ja nach 'was schmecken) und Prosecco (sic!) nachzukippen bzw. ihren Kopf zu nichts anderem mehr zu gebrauchen als den breitrandigen Alzheimer draufzusetzen — dieser am Stock gehenden Hoden und ihrer für die kapitalismus-buddhistische Kunsthungerhilfe Paco-Rabanne-Mysterientinnef sammelnden, ständig die Kassen der Kosmetikchirurgie liftenden, in die Tage gekommenen Avon-Beraterinnen.

Und wieder auf der Périphérique: Wieviele aus dem 68er-Rodenstock-Kreis haben sich (beispielsweise) mit den Elementarteilchen von Michel Houllebecque wirklich auseinandergesetzt vulgo gelesen (und sie auch reflektiert), nachdem sie soviel darüber gelesen haben? Und nicht nur in den Biedermeier-Designer-Schrank gestellt. Wieviele haben den Kopf hingehalten, als der gesellschaftlich sichtlich angeschlagene Franzose seine Restenergie zusammennahm und damit jene Hiebe verteilte, die den genetischen Holocaust einforderten?

Sie waren vermutlich alle viel zu sehr damit beschäftigt, in den Verlautbarungen der Kunstmarktseiten fündig zu werden — während drei Seiten weiter vorne ein paar Unentwegte (wenigstens) mit Substantiellem spekulierten. Oder war das einfach über (unter?) Dauerwerbesendungsniveau? Etwa, als ob man dort auf einmal komplette Symphonien gespielt hätte («Das ganze Werk», früh morgens um vier, weil die klassische Intelligenz immer wacht) — so ausufernd also wie eine 357 Seiten lange biochemische Versuchsanordnung.

Da die Bibel das durchschnittliche Fassungsvermögen eines menschlichen Gehirns des ausgehenden 20. bzw. beginnenden 21. Jahrhunderts überfordert, haben kleinteiligere Formen der Lebenshilfe Spitzenplätze des (auch buch- und kunsthändlerischen) Daseins übernommen. Was zum Problem für die christlichen Großkirchen geworden ist, führt den weltlichen Sekten (in gar nicht so erstaunlichem Maße) ganze Heilsarmeen («Nichts gegen Dermatologen!») zu. Die zeitgenössischen Pilgerpfade führen in alle Richtungen des Kunsthimmels. Die Kunstkarawanen, Neumillenniumsströmen gleich, ziehen allerorten in die Kathedralen der Neuzeit, von deren Kanzeln aus unser aller neuer Säher, der Herr Saatchi, sein Lullaby predigen läßt. (Haben wir früher nicht mal von den Millionen Fliegen gesprochen, die nicht irren können?!)

Denn und aber, wie Frau Rodenstock zum ausgehenden Jahrtausend richtig erkannte: «Noch ist der Kunstherbst nicht zu Ende, die nächsten Etappen sind Athen, Köln und natürlich New York, wo sich das Rad am schnellsten dreht.»
Bei dem Speed merkt man dann tatsächlich nicht mehr, daß man eins ab hat.

dbm


Kurzschrift 3, Sommer 2000, S. 15–22
 
Mo, 04.10.2010 |  link | (1294) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Geld



s(t)ammel art

Stilistische Abwege des Tourismus

Zu den Freunden der milden Sicht zählte ich mich bislang. Cholerik ist mir fremd. Denn sich aufzuregen oder gar den Voodoo rauf und runter zu rohrspatzen, schadet nur der eigenen Psychohygiene, macht ungerecht und engt die Sicht ein. Klingt buddhistisch, ist aber Selbstschutz. Das Einzige, was mich wirklich ausrasten läßt sind Kinderschänder, die sich mit Wacker-Chemie scheinneutralisieren lassen, Bestien mit spiegelglatten Gesichtern, die blond peroxydierte Korkenzieher-Perücke auf Hitlers Blondie, die Viktimologie der Engelchen und Gewaltverbrecher im Schafspelz, schlicht: Hörner voller Gift.

Galeristen und Sammler, Kunsthistoriker und Sachverständige dagegen genießen bei mir einen Mutter-Theresa-Bonus. Das bringt mir unschätzbare Vorteile. Besonders dann, wenn ich mit Texten aus der Branche zu tun bekomme. Selten kommen mir dann selbsterhöhende Gedanken wie: Wenn andere so gut schreiben könnten wie ich lesen kann, … oder: anakoluthisch glossolallen möchte ich auch mal! Und schließlich pfeifen es alle vom Dach, wenn sie durch Hochwasser hinaufgezwungen werden: Bramarbasieren in grammatikalischen Logorhoiden gehört in ein durch Medien bestimmtes Zeitalter wie der Prophet nicht ins eigene Land.

Großspurig hatten sie es angekündigt, die Macher der Wirtschaftwoche: Ab Oktober gibt's eine Kulturseite im Blatt. Forum soll sie heißen. Sie sollte den Leuten, denen man in ihrem Leben zu viel Geld zugemutet hatte und trotzdem noch die Wirtschaftswoche lesen, oder die etwa unverschuldet zu einem Vermögen gekommen sind und es stiftungstechnisch am Fiskus vorbeideichseln, Mut zum riskanten Investment in Kunst machen, andererseits auch nur darüber informieren, wie anstrengend es an den Welt-Kunst-Börsen in New York, Tokio und Paris zugeht.

Als ob ein letztes Exempel statuiert werden müßte, um dem Jahrtausend den literarischen Supergau zu bescheren, erschien am 28. Oktober 1999 die erste Kolumne. Die renommierte Kunstsammlerin Inge Rodenstock, akademisch gestählt «in Düsseldorf, Paris und München», überschrieb ihren Szene-Bericht mit einer theoriebildenden Aufmunterung für Blinde und konnotierte gleichzeitig ihre Forderung im Titel Neu sehen lernen mit jenem Optiker-Imperium, das sie zum Geldausgeben in Sachen Kunst verdonnert haben muß.

Meine beste Freundin, selbst Seismographin in der Sichtung, Bergung und Weiterleitung unschätzbarer Fundstücke, streckte mir den Text von Inge Rodenstock entgegen. Etwas spitzbübisch, nur mit dem lakonischen Hinweis: Lies doch mal das hier!

Ich las ungewarnt, offen für alles, also völlig vorurteils- und keimfrei: Mit «Überall in Berlin empfängt Beuys den Kunstreisenden. Er schreitet entschlossen über die Eintrittskarten, die Prospekte, die Plakate.» begann der Text. Das dazu eingeklinkte Foto zeigt Joseph Beuys in seinen outfit-typisierenden Stiefeln und filzbehütet zielbewußt auf die Linse zuschreitenen («La rivoluzione siamo noi» steht handgeschrieben drauf). Zum Paßfoto briefmarkisiert erkannte man die Autorin selbst als — so wird spekuliert — Kunstreisende, aristokratisch an Beatrix von den Niederlanden erinnernd. «Nur die Hitler-SA, gezeigt im Alten Museum in den ‹Deutschen Wochenschauen› […], kann Schritt halten.»

Zuerst dachte ich ja, hier handele es sich um den Einstieg in eine Glosse von der ganz besonders perfiden Art, titanic-mäßig oder in der Manier des genialen Walter Moers, der seine aufklärerischen Cartoons pasolinisch so anreichern kann, daß Hitler bis Himmler, ja der ganze Faschismus notgedrungen als kollektiv-megaloide SM-Nummer verstanden werden kann, die den Holocaust als polit-derivierte Sodomie transparent macht.

Gemeinsam mit dieser aufflackernden Hintergrundstrahlung war ich ganz in den Rodenstock-Text-Bann geraten. Ich spürte, da hatte etwas eine Gravitation, das sogar Licht verschlucken konnte. Weltgewandt und zuhause in allen Kreisen, die modernes Kunstverständnis sowohl ästhetisch durchglühen lassen, als auch merkantil in Eigennutz verwandeln kann, scheinen ihr Ateliers wie Königshäuser gleichermaßen offen zu stehen. Diese wunderbaren nachvollziehbaren Schlenker des Welt- und Kulturoffenen, die den hungerleidenden Künstler von einer solventen Gelddame entdecken lassen. «Beuys ist auch mit seiner Arbeit in allen Museen gegenwärtig.» Beuys als reinkarnites Multiple? Etwa wie die Hitler-SA oder der Kunstreisende? Nun ja, Beuys flog früher sogar Einsätze unter Hitlers Befehl. Das bescherte ihm zunächst eine silberne Kalotte und dann den Zustand als Künstler durch Einsicht ins Ungefährlichere.

Inge Rodenstock weiß aber noch ganz andere Sachen. «Beuys war ein großer Bewunderer von Max Beckmann — 1999 halten beide zusammen die erste Position in den Berliner Ausstellungen.» Das ist schlicht eine Wahnsinns-Aussage! John Lennon war ein großer Bewunderer von Chuck Berry — 1999 halten beide zusammen ... Dort eine Kausalität zu vermuten, wo die Parameter elementfremd sind, ist einfach nicht mehr statthaft; es sei denn, es handelte sich um poetisch-literarische Verstrickungen. Das ist hier aber anders als bei Moers, der seinen schwulen Hitler, nach dessen Reinkarnation als Kanalratte, einem — nach einer Geschlechtsumwandlung als abgehalfterte Prostituierte arbeitenden — Göring beiwohnen läßt. Hier blitzt wenigstens kausaler Sinn.

Aber — Beuys bewundert Beckmann, wird deshalb von Arnaud Magg für 65.000 Mark («trotz einer Auflage von drei …») hommagiert. Jaja! «Kunstsammeln macht Arbeit, erfordert viel Information, viel Fleiß und sehr viel Gespür. Wer sich mit dem Kunstvirus infiziert hat, gibt ein Vermögen aus.»

Jetzt ist es raus: Kunstsammeln ist ein Virus! Die Griechen nannten es Phlegma, die Deutschen Schleim. Es dockt da an, wo das Geld Horizonte überblickt. Einmal infiziert, immer unheilbar! Nur noch In-Schach-haltbar. Doch wer überträgt dieses Virus, wer und wo sind die Zwischenwirte? Welche Krankheiten verursacht es? Workaholicism? Informationism? Idiosynkratische Hypersensibilität? Spastische Literalizität? Etwa gar Kunstmukoviszidose? Sind wir Vermögende wirklich ungeschützt, ja ausgeliefert?

Nicht ganz, so scheint es. Wir können in den Spiegel schauen, können ein Photo von uns machen, um unseren Zustand zu kontrollieren und zu dokumentieren. Aber: «Vorläufer wie zum Beispiel Man Ray, Gordon Matta-Clark, Jan Dibbets sind schwer zu übertreffen. Warhol hat die Photographie erst richtig in Mode gebracht!» Nun, wer glaubt im post-psychotherapeutisch digitalen Zeitalter schon noch an die Diagnose des Kunstvirus' durch lackmustitrierte Salznitrate oder kalisaurem Zeug? Ganz einfach: Das Kunstvirus ist ein einmaliger, aber endgültiger Befall, der nach einer Latenzperiode meist unverschuldeter Armut, unabwendbarer Einheirat in solventere Kreise oder heimtückische Geldsackpräparation durch Erbfolge seine Pathologie voll entfalten kann. Es verändert fast schlagartig das gesunde Verhältnis zur Portokasse, wandelt es um in eine selbstzerstörerische, bargeldlose Haben-wollen-Sucht, die zu immer riskanteren Manövern an Markt und Börse verleiten. Ähnlich wie bei schizo-affektiven Psychosen verführt es zu kaufrauschähnlichen Zwangserscheinungen. «Die Preisentwicklung ist [dann] ähnlich wie nach dem Börsencrash 1987, als viele Anleger in Kunstwerke geflüchtet sind.» Dieses Virus macht anscheinend vor nichts halt. Es läßt die Infizierten sogar in Kunstwerke fliehen. Sicher gibt es Kunstwerke, die so etwas Extravagantes mit sich machen lassen.

Die Bavaria in München zum Beispiel, ein Geniestreich der Erzgießerei, können sogar mehrere Anleger gleichzeitig als Fliehburg benutzen. «Aber wieviel seriöse Sammler gibt es, die auf diesem Preisniveau mithalten können?» Ganz oben in ihrem Kopf (der Bavaria) befinden sich Sitzbänke für fliehende Banker, die Crashes and Deep Depressions aussitzen müssen und bei günstiger Wetterlage einen Blick auf die Alpenkausalkette genießen können, die an vertraute DAX-Kurvaturen erinnert. Aber die mit dem Kunstvirus Infizierten, die sich, anders als ihre HIV-positiven Kollegen oder den sterblichen Kleinanlegern, nicht mit ihrem unaufhaltbaren körperlichen Zerfall auseinandersetzen müssen, trifft es auf der physischen Komplementärwährungsebene: dem Geld! Hier schlagen die wirklichen Imperien zurück, wenn Fehler gemacht wurden. Deshalb gibt Inge Rodenstock augurenhaft ihr gesammeltes börsentaktisches Wissen soz. ungeschützt an die Wirtschaftswoche weiter. Und hier kann es jeder lesen: «Auch in der Kunst gibt es Blue chips: zum Beispiel de Kooning, Jasper Johns, Roy Lichtenstein, Warhol, Yves Klein, Cy Twombly und einige mehr. Ihre Preise steigen, fallen auch mal, aber schließlich werden sie immer teurer. Das Angebot wird knapper. Kunstwerke unterscheiden sich von Aktien dadurch, daß sie einmalig und unersetzbar sind. […] So müssen wir uns auf Neuland begeben, dorthin, wo freche, respektlose, innovative Kunst angesagt ist. Neu sehen lernen ist gefragt!» Ja, aber mit welchem optischen Gewerk denn, Frau Rodenstock?

Daß die Preise — nachdem sie einmal fallen, einmal steigen — immer teurer werden, war mir bisher einfach nicht bekannt. Entweder kann ein Preis für ein Objekt höher werden, oder ein Objekt kann teurer werden, aber der Preis doch nicht. Diese Kompliziertheit für den Leser so zu vereinfachen, zeigt das ausschließlich auf Merkantilität ausgerichtete Kunstverständnis der mit dem Virus Infizierten. Meta- und Objektsprache durchdringen sich hier in einer symbiotischen Kausalkettennummer, die auch den flüchtigen, durch ökonomische Betriebsamkeit gehetzten Wirtschaftswoche-Leser ausbremsen könnten. Facit: Der Preis ist wichtiger als das Objekt, ohne das es ihn gar nicht gäbe.

Dann aber geht der ästhetische Sammlergaul mit Inge Rodenstock im Sattel durch. Mit dem adaptierten Halali «Kauft mehr Kunst» auf der Zunge, stößt die Autorin im Dschungel des solventen Sammlerwaldes auf ein mutiges Ehepaar, das trendy-like von Köln nach Berlin gezogen war. Dort, im privaten Museum dieser Unerschrockenen und trotzdem sensibel Gebliebenen, gerät sie in das virulente Hochgefühl, «das jeden Sammler ins Schwärmen bringt. Imponiert hat mir der Raum des jungen Brasilianers Ernesto Neto, der seine Skulpturen aus Strümpfen macht und mit Gewürzen (Gelbwurz, Ingwer, Paprika) füllt, so einen exotischen Duft in seine Arbeiten einbringt.» Wieder wurde das Kunstvirus in einem Anfall präsent, gegen den sich die Kunstsammler der pekuniär etwas besser Gesattelten einfach nicht mehr wehren können. Ernesto Neto, einer der Schlauberger unter den Anbietern in der Branche, hatte Inge Rodenstock aufs olphaktorische Kreuz gelegt: mit Gelbwurz, Ingwer und Paprika parfümiert er alte Socken und läßt das lange Zeit pejorierende pecunia non olet einfach exotisch wegdampfen. Während dieser ungeschickte und latent kopromane Chris Ofili es fast zur Hostienschändung brachte. «In New York war er gerade in einen Skandal verwickelt, da der Bürgermeister Rudolf Giuliani Anstoß nahm an seinem Gemälde, das die Mutter Gottes mit Kuhdung auf den Brüsten zeigt.» Petze! Soviel Ketzerei machte ein anderer, aber nicht weniger Frecher, wieder wett. «Der New Yorker Künstler Richard Phillips bestach durch das perfekt gemalte Bildnis eines kessen Mädchens in Uniform.» Nicht zu fassen! Dieser Kerl bestach doch tatsächlich eine Frau Rodenstock. Und womit? Mit dem «Bildnis eines kessen Mädchens in Uniform»! Das übersteigt alles bisher für möglich Gehaltene. Ein solcher intersubjektiver Paradigmawechsel sollte dem neuen Jahrtausend ungeahnte Perspektiven eröffnen: Bestechung der Kaufeliten durch den Künstler!

Inge Rodenstock muß den Begriff des Spannungsbogen noch an den Hochschulen internalisiert haben. Denn professioneller habe ich Beuys, Kunstreisende, Hitler-SA (gibt es denn noch eine andere?), Börse und Auschwitz noch nie verleimt bekommen. «In der Galerie Hetzler fasziniert der junge Brite Warren Almond, 28, der zwei Haltestellen, die in Auschwitz vor dem Museum gestanden hatten, nach Berlin transportiert und zum Kunstwerk deklariert hatte. Im März 1997 hat er einen Film in Auschwitz gedreht (Oswiecim).»

Panaugurisch und in apokalyptischer Verknüpfungslaune hatte Inge Rodenstock im endlich vergangenen Jahrtausend Bilanz gezogen. Als Summe und Vision zugleich gedacht hat sie uns doch eines wirklich deutlich gemacht: wir müssen einfach endlich «Neu sehen lernen»!

Herbert Köhler


Kurzschrift 3, Sommer 2000, S. 31–36
 
Di, 28.09.2010 |  link | (1871) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Geld



Der Makler und der Bohémien

4 Das Beiprodukt

Auch im Kunstbetrieb hat der Interessent, den man besser [...] den Kandidaten nennen sollte, zunehmend an Gewicht gewonnen. Daß er seine Aufmerksamkeit weniger der Kunst als ihrer Wertgegenständlichkeit schenkte, wirft ein Licht auf seinen sozialen Stand. Als Gasquet sein Phantom erfand, das er für Cézanne ausgab, wollte er in aller Unschuld Cézanne verständlicher machen, ihm einige Züge verleihen, mit denen sich der Beschauer identifizieren konnte. Vollard sprach in seinem Cézanne-Buch noch von Bildern: er offerierte seine Sehweise, und daß er womöglich daran dachte, bei Sehen sollte es nicht bleiben, schmälert seine Beweisführung kaum. Dagegen stößt man mittlerweile in hagiographischen oder apologetischen Schriften zur modernen Kunst auf eine merkwürdig verschwommene Prosa, so als wäre sich der Schreiber nicht darüber im klaren, ob er nun Ästhetik treiben oder Werten zum Tausch verhelfen soll. Eines aber weiß er: daß er diese zweite Absicht nicht bloßlegen darf. Er wird sie deshalb umschreiben, auf Kosten der Sprache zwar, aber selbst wenn er meaningsless words benutzt, wie Orwell sie nannte, versteht sein Leser, was gemeint ist. Auch schaut der eher darauf, wer über wen schreibt, wie die Schrift ausgestattet ist und wo sich die Originale der Abbildungen befinden. Er entziffert von sich aus die Warenform und kommt dem Makler den halben Weg entgegen.

Die Arrangeure von Kunstausstellungen äußern sich direkter. Einer Ausstellung britischer Plastik wurde einmal einige Diskussion zuteil, weil nicht die Plastiken auffielen, sondern ihr Arrangement. Man hatte Laufstege aufgeschlagen wie für eine Modenschau, die Werke auf den Fußboden gestellt oder auf farbige Sockel, eins aus Draht an die Decke gehängt und alle mit versteckten Punktscheinwerfern ausgeleuchtet. Die Tate Gallery unterschied sich in nichts von einer Abteilung des Kaufhauses Harrods. Das Beispiel steht nicht allein, und außergwöhnlich ist es schon deshalb nicht, weil einer ganzen Gruppe von Ausstattern der Effekt die Mittel heiligt. Kunstausstellungen, so sieht es aus, finden ihre zeitgenössische Note nicht durch die ausgestellte Kunst, sondern durch die Inspiration der Ausstellungsleitung. Auch sie gebärdet sich künstlerisch, was vor allem darauf zurückzuführen ist, daß sie den Bildern und Plastiken, was deren Wirkung angeht, nicht mehr traut. Der Beschauer ist an andere Vorstellungen gewöhnt, er kommt aus der Weltausstellung, der Mustermesse, der Eisrevue oder auch nur aus dem nächsten Kaufhaus, und überall hat man ihn mit derben Zusammenstellungen von Raum, Licht und Farbe gehörig beansprucht. Kein Wunder, wenn Ausstellungsmacher das Nächstliegende aufstöbern und ihre Inspiration von den Dekorateuren beziehen. Zwar weiß man, die Dekorateure haben ihrerseits vor nicht allzu langer Zeit ihre Einfälle aus den Bildern und Plastiken der Kunstausstellung bezogen, aber inzwischen reicht die Wirkung armseliger Kunstwerke wohl nicht mehr aus; was ist schon groß ein Tryptichon von Bacon, verglichen mit Disneyland? Man wird einwenden, der Vergleich sei plump und Disneys Kunde ohnehin nicht Bacons Beschauer. Die Arrangeure jedoch sind anderer Meinung: sie haben die Warenwelt entdeckt.

Auch dieser Zeitpunkt läßt sich rückdatieren, was nicht heißen will, er gehöre der Vergangenheit an. Die Spielregeln der vermittelnden Instanzen haben eine Organisationsform mit sich gebracht, die sich zwischen den Produzierenden und den Beschauer stellt und deren Beziehungen zu prägen sucht. Dazu sind Arrangements, Laufstege und Punktscheinwerfer nötig, darüber hinaus auch Reproduktionsmaterial, Kunstbände, Kommentare und schließlich, im Gefolge alter Bohemeromane, die Legenden. Solche Beiträge werden ihrerseits zu Waren, zu Beiprodukten der Kunst, die zunehmend, wie schon die Reklame Tzaras und Bretons, einen eigenen Wert geltend machen. Nur ist es diesmal die Apparatur, die solche Beiprodukte herstellt und verbreitet. Sie sind leicht zu befördern, sie entlasten die Sichtungen des Kunstkunden, sie verwandeln ästhetische Werte in ökonomische und umgekehrt. Über kurz oder lang sind sie in den Vordergrund gerückt, dergestalt, daß die Originale von ihrem Werbematerial kaum noch zu unterscheiden sind. Vasarely malt seit Jahren dasselbe Bild; er und andere, ganz anders ausgerichtete Maler beschränken sich auf einen bestimmten Werktyp, vielleicht weil ihnen ein anderer nicht mehr einfällt, sicher aber, damit man sie in den Sammelausstellungen sofort identifizieren kann. Sie malen, mit einem Wort, gleich ihr Wasserzeichen mit. Wieder anderen Bildern haftet, wie ein Raster, die Bohemebiographie des Malers an, damit sich ein zusätzliches Erkennungszeichen einstellt. Die Malerei sieht aus wie ihr eigenes Beiprodukt, das Beiprodukt wie Malerei. Beides ist der Ausweis einer Apparatur, die läuft, um weiterzulaufen, einer Eigenbewegung, die einen bestimmten Künstlertyp bedingt: den nämlich, in dessen Bildern gleich die Materialien für Legenden und Wertbestimmungen enthalten sind, was sich durchaus mit dem herkömmlichen Protestritual der Boheme decken kann. So hat niemand anderes als der tüchtige Dubuffet den Ausspruch getan: «Die Erzeugung von Kunst ist eine ausgesprochen und höchst individuelle Angelegenheit und konsequenterweise völlig entgegengesetzt jeglicher sozialen Funktion. Es kann sich nur um eine antisoziale oder wenigstens asoziale Funktion handeln.»*

Hans Platschek

*Zitiert nach: Kunst ist Revolution, DuMont Schauberg, Köln 1969, S. 38

Es handelt sich hier um einen Auszug: das 4. Kapitel. Verfaßt wurde der komplette Text 1971 für eine ARD-Rundfunkanstalt; für welche, ist leider nicht mehr nachprüfbar, ebenso nicht, welche Zeitschrift ihn gedruckt hat. Wiederabgedruckt wurde er in Hans Platscheks Buch Engel bringt das Gewünschte. Kunst, Neukunst, Kunstmarktkunst, das 1978 bei Klett-Cotta in Stuttgart erschien.
Leider können wir Hans Platschek nicht mehr persönlich für seinen ‹Befehl› «Druck halt das da...» danken ...

Kurzschrift 3.2000, S. 9 - 11

 
Fr, 12.03.2010 |  link | (1876) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Geld



Sie betreiben alles im Ernst

Und so blieb ich dabei, ein Buch nach dem anderen zu machen, alle schlecht, keiner kaufte sie. Wenn ein Schlosser ein Buch macht, was soll da schon herauskommen?

Doch waren sie merkwürdig. In der Literatur reicht es manchmal, daß etwas merkwürdig ist. Gut, es ist keine Schriftstellerei — die Literaten wissen es längst. Reich-Ranicki würde nicht einmal darüber husten. Da ist ein gewisser Michael Krüger, etliche Kritiker — die grausen sich vor meinen Werken.

Na gut, es ist keine Literatur, aber es ist eine Möglichkeit zu überleben. Ich weiß genau, was ich wollte, als das Leben mit 14 anfing: Ich wollte überleben. Nicht erschossen werden, nicht verhungern, und dann weg von diesen Maschinen mit den Zahnrädern. Später wollte ich auch noch etwas fröhlich überleben [...]. Ich arbeitete auch in einer Weberei. In der Münchner Akademie wurde ich von einem gewissen Zacharia als Gegenbeispiel für Kunst zum Unterrichtsthema gemacht — na gut, er hatte ja recht.

Sie betreiben alles im Ernst.
Sagen die Buddhisten nicht, man soll ernste Menschen meiden?

Janosch

Laubacher Feuilleton 19.1996, S. 14
Aus: Janosch, Von dem Glück, als Herr Janosch überlebt zu haben. Mit freundlicher Genehmigung des Merlin Verlages, Gifkendorf 1994, S. 22/23


Die Chefreporterei weist darauf hin, daß zu der fraglichen Zeit ein Professor Thomas Zacharias an der Münchener Kunstakademie lehrte und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen von Janosch durchaus beabsichtigt sind. Herr Zacharias ist heute ständiger Mitarbeiter des Laubacher Feuilletons und lebt als dessen Korrespondent in London.

Auch aus Janosch ist noch was geworden. –hap



Gewisser Ernst — eine Erwiderung

Das Laubacher Feuilleton (Nr.19, S.14) zitiert einen gewissen Janosch, der «in der Münchner Akademie von einem gewissen Zacharias als Gegenbeispiel für Kunst zum Unterrichtsthema» gemacht worden sein soll. «Na gut, er hatte ja recht» — und da erinnert man sich; aber nicht an Janosch, sondern an Gottfried Benn: «Der Gegensatz von Kunst ist nicht Natur, sondern gut gemeint.» Von einem gewissen Alter an muß man mit fortschreitendem Gedächtnisschwund rechnen, weshalb Z. (66) nur noch weiß, daß J. (60) zur fraglichen Zeit nicht mehr in besagtem Haus studiert hat. Es gibt lediglich die Erinnerung an eine Piazza in Bologna, wo die beiden Kinderbuchkollegen zwischen ihren divergierenden Akademiezeiten beim Trinken saßen. Man darf das alles nicht so eng sehen und ernst nehmen. Ein geneigtes Publikum erwartet von der ordentlichen Künstlervita die Frühverkennung durch einen benennbaren Professor, der dankbar ist, wenn sein Name der dichterischen Freiheit als Prototyp über den Weg läuft. «Sie betreiben alles im Ernst», und recht hat er, denn der Einfall vom Unterrichtsthema rührt als Gegenbeispiel für Ernst die Lust am Absurden, und es muß wieder einmal gesagt werden, daß sie oft eine ernste Sache betreibt.

Thomas Zacharias
 
Di, 30.06.2009 |  link | (1505) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Geld



Projektenmacherei

oder: Louise Villedieu

Kunst ist eine seltsame Sache. Sie steht außerhalb aller gängigen gesellschaftlichen Systeme und Subsysteme, sie ist gleichzeitig aber auch als Wirtschaftsfaktor integriert, es existiert ein Markt für sie. Sie ist Gegenstand akademischer Forschung, der sie sich gleichzeitig widersetzt. (Meist merkt dies die akademische Forschung aber nicht, da sie zu sehr auf sich selbst fixiert ist.) Die Analyse des Kunstmarktes ist ein eher exotisches Thema dieser akademischen Forschung. Alles was mit Geld zu tun hat, ist den sogenannten Geisteswissenschaften suspekt. Der universitäre Betrieb in Deutschland, wie er sich heute darbietet, ist — analog zur allgemeinen Entwicklung — nach einer Phase der Ideologiekritik in den sienziger Jahren und zu Beginn der achtziger Jahre wieder ins frühe 19. oder gar ins späte 18. Jahrhundert regrediert. Wilhelm von Humboldts Wissenschafts- und Bildungsideal ist in zweifacher Hinsicht wieder zu einer Meßlatte geworden: Der Politik ist die Bildung — trotz anderslautender Statements — keinen Pfifferling mehr wert, da mit ökonomischen Maßstäben nicht exakt meßbar. Von Politikern wird heute unter Bildung der Zugang zum Internet verstanden. Das zeugt von Engstirnigkeit, Kurzsichtigkeit und Dummheit. Die Geisteswissenschaften beziehungsweise deren Fakultäten wursteln entweder unbeleckt von jeglicher Entwicklung auf anderen Sektoren vor sich hin, wollen (oder können) über den eigenen Tellerrand nicht hinausschauen, oder sie machen Männchen, plappern jeden modischen Krampf des ‹Zeitgeistes› nach, oder, die dritte Möglichkeit, sie ergehen sich in unergiebigen Rechtfertigungselogen. Man hat das schon oft gehört, die Zeit der großen Erzählungen sei vorbei, man müsse nette kleine Geschichten erzählen etc. etc.

Dann ist da noch, um beim Gegenstand zu bleiben, die Kunstkritik — auch eine seltsame Sache. In seiner 1920 erschienenen Dissertation über den Begriff der Kunstkritik in deutschen Romantik meinte Walter Benjamin: «Eine Begriffsbestimmung der Kunstkritik wird man sich ohne erkenntnistheoretische Voraussetzungen ebensowenig wie ohne ästhetische denken können; nicht nur weil die letzten die ersten implizieren, sondern vor allem weil die Kritik ein erkennendes Moment enthält, mag man sie übrigens für reine oder mit Wertungen verbundene Erkenntnis halten.» Die Erkenntnis ist, scheint's, aus der Mode gekommen. Religiös anmutende Vernebelungen sind wesentlich beliebter. Sie entheben einen des Denkens. Sie sind reine Glaubenssache. Glauben ist schließlich bequemer als denken.

Nun ist auch das Geld eine metaphysische Sache und steht in einer äußerst eigenartigen Beziehung zu beispielsweise Kunstgegenständen. Letztere sind ideell und materiell zugleich. Sie sind nicht nach den üblichen Maßstäben von, um mit Marx zu sprechen, «x Ware A = y Geldware» zu messen. Sie sind auch nicht — oder nur sehr wenig — von rein ökonomisch bedingten Wechselkursschwankungen abhängig. Die Wechselkurse für Kunstgegenstände richten sich beispielsweise nach Moden, nach persönlicher Gier beziehungsweise, positiv idealistisch ausgedrückt, dem Verlangen nach Schönheit oder, und da sind sie den gängigen Waren am ähnlichsten, sie sind durch kartellartige Zusammenschlüsse mehrerer Händler manipuliert.

«Der Preis oder die Geldform der Waren ist», so Karl Marx im ersten Band des Kapitals, «wie ihre Wertform überhaupt, eine von ihrer handgreiflich reellen Körperform unterschiedne, also nur ideelle oder vorgestellte Form. Der Wert von Eisen, Leinwand, Weizen usw. existiert, obgleich unsichtbar, in diesen Dingen selbst; er wird vorgestellt durch ihre Gleichheit mit Gold, eine Beziehung zum Gold, die sozusagen nur in ihren Köpfen spukt. Der Warenhüter muß daher seine Zunge in ihren Kopf stecken oder ihnen Papierzettel umhängen, um ihre Preise der Außenwelt mitzuteilen.» In einer Fußnote teilt Marx mit, daß bestimmte Wilde oder Halbwilde das Angebotene zweimal ableckten, um ihre Zufriedenheit mit dem Geschäftsabschluß kundzutun.

Heute ist es die Regel, den Waren — und damit auch den Kunstgegenständen — Zettel umzuhängen anstatt sie abzulecken. Man stelle sich vor: Der Hammer saust nieder, das Objekt ist verkauft, der Käufer rennt hin und leckt es ab. Eine Abart solcher ‹primitiver› Verhaltensweisen findet sich in religiösen (und auch, aber das kann uns hier, trotz engen Bezugs, leider nicht weiter interessieren, sexuellen) Gebräuchen. Ein Fuß der Statue des hl. Petrus im Petersdom zu Rom ist bereits durch häufiges Ablecken bzw. Küssen zu einem amorphen Klumpen deformiert.

Der Kunstkäufer, so will es die Mär, sucht die ideellen Werte. Außer er ist zugegebenermaßen ein Spekulant. Ideelle Werte existieren auch in der Form des kulturellen Feigenblattes, das sich der Spekulant vorhängt. Folgt man Marx weiter — und es gibt auch heutzutage keinen Grund, einem der größten Polemiker deutscher Sprache und glänzenden Analytiker nicht zu folgen —, so schließt die Preisform die Veräußerlichkeit der Waren gegen Geld und deren Notwendigkeit mit ein. Das Gold hingegen als Äquivalent funktioniere nur als ideelles Wertmaß, da es sich bereits im Austauschprozeß als Geldware umtreibe. «Im ideellen Maß der Werte lauert daher das harte Geld.»

So wären Andy Warhols Dollar Bills und die späteren sozusagen abstrahierten Dollar Signs nichts anderes als die bildliche Umsetzung einer These von Marx, bezogen auf den Kunstmarkt, nein, besser noch, praktisch angewendet auf den Kunstmarkt. Es ist, genau betrachtet, schon sehr seltsam, wenn ein Mensch zigtausende von Dollar für das Bild einer Dollarnote bezahlt. Bei Warhol lauert das harte Geld nicht nur, es springt ins Auge. Was aber nützt das bei einem Blinden?

Einen anderen Weg wählte Edward Kienholz. Er erfand eine eigene Währung in Kunst. Ein mit zarten Aquarellstreifen versehenes Blatt Papier wurde bestempelt mit der Aufschrift «For $ …» und jeweils ebenfalls gestempelter eingesetzter Summe. Der Käufer zahlte den jeweiligen Betrag für das ‹Aquarell›. Kienholz zu seinem Vorgehen: «Ich behielt das 1-Dollar-Aquarell, um es zusammen mit dem 10.000-Dollar-Aquarell zu verschenken, weil ich mir überlegt hatte, daß jemand unter Umständen die beiden Endstücke der Serie würde haben wollen. Dadurch ergibt sich eine interessante Möglichkeit. Wenn zwei Werke ein und desselben Künstlers das gleiche Format haben und aus der gleichen Zeit datieren, gilt seit jeher, daß sich ihr Wert in etwa entsprechen sollte. Für den Käufer des 10.000-Dollar-Aquarells ergibt sich somit die Möglichkeit, sein Geld umgehend zu verdoppeln, und wenn es zu einem solchen Verkauf käme, müßte theoretisch der Wert aller Geld-Aquarelle ungeachtet des auf sie aufgedruckten Nennwertes auf den gleichen Preis steigen.»

Projektenmacherei als Kunst oder Kunst als Projektenmacherei. Werner Sombart hat diesen schönen Begriff in seinem Buch über die Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen mit dem Titel Der Bourgeois erläutert. Das vierte Kapitel behandelt «allerhand Mittel zur Geldbeschaffung», der dritte Unterpunkt stellt den «Erwerb durch Geistesmittel (Erfindungsgabe)» vor. Daniel Defoe, der hauptsächlich durch sein vermeintliches Jugendbuch Robinson Crusoe etwas einseitig bekannt ist, hat 1697 An Essay on Projects publiziert. Sombart benutzte Defoe als Quelle: «Ein bloßer Projektenmacher ist [...] etwas Verächtliches. Durch seine verzweifelte Vermögenslage so in die Enge getrieben, daß er nur durch ein Wunder befreit werden kann oder umkommen muß, zermartert er sein Gehirn nach solch einem Wunder vergebens und findet kein anderes Rettungsmittel als, indem er, einem Puppenspieler gleich, die Puppen hochtrabende Worte reden läßt, dieses oder jenes als etwas noch nicht Dagewesenes hinstellt und als neue Erfindung ausposaunt, sich ein Patent verschafft, es in Aktien teilt und diese verkauft. An Mitteln und Wegen, die neue Idee zu ungeheurer Größe anzuschwellen, fehlt es ihm nicht; Tausende und Hunderttausende sind das geringste, wovon er spricht; manchmal sind es gar Millionen, bis schließlich der Ehrgeiz eines ehrlichen Dummkopfes sich dazu verlocken läßt, sein Geld dafür hinzugeben. Und dann — nascitur ridiculus mus!»

Man denkt dabei zwar unwillkürlich an den Finanzminister, sollte aber daneben die Parallelen sowohl zur Kunst als solcher als auch zum Kunstmarkt nicht übersehen. In den Instituten, den akademischen wie den bewahrenden, sitzen die geistigen Projektenmacher, die auch gern eine Erbse zum Kürbis hochstilisieren und diesen dann solange traktieren, bis unter großem Gestank faulige heiße Luft aus ihm entweicht. Sie nennen es Forschung.

Defoe schrieb als Moralist, heute gelten Projektenmacher als Künstler, man denke an junge Broker, die mit einem Handstreich eine Bank zugrunde richten, oder an Bauspekulanten, die den Projektenmachern, die in der Bank sitzen, mit deren eigenen Mitteln und Waffen ein Schnippchen schlagen. Von der öffentlichen Moral her sind sie zu verurteilen, aber im Grunde seines Herzens bewundert sie der Bürger. Sie sind Künstler. Ausgesprochen hat dies, um einen weiteren Zeugen anzuführen, Sören Kierkegaard. In Entweder — Oder aus dem Jahr 1843 schrieb er die heute mehr denn je gültigen Sätze: «Man will die Staatsfinanzen durch Einsparungen verbessern. Kann man sich etwas Langweiligeres denken? Statt die Schulden zu vermehren, will man sie abbezahlen. Wie ich die politischen Verhältnisse kenne, wird es Dänemark ein leichtes sein, eine Anleihe von 15 Millionen aufzunehmen. Warum denkt niemand daran? Daß ein Mensch ein Genie sei und seine Schulden nicht bezahle, hört man doch hin und wieder, warum sollte ein Staat nicht das gleiche tun können, wenn nur Einigkeit herrscht. Man nehme also eine Anleihe von 15 Millionen auf, man verwende sie nicht zur Abbezahlung, sondern für öffentliche Belustigungen. [...] Alles würde gratis sein; man ginge gratis ins Theater, gratis zu den öffentlichen Frauenzimmern, man führe gratis in den Tiergarten, man würde gratis begraben, gratis würde die Leichenrede auf einen gehalten; ich sage gratis; denn wenn man immer Geld zur Hand hat, so ist gewissermaßen alles gratis. Niemand dürfte festes Eigentum besitzen. Nur mit mir müßte eine Ausnahme gemacht werden. Ich behalte mir 100 Reichsbanktaler täglich vor, zahlbar in der Londoner Bank; einmal, weil ich mit weniger nicht auskomme, zum andern, weil ich die Idee gehabt habe, und schließlich, weil man nicht wissen kann, ob mir nicht eine neue Idee einfallen könnte, wenn die 15 Millionen aufgebraucht sind.»

Überflüssig zu sagen, daß der Staat Dänemark beliebig durch einen anderen Namen ersetzt werden kann und daß auch die Summen heute nach oben korrigiert werden müßten. Der Zwiespalt, um den es geht, ist der zwischen Künstlern — nicht als Beruf, sondern als Veranlagung — und Beamten. Die Menschen, so meinte Sombart, seien entweder Künstler oder Beamte, entweder stehe das Wirtschaftsinteresse im weitesten Sinne im Mittelpunkt des Lebens — wie bei letzteren — oder das Liebesinteresse. Zwei Lebensprinzipien äußerten sich darin: «Die polaren Gegensätze in der Welt sind die bürgerliche und die erotische Natur.» Bei Warhol kann man sich da nicht so ganz sicher sein, wo er steht, was auch seinen Reiz hat. So einfach bipolar funktioniert die Einteilung der Menschen gottlob nicht. Oder doch? Es gibt Künstler-Beamte und es gibt Beamten-Künstler. Die Künstler-Beamten sitzen in den Kulturreferaten oder zuständigen Ministerien und sie sind nichts weiter als Beamte, die (s. o.) durch das vermeintliche Wehen der Genialität in ihrer Nähe sich geadelt fühlen. Sie halten sich für etwas Besseres als diejenigen Beamten, die sich mit der Müllbeseitigung beschäftigen. Sie verstehen sich meistens sehr gut mit den Beamten-Künstlern, die sich — bewußt oder unbewußt — auf sie eingestellt haben. Beide verbindet vor allem das Gehalt oder die Subvention, also, und da sind wir wieder am Ausgangspunkt, das Geld oder, archaischer ausgedrückt, das Gold. Die Künstler-Beamten, die von den Bürgern oder von Staat, Land oder Kommune ernannten Kulturträger oder -hüter verstehen sich gleichzeitig auch als Hüter der Moral. Logisch gedacht, ergibt sich also der Schluß: Kunst = Gold = Moral.

«All diese bürgerlichen Faselhänse», schrieb Charles Baudelaire, «die ohne Unterlaß die Worte ‹unmoralisch, Unmoral, moralische Wirkung der Kunst› und ähnliche Dummheiten im Munde führen, erinnern mich an Louise Villedieu, eine Fünffranken-Dirne, die, als sie mich einmal in den Louvre begleitete, den sie noch nie betreten hatte, fortwährend errötete, ihr Gesicht mit den Händen bedeckte, mich alle Augenblicke am Ärmel zupfte und mich vor den unsterblichen Gemälden und Statuen fragte, wie man nur solche Unanständigkeiten öffentlich ausstellen könne.»


Ivo Kranzfelder


Kurzschrift 3.2000, S. 37–43
 
Mo, 30.03.2009 |  link | (1586) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Geld



Salonmalerei

Die Namen, die alle sechs Monate wechseln, ich kann sie mir beim besten Willen nicht merken. Da wäre dieser Polterabendkünstler, der zerbrochene Teller in die Bilder geklebt hat. Da wäre die Ische, die allerorts Dummsprüche anbringt und sie gar in Marmor meiseln läßt. Da wäre der Smartie, der Kitschartikel, so wie sie sind, anfertigen läßt, ein Duchamp des Spar-Ladens; neuderdings zieht er mit der Cicciolina umher. Zwei Dinge stempeln solche Prototypen zu Salonkünstlern. Zum einen sind sie, wie Vernet, wie Winterhalter, wie Ary Scheffer, Virtuosen der Überanpassung, so als ob paradiesische Zustände, zwar nicht die wirklichen, sicher aber in der Kunstwelt ausgebrochen sind. Bei uns ist es noch nicht ganz so schlimm; unter Kunst-Yuppies allerdings lautet jedes dritte Wort ‹Kohle›. Auf der anderen Seite kommt etwas an den Tag, das einst auch die Salonkünstler charakterisierte. Die Smarties sind, alles in allem und ohne es zu wissen, Spottfiguren, auf einer allerdings derart niedrigen Ebene, daß kein Kabarettist ihnen Aufmerksamkeit schenkt. Fraglos gehört zu solchen Künstlern das entsprechende Publikum. Glauben Sie ja nicht, ich spräche hier aus Ressentiment, es sei denn, Sie nagelten mich auf die Cicciolina fest. Die Frau macht Kohle.

Hans Platschek

Aus einem Gespräch mit Florian Rötzer von 1991
Laubacher Feuilleton 2.1992, S. 12

 
Mi, 22.10.2008 |  link | (1632) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Geld



Geldsackpolitik

in der «Krämergesellschaft»

Der Name Johannes Gaulke dürfte heute kein Begriff mehr sein. Keine seiner Schriften, die er zwischen etwa 1898 und 1928 veröffentlichte, ist heute mehr allgemein zugänglich. Das Spektrum seiner Themen reichte von Nationalökonomie und Sozialpolitik bis hin zu einem Grundriß der Kunstgeschichte (1898). Er publizierte auch in einer Reihe, die von Werner Sombart eingeleitet wurde, und gehört damit zu einem Dunstkreis von sich auf Marx berufenden Kapitalismuskritikern, die, wie im Falle Sombarts, von den Konservativen abschätzig «Kathedersozialisten» genannt wurden.

Gaulkes Büchlein Die ästhetische Kultur des Kapitalismus aus dem Jahr 1909 ist eine leidenschaftliche Anklage gegen die Automatisierung, die Entindividualisierung, kurz, gegen die Verunmenschlichung des Menschen in der ausschließlich merkantilisch ausgerichteten Wirtschaftsform des Kapitalismus. Er geht den Wechselbeziehungen von Wirtschaft und Kultur nach — bereits 1904 hat er eine Schrift über Kapital und Kapitalismus verfaßt — und kommt zu dem heute um so mehr gültigen Schluß: «Der gesellschaftliche Umschichtungsprozeß, der sich unter unseren Augen vollzieht, geschieht aber — darauf weise ich besonders hin — nicht nach dem Prinzip einer Auslese der Besten und Tüchtigsten, sondern nach dem Grade der merkantilischen Begabung.»

Der Versuch einer Psychologie des modernen Menschen, also des Menschen und damit Arbeiters unter der Herrschaft des Kapitals, mit historischen Exkursen in Mittelalter und Renaissance leitet über zur Feststellung der Umwertung der Kunst in der kapitalistischen Gesellschaft: Kunst als Ware, Reklame als Kunst, Prüderie in der Kunst — von Gaulke genannt «Versittlichung der Kunst» — usw. Aufgrund der zunehmenden Industrialisierung der bildenden Kunst wie auch des Kunsthandwerks («Denkmalsseuche» unter Wilhelm II.) plädiert Gaulke für eine Gesundschrumpfung nach Qualitätsmaßstäben. Auf Akademien würden ohnehin keine Künstler herangebildet, sondern, «wie auf allen staatlichen Lehranstalten, Streber und Beamte». Kein großer Künstler der Vergangenheit sei aus einer staatlichen Drillanstalt hervorgegangen. «Mehr Kunst, weniger Kunstproduktion!»

Bemerkenswert ist, daß Gaulke mit scharfem soziologischem Blick auch die sog. Alltagskultur berücksichtigt, also Mode — die, so Gaulke, den Stil abgelöst habe — oder Reklame. Er weist auf die heute wieder zum Thema gewordene Nivellierung von Kunst und Kunsthandwerk bzw. Kunstindustrie hin und stellt die ästhetisch revolutionäre Wirkung des Kapitalismus heraus: Die Werte «Schön» und «Häßlich» seien abgelöst worden durch die Wertung nach «Zweckmäßigkeit» und «Unzweckmäßigkeit». Er tritt, Adorno läßt grüßen, für die Zwecklosigkeit, die Autonomie der Kunst ein. Das gilt natürlich genauso für Literatur und Theater, denen ein Kapitel gewidmet ist. «Das Bürgertum hat als Kulturfaktor abgedankt, wenngleich es auf der Höhe seiner wirtschaftlichen Macht steht.» Die Hoffnung auf die Arbeiterschaft ist durch eine erneute Ständeverschiebung heute anachronistisch; trotzdem hat Gaulke das Kernproblem erfaßt. Liest man seine Schilderung einer fast monopolisierten Presse im Berlin des beginnenden Jahrhunderts, tauchen Bilder aus der jüngeren Vergangenheit auf.

Gaulke schreibt engagiert, leidenschaftlich, polemisch. Nicht zynisch, Zynismus ist reserviert für die Plutokraten. Man ist heute geneigt, ein Buch wie das von Gaulke nicht ganz ernst zu nehmen, weil es die Wahrheit sagt. Dieser Realitätsverschiebung könnte man dadurch begegnen, daß man gerade dieses Werk neu publiziert, um in der historischen Distanz dessen aktuellen Wahrheitsgehalt wieder zu erkennen.

Ivo Kranzfelder

Laubacher Feuilleton 1.1992, S. 3
 
Sa, 11.10.2008 |  link | (1413) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kunst und Geld









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